Es gibt viele Grundlagentexte, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von einzelnen
Ortskirchen oder Verbünden geschrieben wurden. Neben den postsynodalen Schreiben der
Päpste zu einzelnen Regionen wie zuletzt zu Afrika gibt es etwa das Papier „Missionarisch
Kirche sein“ der deutschen Kirche oder die Ergebnisse des Prozesses „Apostelgeschichte
2010“ in Österreich. Unter all diesen Dokumenten haben die Texte der Generalversammlungen
der lateinamerikanischen Bischöfe immer herausgeragt, Puebla und Medellin waren Ereignisse,
die auch die übrige Kirche prägten und unter anderem die „Option für die Armen“ formulierten.
Im
Mai 2007 hatten sich die Bischöfe und Berater versammelt, dieses Mal im brasilianischen
Aparecida. Benedikt XVI. hatte die Versammlung eröffnet, danach wurde zwei Wochen
getagt. Herausgekommen ist ein Dokument von knapp 300 Seiten, das bis heute die Pastoral
in Lateinamerika prägt.
Es ist aber mehr als das. Es ist ein Dokument der
Reflexion und der Grundlagen. Ohne das Rad neu erfinden zu wollen sollte ein Weg für
die Kirche für alle verstehbar und nachvollziehbar formuliert werden. Und das ist
geglückt. Man wollte „den Weg fortsetzen, den die katholische Kirche seit dem Zweiten
Vatikanischen Konzil (...) zurückgelegt hat“.
Was beim Lesen vor allem
auffällt, ist die Dynamik, die sich durch den Text zieht. Es ist keine bloße Rhetorik,
die Kirche versteht sich als gegründet und gesandt, man fordert die „Dynamik des Samariters“
für das eigene Tun. Jüngerschaft und Mission sind zwei Seiten derselben Medaille,
so das Dokument. Man sieht die Kirche in dieser Dynamik des Rufes Jesu, der Folgen
haben muss für das eigene Leben.
Gegen die Vereinfachung
Sehr
deutlich fällt immer wieder die Ablehnung aller Formen der Vereinfachung der Realität
auf. Zu schnelle Lösungen und zu einfache Analysen lehnt das Dokument ab. Ebenso wehrt
es sich deutlich gegen die Fluchtbewegungen in „tröstliche Vorstellungen, in Echtzeit,
live“ – tröstende Phantasien könnten die Realität nicht ersetzen. Hier komme eine
internationale, standardisierte Kultur zum Tragen, die lokale Traditionen missachte
und die unempfindlich gegenüber Unterschieden sei. Es sei eine „kulturelle Kolonisierung“,
die von statten gehe, heißt es dazu wörtlich. Deutlicher kann man in Lateinamerika
nicht werden: Konsumkultur ist Kolonisierung.
Auffällig ist weiterhin, dass
einige Passagen in Gebetssprache verfasst sind. Es bleibt nicht bei der abstrakten
Analyse. Der Dank spielt eine wichtige Rolle, aber ebenso die Klage über fehlenden
Enthusiasmus, über die eigenen Mängel und Schattenseiten.
Herausgekommen ist
etwas, womit Christen nicht nur in Lateinamerika etwas anfangen können. Sehr klarsichtige
Analysen über die Zersetzungskräfte der Gesellschaft, aber auch Hoffnung für das eigene
Beten und Tun. Perspektiven nicht nur für die Kirche als Ganzes, sondern ganz konkret
für die einzelnen Gemeinschaften und Pfarreien, in denen Kirche lebt.
Für
den ganzen Kontinent
Die entscheidende Formulierung steht in Nr. 263. „Wir
verpflichten uns, eine große Mission im ganzen Kontinent durchzuführen. Sie wird uns
abverlangen, alles, was wir denken und was uns bewegt, tiefer zu erfassen und einfallsreicher
darzulegen, damit jeder Gläubige ein missionarischer Jünger werden kann“. Aus dem
Papier wird so ein Prozess, der bis heute durch die Bistümer und Pfarreien geht, immer
unterschiedlich, je nach Bedarf oder Fragestellung. Aber in Lateinamerika gibt es
die lebendige Umsetzung eines Papiers zum Anfassen. Es soll die Kirche im Sinn des
Konzils umformen, man setzt auf nichts weniger als „ein neues Pfingsten“.
Hören
wir da die „Neuevangelisierung“ heraus? Ja, das hören wir. Leider hat dieses Wort
genauso wie Mission – aus welchen Gründen auch immer – einen schlechten Klang. Aber
wenn es gelingt, einmal über diese Assoziationen hinaus zu kommen und einen neuen
Zugang zur Verbreitung des Glaubens zu gewinnen, ohne gleich in die Kritik-Lage zu
geraten, dann kann das Papier und dann kann das Projekt der „Misión Continental“ auch
für uns von Nutzen sein.
Kultur des Lebens
In seiner Eröffnungsansprache
hatte Benedikt XVI. von der „Kultur des Lebens“ gesprochen, die auf der Förderung
des ganzen Menschen beruhen muss – was die Priorität des Glaubens genauso umfasst
wie das Beseitigen sozialer Ungerechtigkeiten. Das Dokument aus Aparecida will
genau das umsetzen.
Aparecida 2007. Schlussdokument der 5. Generalversammlung
des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik. Übersetzt und herausgegeben von
der Deutschen Bischofskonferenz, Stimmen der Weltkirche Nr. 41.