Benedikt XVI. und die Moderne – ein „moderner“ Papst?
„Benedikt XVI. und
die Moderne“ ist das Thema dieser Sondersendung zum Pontifikat des deutschen Papstes.
Wir zeichnen darin Grundüberzeugungen Benedikt XVI. und seine Sicht auf die Neuzeit
nach und stellen die Frage, was eigentlich an diesem Papst - der in der Öffentlichkeit
gern als „Bewahrer“-Papst eingeordnet wird - „modern“ sein könnte. Durch Klicken auf
das Lautsprechersymbol hören Sie die ganze Sendung von Anne Preckel.
„Benedikt
XVI. und die Moderne – eine skeptische Begegnung“. So bringt der Fundamentaltheologe
Magnus Striet das Verständnis des deutschen Papstes von „Moderne“ auf den Punkt. Striet
fasst Benedikts Definition von Moderne in seinem gleichnamigen Fachartikel so:
„Erstens
versteht er unter Moderne - den Begriff der Neuzeit benutzt er mehr oder weniger synonym
- primär eine historische Epoche, also die Zeit seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts.
Zweitens ist für ihn die Moderne die Epoche, die durch einen defizitären Vernunftbegriff
geprägt ist.“ (in: Wo Gott ist, da ist Zukunft – Zentrale Themen im Denken von
Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Freiburg 2011)
Mit der Vernunft geht es seit
Beginn des 19. Jahrhunderts für diesen Papst, vereinfach gesagt, „bergab“. Sie drohe
zur rein zweckorientierten Vernunft zu werden, einer Vernunft, die die Suche nach
Gott in den Raum des Subjektiven verweist, betont der Papst 2011 in seiner Rede vor
dem Deutschen Bundestag:
„Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen
Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen Bewusstsein weithin der Fall –,
da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt.“
In den technologischen Schüben der vergangenen Jahrhunderte sieht Benedikt
XVI. eher die Gefahren als ihre Möglichkeiten; die Versprechen des so genannten „Fortschritts“
beäugt er kritisch: Entfremdung, Herrschaft und Hedonismus sind nur einige Stichworte,
die Benedikts Sicht von einer „eskalierenden Moderne“ kennzeichnen (vgl. Striet).
„Diktatur
des Relativismus“
In der Beschreibung der Gegenwart taucht bei Joseph
Ratzinger/Benedikt XVI. immer wieder der Begriff „Diktatur des Relativismus“ auf.
Laut diesem Papst entsteht eine Kultur, in der alles gleich gültig ist. Säkulare Gesellschaften
befänden sich heute in einer „Situation der Verlorenheit und Verwirrung“, führt Benedikt
XVI. am 5. Oktober 2007 in einer Ansprache vor der Internationalen Theologenkommission
im Vatikan am Beispiel der Rechtsauffassung aus:
„Die ursprüngliche Offenkundigkeit
der Fundamente des Menschen und seines ethischen Handelns sind verloren gegangen,
und die Lehre vom natürlichen Sittengesetz kollidiert mit anderen Auffassungen, die
deren direkte Leugnung darstellen. Bei nicht wenigen Denkern scheint heute eine positivistische
Rechtsauffassung vorzuherrschen. Nach ihnen werden die Menschheit bzw. die Gesellschaft
oder de facto die Mehrheit der Bürger die letzte Quelle des Zivilrechtes. Das Problem,
das sich ihnen stellt, ist also nicht die Suche nach dem Guten, sondern die Suche
nach der Macht oder vielmehr nach dem Gleichgewicht der Mächte. Ihre Wurzel hat diese
Strömung im ethischen Relativismus, in dem einige geradezu eine der Grundvoraussetzungen
für die Demokratie sehen, weil der Relativismus die Toleranz und die gegenseitige
Achtung der Menschen gewährleiste.“
Gegen diesen Relativismus, den Benedikt
nicht nur in den Strukturen der Gesellschaften, sondern auch in der individuellen
Lebensführung der Menschen sieht und verurteilt – zum Beispiel die Erosion der traditionellen
Familie –, setzt der Papst den „Kompass“ des christlichen Glaubens: „Die eigentliche
Gefahr der Moderne erkennt er (…) in ihrer Entwurzelung aus dem Christentum, das in
Europa über lange Zeit die Kultur zu bestimmen vermochte“, schreibt Striet. Tatsächlich
spricht dieser Papst immer wieder von einer „Verdunkelung Gottes“ in der Moderne.
Bei einem Österreichbesuch im September 2007 sagt er:
„In der Tat setzt
sich unser Glaube entschieden der Resignation entgegen, die den Menschen als der Wahrheit
unfähig ansieht – sie sei zu groß für ihn. Diese Resignation der Wahrheit gegenüber
ist meiner Überzeugung nach der Kern der Krise des Westens, Europas. Wenn es Wahrheit
für den Menschen nicht gibt, dann kann er auch nicht letztlich Gut und Böse unterscheiden.“
Nur
der Glaube kann laut Benedikt das moralische Unterscheidungsvermögen schärfen, ein
Glaube, der „Wahrheit und Hoffnung“ ist, wie er in seiner Enzyklika „Spe salvi“ darlegt.
Die „Krise des Westens“ steht für den deutschen Papst in Zusammenhang mit der europäischen
Geschichte; in ihr ortet Benedikt eine Wurzel des Relativismus. Das deutet er auf
seiner Österreichreise in Mariazell an:
„Wir brauchen Wahrheit. Aber freilich,
aufgrund unserer Geschichte haben wir Angst davor, dass der Glaube an die Wahrheit
Intoleranz mit sich bringe. Wenn uns diese Furcht überfällt, die ihre guten geschichtlichen
Gründe hat, dann wird es Zeit, auf Jesus hinzuschauen, wie wir ihn hier im Heiligtum
zu Mariazell sehen.“
Als Deutscher weiß Benedikt XVI. wohl besonders gut,
dass diese Angst eine berechtigte Angst ist: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein
Staat noch anderes als eine Räuberbande“, zitiert er den heiligen Augustinus in seiner
Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011. Im Naziregime und in anderen
politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts zeigt die Gottlosigkeit für Benedikt XVI.
ihre schrecklichste Fratze:
„Wir Deutschen wissen es aus eigener Erfahrung,
dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht
von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und
dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten
Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte.“
Fortschritt
ist für Benedikt XVI., wie er in „Spe salvi“ schreibt, „genau besehen der Fortschritt
von der Steinschleuder zur Megabombe“ (22). Damit leugne Benedikt XVI. zwar nicht
Fortschritt als Erleichterung des Lebens, schreibt Fundamentaltheologe Striet. Aber:
„Das
Katastrophische der Moderne wird massiv betont. Interessant ist aber, worin die Ursache
dieses Katastrophischen gesehen wird. Immer wieder unterstreicht Joseph Ratzinger/Benedikt
XVI., dass die Vernunft nur dann wahre Vernunft sei, wenn sie sich im transzendenten
Grund aller Wirklichkeit, in Gott festmacht. (…) Deshalb sei ,eine Selbstkritik der
Neuzeit im Dialog mit dem Christentum und seiner Hoffnungsgestalt notwendig‘“,
zitiert der Freiburger Theologe hier aus der Papstenzyklika.
In der Bundestagsrede
sinniert der Papst über die Grundlagen des Rechtsstaates. Gerechtigkeit speist sich
für Benedikt XVI. notwendig aus Prinzipien des Glaubens. Die europäische Identität
ist für ihn eine fruchtbare Verquickung aus Glaube und Vernunft:
„Die Kultur
Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen
dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken
Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie
hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis
der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe der Rechts gesetzt,
die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“
Die
Aufklärung ist laut Benedikt XVI. „nicht ohne Grund gerade und nur im Raum des christlichen
Glaubens entstanden“, wie er in seiner Schrift „Gott und die Vernunft. Aufruf zum
Dialog der Kulturen“ von 2007 darlegt. Diese Sicht auf die Geschichte mag nicht jeder
in allen Punkten teilen:
„Ich habe immer wieder den Eindruck, dass Papst
Benedikt dazu neigt, die europäische Geschichte etwas zu idealisieren, etwa das europäische
Mittelalter darzustellen als eine Zeit der gelungenen Synthese von christlichem Glauben
und griechischer Vernunft“,
merkt zum Beispiel der deutsche Soziologe
Hans Joas im Juni 2012 im Interview mit Radio Vatikan zu Benedikts Interpretation
der europäischen Geschichte an:
„Aus dieser Perspektive stellen sich dann
spätere Phasen der europäischen Geschichte – schon eigentlich das späte Mittelalter,
die Reformation, leider auch das 18. Jahrhundert – als Abstieg von dieser einmal gelungenen
Synthese dar.“
Über diese „ganz schwierigen historischen Fragen“ würde
er gern einmal mit Benedikt XVI. diskutieren, sagt der Soziologe im Interview mit
Radio Vatikan. Joas ist nicht der Überzeugung, „dass geschichtliche Prozesse, auch
gerade die unter dem Titel ,Modernisierung‘ gemeinten, notwendig zu einer Schwächung
von Religion führen“. Dass Säkularisierung notwendig zum Moralverfall führe und Moral
unbedingt die Religion brauche, seien zwei überholte „Pseudogewissheiten“, schreibt
der in Freiburg und Chicago forschende Wissenschaftler in seinem Buch „Glaube als
Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums“ (Juni 2012).
Keine Moral
ohne Glauben
Moral also auch ohne Glauben? Benedikt XVI. sieht das
entschieden anders. Für ihn ist insbesondere das Christentum der notwendige Reiniger
und Förderer der „wahren Vernunft“. Das schlägt sich für ihn auch im Verhältnis desselben
zu Staat und Politik nieder: „Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum
dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus
Offenbarung vorgegeben“, führt Benedikt XVI. im deutschen Bundestag aus:
„Es
hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf
den Zusammenhang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein
beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.“
Für
Kirche und Staat ergibt sich daraus ein klares Verhältnis: Kirche kann nie Staatsersatz
sein, allerdings ist sie Hüterin der Moral. Die Politik muss für den Papst dagegen
Hüterin der Gerechtigkeit sein:
„Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit
sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden sein.“
In seiner Bundestagsrede
spricht der Papst weiter von der Gefahr einer rein positivistischen Weltsicht und
der schleichenden Verdrängung des Glaubens in den privaten Raum – Entwicklungen, die
die in der Gesellschaft notwendige Gewissensbildung untergraben, zeigt sich der Papst
überzeugt:
„Wo die alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt
– und das ist in unserem öffentlichen Bewusstsein weithin der Fall – , da sind die
klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine
dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig
ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist.“
Für
Technik und Wissenschaft leitet der Papst daraus ab, dass sich diese klar an ethischen
Grundlegungen orientieren müssen. Fortschritt muss für Benedikt XVI. immer ganzheitlich
gedacht werden, er darf zum Beispiel nie zum Handlanger für die Selektion von angeblich
„unwertem Leben“ werden – Stichwort Präimplantationsdiagnostik und Euthanasie. Denn
sonst werden „die großen und großartigen Erkenntnisse der Wissenschaft zweischneidig“,
unterstreicht Benedikt XVI. 2007 in Österreich:
„Sie können bedeutende
Möglichkeiten zum Guten, zum Heil des Menschen sein, aber auch – wir sehen es – zu
furchtbaren Bedrohungen, zur Zerstörung des Menschen und der Welt werden.“
Zweites
Vatikanum war „Korrektur“
Benedikt XVI. und „die Moderne“ – dazu gehört
auch das Zweite Vatikanische Konzil, das einen Aufbruch in der katholischen Kirche
und ihrem Verhältnis zur Welt markiert. Benedikt XVI. ist selbst einer der letzten
großen Konzilszeugen. Bei der historischen Bischofsversammlung ist der junge Josef
Ratzinger theologischer Berater des Kölner Kardinals Josef Frings und dann seit Ende
1962 offizieller Peritus. „Wir sind damals mit Enthusiasmus zum Konzil gegangen“,
blickt Benedikt XVI. am 14. Februar 2013 zurück. Wenige Tage nach seiner Rücktrittsankündigung
als Papst erzählt er dem römischen Klerus:
„Es gab eine unglaubliche Erwartung
– wir hofften darauf, dass alles sich erneuern würde, dass ein neues Pfingsten heraufziehen
würde, eine neue Ära der Kirche. Die Kirche war damals noch robust, der sonntägliche
Messbesuch war noch gut, auch die Priester- und Ordensberufungen gingen zwar schon
ein bisschen zurück, waren aber noch ausreichend. Dennoch spürte man: Die Kirche geht
im Moment nicht vorwärts, sondern schrumpft ein, sie scheint eher eine Realität der
Vergangenheit und nicht Trägerin der Zukunft.“
Die Beziehung der Kirche
zur modernen Welt sei damals „konfliktreich“ gewesen, erinnert sich Benedikt, „angefangen
mit dem Irrtum der Kirche im Fall Galilei“. Man habe gehofft, das Konzil werde die
Kirche zur „Kraft des morgen“ machen und den „wahren Fortschritt“ einleiten. Fortschritt
will Benedikt hier aber freilich nicht als „Anpassung“ der Kirche an neue Umweltbedingungen
verstanden wissen, eher als „Korrektur“, wie er beim Weihnachtsempfang für die römische
Kurie am 22. Dezember 2005 ausführt:
„Das Zweite Vatikanische Konzil hat
durch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben der Kirche und bestimmten
Grundelementen des modernen Denkens einige in der Vergangenheit gefällt Entscheidungen
neu überdacht oder auch korrigiert, aber trotz dieser scheinbaren Diskontinuität hat
sie ihre wahre Natur und ihre Identität bewahrt und vertieft.“
Benedikt
XVI. „relativiert“ die Öffnung der katholischen Kirche auf die Moderne „stark“, findet
der Fundamentaltheologe Magnus Striet. Er führt dafür eine weitere Bemerkung Benedikt
XVI. aus derselben Rede vor der Kurie an; der Papst lässt diese Passage in seiner
Ansprache aber weg (im Redetext auf den Internetseiten des Vatikans ist sie nach wie
vor einsehbar):
„Wenn jemand erwartet hatte, dass das grundsätzliche ,Ja‘
zur Moderne alle Spannungen lösen und die so erlangte ,Öffnung gegenüber der Welt‘
alles in reine Harmonie verwandeln würde, dann hatte er die inneren Spannungen und
auch die Widersprüche innerhalb der Moderne unterschätzt; er hatte die gefährliche
Schwäche der menschlichen Natur unterschätzt, die in allen Geschichtsperioden und
in jedem historischen Kontext eine Bedrohung für den Weg des Menschen darstellt.“
Immer
wieder verweist Benedikt XVI. in Reden und Schriften auf die Schwäche der menschlichen
Natur: Sie ist es, die Welt und auch Kirche gefährdet. Das Böse und die „Diktatur
des Relativismus“ können nur verhindert werden, wenn sie sich den „rettenden Kräften
des Glaubens“ öffnen, sich von ihnen „reinigen und heiligen“ lassen. Für Benedikt
XVI. muss deshalb auch die wahre Zeit des Konzils erst noch kommen, wie er am Ende
seines Pontifikates dem römischen Klerus mit auf den Weg gibt (Ansprache vom 14. Februar
2013). Erstaunlich offen legt Benedikt XVI. in der langen und gelöst wirkenden Ansprache
seine Sicht auf das Konzil dar und warnt - ein weiteres, ein letztes Mal als Papst
- vor „falschen Deutungen“:
„Die wahre Kraft des Konzils war doch da, und
allmählich wird sie immer mehr Wirklichkeit und wird zur wahren Kraft, die dann auch
wahre Reform ist, wahre Erneuerung der Kirche. Mir scheint, wir sehen 50 Jahre nach
dem Konzil, wie dieses virtuelle Konzil zerbricht und sich verliert, und das wahre
Konzil taucht auf mit seiner ganzen spirituellen Kraft. Das ist unsere Aufgabe: dafür
zu arbeiten, dass das wahre Konzil Wirklichkeit wird und die Kirche wirkliche Erneuerung
erfährt.“
Zu diesem Aufruf gehört auch der 2011 im Freiburger Konzerthaus
vorgebrachte Ruf dieses Papstes nach einer „Entweltlichung der Kirche“: Die Kirche
muss sich – in Kontinuität, nicht im Bruch mit ihrer Tradition – für die Herausforderungen
der Moderne wappnen, so Benedikt XVI., indem sie innerlich tiefer aus dem Glauben
schöpft.
Neuer Akzent im Amtsverständnis
Benedikt
XVI. – ein Mahner, ein unbequemer, ein skeptischer Papst, der seinen Blick auf die
Widersprüche der Moderne heftet. Einige mögen das „pessimistisch“ nennen, andere wiederum
„realistisch“. Doch auch sich selbst gegenüber legt Benedikt XVI. Skepsis an den Tag.
Seine Wahl auf den Stuhl Petri erlebt Joseph Ratzinger zweifelnd - wie ein „Fallbeil“,
das auf ihn herabfällt, sagt er danach. Und auch der historische Rücktritt Benedikt
XVI. vom Papstamt verweist auf Skepsis sich selbst – bzw. sich selbst in diesem Amt
– gegenüber. Der deutsche Papst hat mit dieser Entscheidung einen neuen Akzent im
Verständnis des Papsttums gesetzt, findet der Leiter der deutschsprachigen Redaktion
von Radio Vatikan, Pater Bernd Hagenkord:
„Er zeigt damit auch, dass er
das Papstamt ein wenig modernisiert – etwas, das man ja in deutschsprachigen Ländern
gar nicht zu glauben wagt –, dass er nämlich Amt und Person trennt. Dass er sagt:
Das Amt ist wichtiger als ich oder als die Dinge, die ich vielleicht noch vorhaben
könnte (Jahr des Glaubens etc.); wenn ich das Amt nicht mehr ausüben kann, dann muss
es ein anderer tun, der es weiterführen kann. Da ist er bescheiden genug, zu sagen:
Dieses Amt ist wichtiger für die Gesamtkirche, als ich als Person es bin.“
Geht
Benedikt XVI. aber auch scheinbar unumstößliche Gewissheiten der katholischen Kirche
skeptisch an? Schließlich sieht dieser Papst durchaus auch Fehlbarkeit innerhalb
der Kirche. Das macht er etwa im Mai 2010 auf einem Flug nach Portugal vor Journalisten
deutlich – wenige Wochen nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der deutschen
Kirche:
„Die Leiden der Kirche kommen gerade aus dem Innern der Kirche,
von der Sünde, die in der Kirche existiert.“
Die Sünde macht auch vor
der Kirche nicht Halt, weiß Benedikt XVI. Zugleich glaubt er fest daran, dass eine
durch „wahren Glauben“ gereinigte Kirche die letzten Wahrheiten erkennen kann und
immer erkennen wird. Die Institution der Kirche als solche stellt er nicht in Frage,
nur eben ihre – fehlbaren – Mitglieder. Überhaupt sieht Benedikt XVI. eher die
Menschen auf dem Irrweg, in deren Leben Gott nicht vorkommt. In seiner Eröffnungsrede
zur V. Generalversammlung der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik
in Aparecida sagt er im Mai 2007:
„Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt,
verfälscht den Begriff ,Wirklichkeit‘ und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden
und zerstörerischen Rezepten unterliegen. (…) Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit
und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten. Angesichts
des Scheiterns aller Systeme, die Gott ausklammern wollen, erweist sich die Wahrheit
dieses Satzes als offenkundig.“
Schlägt Benedikt XVI. damit Nichtglaubenden
die Tür vor der Nase zu? Keinesfalls, zumindest nicht grundsätzlich. Schließlich lanciert
der Vatikan im Pontifikat Benedikt XVI. die mobile Gesprächsplattform „Vorhof der
Völker“, die das Gespräch mit Atheisten und Agnostikern sucht. Allerdings können laut
Benedikt XVI. nur gläubige Gesellschaften – und zwar im engeren Sinne nur christliche
Gesellschaften – ein tragfähiges Zusammenleben und einen Konsens über ethische Grundlagen
entwickeln. Wie gesagt – ohne Glaube keine Moral:
„Wo Gott fehlt – Gott
mit dem menschlichen Antlitz Jesu Christi –, zeigen sich diese Werte nicht mit ihrer
ganzen Kraft und es kommt auch nicht zu einem Einvernehmen über sie. Ich will damit
nicht sagen, dass Nichtgläubige keine hohe und vorbildliche Sittlichkeit leben können;
ich sage nur, dass eine Gesellschaft, in der Gott nicht vorkommt, nicht das notwendige
Einvernehmen über die sittlichen Werte und nicht die Kraft findet, um – auch gegen
die eigenen Interessen – nach dem Vorbild dieser Werte zu leben.“
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