An diesem Dienstag
hat die Pariser Nationalversammlung mit einem „Ja“ über eine Legalisierung der gleichgeschlechtlichen
Ehe abgestimmt. Es war das entscheidende, letzte Votum; jetzt braucht Präsident Francois
Hollande nur noch ein Dekret zu veröffentlichen, und zwei Partner desselben Geschlechts
können in Frankreich legal heiraten und Kinder adoptieren. 331 Parlamentarier stimmten
mit Ja, 225 waren dagegen. Die sozialistische Regierung setzte das Vorhaben gegen
starke Proteste durch; die Debatte dazu wird in den sozialen Netzwerken, in den Straßen
und sogar im Parlament mit ungewohnter Heftigkeit geführt. Wie das kommt, erklärt
im Gespräch mit Radio Vatikan der Historiker Marcel Gauchet. Er leitet das Forschungsinstitut
EHESS und ist Chefredakteur der Zeitschrift „Le Débat“, zu deutsch „Die Debatte“.
„Die Regierung hat dieses Problem als eine Rechtsfrage dargestellt, als
Recht des Einzelnen, das im Namen der Gleichheit jedem zuzugestehen sei. Aber in Wirklichkeit
handelt es sich hier offensichtlich nicht um eine Frage des Rechts, sondern um ein
Problem, das mit enormen Veränderungen in der Gesellschaft zu tun hat, speziell mit
einer neuralgischen Institution, der Familie. Diese Dimension ist von den Regierenden
unter der Decke gehalten worden, und das führt jetzt zu einer unvermeidlichen Reaktion.
Und zweitens gibt es in unserer Gesellschaft ein Problem, das sich jetzt an der Frage
der gleichgeschlechtlichen Ehe deutlich zeigt, und das ist das Schicksal der Kinder
in unseren Gesellschaften. Wenn man davon ausgeht, man hätte ein „Recht auf ein Kind“,
dann wird das Kind zu einer „Sache“, über die seine Eltern verfügen können. Und diese
Frage reicht viel weiter als die der gleichgeschlechtlichen Ehe. Hier geht es um den
Status des Kindes, das geradezu als das Gegenteil einer autonomen Persönlichkeit gesehen
wird – und ich glaube, hierher rühren die heftigsten Reaktionen, die wir derzeit in
Frankreich rund um dieses Thema erleben.“
Gegner der „Ehe für alle“, wie
die Regierung ihr Vorhaben tauft, nennen die Eile der Gesetzgeber undemokratisch.
Aber dem widerspricht Gauchet: Hollande und die Seinen hätten sich durchaus an den
Buchstaben des Gesetzgebungsprozesses gehalten.
„Man hat den völlig regulären
Weg verfolgt, mit parlamentarischen Debatten; dagegen läßt sich nichts sagen. Aber
die Proteste richten sich in Wirklichkeit nicht auf die Legalität des demokratischen
Verfahrens, das skrupulös eingehalten wird, sondern zeugen vom weitverbreiteten Gefühl,
dass die parlamentarische Diskussion die wahren Knackpunkte nicht angesprochen hat.
Hier liegt ein Grundproblem unserer Demokratien: Man kann die Formen auf die ehrlichste
Weise einhalten und dem Volk trotzdem den Eindruck vermitteln, dass es mit den Fragen,
die es sich stellt, nicht wirklich repräsentiert wird.“
Die französische
Gesellschaft sei „zutiefst politisiert“, eine gewisse Erregtheit der Debatten durchaus
üblich; man solle das Reden von wachsender Gewaltbereitschaft jetzt auch nicht übertreiben,
da sei „kein Aufstand“ im Gang.
„Aber es gibt schon ein Klima der Gewalt
und des Ressentiments gegen eine Regierung, die nicht zu wissen scheint, was in der
Gesellschaft vorgeht, und die nur die Wirtschaft und das Recht berücksichtigt, keine
anderen Aspekte. Eine Gesellschaft geht nun mal nicht in Wirtschaft und Recht auf!
Wenn sich die Politiker dessen nicht allmählich bewusst werden, dann werden wir eine
wachsende Spaltung zwischen den Bürgern und der politischen Szene erleben mit allem,
was das so mit sich bringt, darunter Protest-Phänomenen wie dem, das wir derzeit erleben.“