2013-04-23 09:44:33

Frankreich: Es geht um den Status der Kinder


RealAudioMP3 An diesem Dienstag hat die Pariser Nationalversammlung mit einem „Ja“ über eine Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe abgestimmt. Es war das entscheidende, letzte Votum; jetzt braucht Präsident Francois Hollande nur noch ein Dekret zu veröffentlichen, und zwei Partner desselben Geschlechts können in Frankreich legal heiraten und Kinder adoptieren. 331 Parlamentarier stimmten mit Ja, 225 waren dagegen. Die sozialistische Regierung setzte das Vorhaben gegen starke Proteste durch; die Debatte dazu wird in den sozialen Netzwerken, in den Straßen und sogar im Parlament mit ungewohnter Heftigkeit geführt. Wie das kommt, erklärt im Gespräch mit Radio Vatikan der Historiker Marcel Gauchet. Er leitet das Forschungsinstitut EHESS und ist Chefredakteur der Zeitschrift „Le Débat“, zu deutsch „Die Debatte“.

„Die Regierung hat dieses Problem als eine Rechtsfrage dargestellt, als Recht des Einzelnen, das im Namen der Gleichheit jedem zuzugestehen sei. Aber in Wirklichkeit handelt es sich hier offensichtlich nicht um eine Frage des Rechts, sondern um ein Problem, das mit enormen Veränderungen in der Gesellschaft zu tun hat, speziell mit einer neuralgischen Institution, der Familie. Diese Dimension ist von den Regierenden unter der Decke gehalten worden, und das führt jetzt zu einer unvermeidlichen Reaktion. Und zweitens gibt es in unserer Gesellschaft ein Problem, das sich jetzt an der Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe deutlich zeigt, und das ist das Schicksal der Kinder in unseren Gesellschaften. Wenn man davon ausgeht, man hätte ein „Recht auf ein Kind“, dann wird das Kind zu einer „Sache“, über die seine Eltern verfügen können. Und diese Frage reicht viel weiter als die der gleichgeschlechtlichen Ehe. Hier geht es um den Status des Kindes, das geradezu als das Gegenteil einer autonomen Persönlichkeit gesehen wird – und ich glaube, hierher rühren die heftigsten Reaktionen, die wir derzeit in Frankreich rund um dieses Thema erleben.“

Gegner der „Ehe für alle“, wie die Regierung ihr Vorhaben tauft, nennen die Eile der Gesetzgeber undemokratisch. Aber dem widerspricht Gauchet: Hollande und die Seinen hätten sich durchaus an den Buchstaben des Gesetzgebungsprozesses gehalten.

„Man hat den völlig regulären Weg verfolgt, mit parlamentarischen Debatten; dagegen läßt sich nichts sagen. Aber die Proteste richten sich in Wirklichkeit nicht auf die Legalität des demokratischen Verfahrens, das skrupulös eingehalten wird, sondern zeugen vom weitverbreiteten Gefühl, dass die parlamentarische Diskussion die wahren Knackpunkte nicht angesprochen hat. Hier liegt ein Grundproblem unserer Demokratien: Man kann die Formen auf die ehrlichste Weise einhalten und dem Volk trotzdem den Eindruck vermitteln, dass es mit den Fragen, die es sich stellt, nicht wirklich repräsentiert wird.“

Die französische Gesellschaft sei „zutiefst politisiert“, eine gewisse Erregtheit der Debatten durchaus üblich; man solle das Reden von wachsender Gewaltbereitschaft jetzt auch nicht übertreiben, da sei „kein Aufstand“ im Gang.

„Aber es gibt schon ein Klima der Gewalt und des Ressentiments gegen eine Regierung, die nicht zu wissen scheint, was in der Gesellschaft vorgeht, und die nur die Wirtschaft und das Recht berücksichtigt, keine anderen Aspekte. Eine Gesellschaft geht nun mal nicht in Wirtschaft und Recht auf! Wenn sich die Politiker dessen nicht allmählich bewusst werden, dann werden wir eine wachsende Spaltung zwischen den Bürgern und der politischen Szene erleben mit allem, was das so mit sich bringt, darunter Protest-Phänomenen wie dem, das wir derzeit erleben.“

(rv 23.04.2013 sk)







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