Kardinal Tagle: „Franziskus hat das Herz eines Hirten“
Er war einer der jüngsten
beim Konklave: der philippinische Kardinal Luis Antonio Tagle freut sich, wie die
Papstwahl ausging. Der Erzbischof von Manila schätzt die Offenheit des neuen Papstes.
Eine Gemeinsamkeit zwischen Papst Franziskus und ihm selbst ist wohl die Spontaneität.
Auf die Frage, ob er den neuen Papst gewählt habe, antwortete er mit einem breiten
Lachen:
„Also, ich habe ihn nicht alleine gewählt. Was die Person des neuen
Papstes betrifft, so möchte ich auf einer sehr persönlichen Ebene antworten. Ich kenne
Kardinal Bergoglio seit den letzten sechs oder vielleicht sogar acht Jahren. Wir waren
2005 zusammen bei der Bischofssynode zur Eucharistie und dort wurden wir beide in
den Rat der Bischofssynode gewählt. Also kamen wir für die nächsten drei Jahre, bis
2008, nach Rom, um hier zu arbeiten. Das hat uns Zeit gegeben, zusammen zu arbeiten
und Erfahrungen auszutauschen. Außerdem haben wir 2008 auch beim eucharistischen Kongress
in Quebec zusammen gearbeitet, wo er die Katechese in Spanisch präsentierte und ich
die Katechese für Asien.“
„Offen für die Dinge am Rande“
Papst
Franziskus war schon als Erzbischof von Buenos Aires als „Kardinal der Armen“ bekannt.
„Er ist eine Person, die wirklich das Herz eines Hirten hat, verstehen Sie? Er ist
offen für die Dinge am Rande. Er wird immer die Kirche zu den Menschen bringen und
nicht warten, dass die Menschen von sich aus in die Kirche kommen. Deshalb sind die
Anliegen der Kirche für ihn die Anliegen der Menschen, die am Rande stehen. Das ist
eine Sache, von der ich hoffe, dass es ihm gelingen wird, sie weiter so beizubehalten.
Ich sehe das schon jetzt, in den letzten drei Tagen (lacht): So, wie er über die Grenzen
hinausgeht, und wie er Barrieren überwindet, um die Leute zu erreichen. Ich bin sehr
glücklich.“
Beim Konklave habe das Ursprungsland der möglichen Kandidaten
aber keine Rolle gespielt, so Tagle.
„Ja, das stimmt. Aber ich denke, zuerst
einmal haben wir einen Papst gewählt. Dass er aus Lateinamerika kommt oder aus einem
bestimmten geographischen Gebiet, ist nicht der Hauptpunkt. Natürlich haben wir uns
die Situation der Kirche weltweit angesehen und dann versucht, einen zu finden, der
dem am besten gerecht werden kann. Es stimmt tatsächlich: Das bringt die Vorstellung
des Bischofs von Rom, so wie sie bisher war, schon ein bisschen durcheinander. Der
Bischof von Rom hat jetzt ja italienische Wurzeln, aber er ist als Argentinier aufgewachsen.
Also bringt er den Geist und die Traditionen von einer Kirche mit sich, die sehr weit
von Rom entfernt ist. Aber dann stellst du plötzlich fest: Rom ist so wie jede andere
große Stadt auch ein Ort der Einwanderer, und ich habe das Gefühl, er kann hier sehr
viel Nachhall finden, mit den Menschen in Rom.“
…Menschen, die aus aller
Herren Länder kommen. Dazu Tagle:
„Hier in Rom gibt es mittlerweile auch
z.B. überall Menschen aus den Philippinen (lacht), es gibt Leute aus Sri Lanka, Chinesen,
Vietnamesen, Albaner, Rumänen, Nigerianer… Also ist Rom mittlerweile nicht mehr nur
ein Ort für Italiener und Römer, es ist auch eine Stadt vieler Migranten von überall
aus der Welt geworden. Einen Papst zu haben, der aus einer Einwandererfamilie kommt,
der diesen ganzen Integrationsprozess in einem fremden Land durchgemacht hat – ich
denke, da ist er im Herzen sehr tief mit der Gegenwart der römischen Einwohner und
der römischen Katholiken verbunden.“
„Ein Hirte unter den Menschen“
Ein
Papst sei in erster Linie ein Hirte und zwar ein Hirte für Rom, so Tagle. Deshalb
erstaune es ihn nicht, dass Papst Franziskus auch den Kontakt mit den Menschen sucht.
„Das
haben wir ja gestern gesehen, er ist raus gegangen, es war, als würde man Johannes
XXIII. wieder sehen, der ein Hirte unter den Menschen war. Er sprach nur Italienisch
gestern, anders als Benedikt XVI. Als er das Buch von Kardinal Kasper erwähnte, da
machte er ja auch sein Programm deutlich: Die Barmherzigkeit scheint eine Leitlinie
für diesen Papst zu sein.“
Zur Bedeutung des Jesuitenordens – dem Papst
Franziskus angehört – sagt der Erzbischof von Manila, Kardinal Tagle:
„Ich
erinnere mich, ich habe auch mit Jesuiten studiert, und ich erinnere mich, wenn wir
von den Jesuiten in geistlicher Begleitung ausgebildet wurden, dann wurde uns auch
erklärt, wie wir mit Ablenkungen umzugehen hatten, nicht nur beim Gebet, sondern auch
mit Ablenkungen im täglichen Leben. So dass dein Geist, dein Herz immer den Willen
Gottes sucht, verstehen Sie? Und man ist dabei innerlich in Alarmbereitschaft all
dem gegenüber, was einen davon ablenken könnte, dem Willen Gottes zu folgen.“
Wie
wird sich diese Konzentration im Pontifikat dieses Papstes auswirken? Dazu Kardinal
Tagle:
„Ich bin einfach sehr gespannt zu sehen, wie sich das äußern wird
in der Ekklesiologie, das die Kirche nicht abgelenkt werden darf von so vielen Dingen,
sondern direkt zum Herzen des Evangeliums geht, dem Erbarmen Gottes, der Anteilnahme
Gottes, eines Gottes, der einen umarmen kann, so wie die Ehebrecherin (Johannes 8,1-11).
Für mich ist das Lehrstück: Jesus hat nicht das Gesetz verdammt, er hat nicht gesagt:
‚Oh, das Gesetz das ihr von Mose bekommen habt, ist schlecht.’ Er sagte :’Ok. Das
Gesetz sagt, diese Person, eine Ehebrecherin, darf gesteinigt werden. Ok, ihr könnt
sie steinigen – aber derjenige von Euch, der ohne Sünde ist, der werfe den ersten
Stein.’ So kommen wir zum Kerndes Ganzen: Seine Mission ist
es nicht zu zerstören, sondern zu retten. Und die Menschen wieder heil zu machen.
Die Hoffnung ist, dass die Kirche davon nicht abgelenkt wird.“
„Er
wird geduldig sein und lernen“
Auf die Frage hin, worin er das erste
große Projekt des neuen Papstes sehe, antwortet Kardinal Tagle:
„Das muss
ich jetzt auch vermuten (lacht). Ich sehe ihn vor allem als ihn selbst, ich denke,
er wird die Freiheit finden, die er braucht, um dieses Amt kennen zu lernen, um die
Menschen kennen zu lernen, die Mitarbeiter, die er ja in gewisser Weise geerbt hat,
er hat sie gerade erst vorübergehend in ihrer Position bestätigt. Ich denke, er wird
geduldig sein und lernen. Und in diesem Lernprozess, da bin ich mir sicher, wird er
seine eigene Vision fortsetzen, die Vision einer Kirche, die nicht nur auf sich selbst
bezogen ist, sondern die uns von Jesus überlassen wurde mit einer Aufgabe. Also eine
Kirche, die nach draußen geht. Wenn er also die internen Prozesse untersucht in der
Kirche Roms und seine unmittelbaren Mitarbeiter in der römischen Kurie, dann, denke
ich, wird er so weitermachen, dass er zu den Leuten geht. Besonders zu denen am Rande.“