„Menschen in der Zeit“: Kardinal Georges Marie Cottier zum 90. Geburtstag
Der Schweizer Kardinal
und langjährige „Theologe des Päpstlichen Hauses“; Georges Cottier, feierte in diesem
Jahr seinen 90. Geburtstag. Der aus Genf stammende Dominikaner unterrichtete zunächst
an der Universität Fribourg moderne Philosophie und war in den Jahren 1990 – 2005
theologischer Berater von Johannes Paul II. Für seine Verdienste wurde Georges Cottier
2003 zum Kardinal ernannt. Gemäß den Vorschriften des Kirchenrechts ließ er sich zuvor
zum Bischof weihen. Die Weihe nahm damals Kardinal Christoph Schönborn vor.
Herr
Kardinal – in diesen Tagen erinnert sich die Katholische Welt in besonderer Weise
an das II. Vatikanische Konzil. Genau 50 Jahre sind seit seiner Eröffnung im Jahre
1962 vergangen. Sie waren als direkter Zeuge dabei. Kann man sagen, dass dies das
wichtigste kirchliche Ereignis der neueren Kirchengeschichte darstellt?
„Mit
Sicherheit! Es war das tiefgreifendste kirchliche Ereignis unserer Zeit.“
Es
gibt in der Kirche immer noch Widerstände gegenüber den Bestimmungen des II. Vatikanischen
Konzils. Warum?
„Nach jedem Konzil hat es immer eine Opposition gegeben.
Aus verschiedenen Gründen. Aus politischen, aus gesellschaftlichen Gründen, aus Gründen
des Unverständnisses, des einseitigen Nützlichkeitsdenkens.“
Zwei weitere
wichtige Ereignisse in der heutigen Kirche stellen die ‚Neuevangelisierung` und das
‚Jahr des Glaubens’ dar: was muss man sich darunter genau vorstellen?
„Ich
denke der Ausdruck ‚aggiornamento` von Papst Johannes enthält bereits diese beiden
Begriffe. Und auch Papst Paul VI. hat eine Jahr des Glaubens ins Leben gerufen.“
Sie
sind in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden: was zählen Sie zu den bedeutsamsten Ereignissen
in Ihrem Leben?
„Davon gibt es viele: erstens in meiner Jugend, nach dem
Weltkrieg, die Hoffnung auf eine friedliche Welt. Diese Hoffnung hat ja Früchte getragen.
Nämlich Europa – diese große Errungenschaft für den Frieden auf der ganzen Welt. Dann,
heute erleben wir die Globalisierung der Menschheit. Wir befinden uns jetzt wirklich
in der Universal-Geschichte.“
Würden Sie die Päpste, den Sie persönlich
begegnet sind, in kurzen Worten charakterisieren?
„Sie sind alle sehr verschieden.
Papst Paul VI. habe ich selten persönlich getroffen. Aber seine Werke kenne ich sehr
gut. Für mich ist er ein ganz großer Papst. Dann habe ich mit Johannes Paul II. zusammen
gearbeitet. Mich beeindruckte bei ihm vor allem seine Liebe für das Leben, sein Umgang
mit den Menschen, seine große pastorale Intuition für die heutige Zeit und schließlich
seine große Verbindung zur Gottesmutter. Und auch wie er seine Krankheit angenommen
und getragen hat: er hatte keine Scheu, seine körperliche Schwäche auch in der Öffentlichkeit
zu zeigen. Das war vielleicht der größte Ausdruck seiner moralischen Stärke. Und dann
Papst Benedikt: die Klarheit seiner Gedanken, seine Güte und Milde. Er ist ein ganz
bescheidener und ein ganz guter Mensch.“
Sie waren lange Zeit Haustheologe
des Papstes. Würden Sie uns dieses hohe Vertrauensamt, das in der Regel dem Dominikanerorden
anvertraut wird, kurz beschreiben?
„Ich hatte mit meinen Mitarbeitern jene
Texte gegenzulesen , die der Papst öffentlich vortragen oder unterschreiben musste.
Und ich musste ihre theologische Richtigkeit überprüfen und eventuell in Zusammenarbeit
mit dem Staatssekretariat Korrekturen anbringen. Das waren wichtige Texte, wie zum
Beispiel die Enzykliken ‚veritatis splendor`, ‚fides et ratio` und ‚evangelium vitae`
und die Enzyklika zur Ökumene ‚ut unum sint. Der schönste Text, der mir je untergekommen
war, war der Text des Katechismus der katholischen Kirche.“
Sie gehören
dem Dominikaner-Orden an: welches erachten Sie als die wichtigsten ‚Zeichen der Zeit`
für die Menschen von heute?
„Erstens der Respekt gegenüber allen Menschen.
Zweitens, die Solidarität gegenüber den armen Menschen, Johannes Paul II. hat wunderbare
Worte darüber gefunden. Drittens: die Mission der Kirche. In der Welt sind die Christen
in der Minderheit, wir müssen die Mission wieder neu entdecken. Auch das ist Neuevangelisierung.“
Man
spricht viel vom Ethos des christlichen Europa. Ist Europa noch christlich?
„Viele
Leute haben die Kirche verlassen, aber sie haben ihre Verbindung mit dem Christentum
nicht ganz aufgegeben. Allzu lange haben wir geglaubt, der Glaube sei für immer eine
sichere Angelegenheit. Das stimmt überhaupt nicht. Am Beginn des Christseins steht
die Predigt, dann der Glaubensakt und dann die Katechese. Das muss wieder so praktisiert
werden. Die Kirche muss immer wieder von vorne anfangen. Da capo, was keine schlechte
Sache ist.“
Der Zweck der Kirche ist das Heil der Welt: kann dieses hehre
Ziel jemals erreicht werden?
„Das Geheimnis der Kirche in der Welt besteht
darin: Die Kirche muss Christus verkünden, sie muss vor allem von und aus dem Christus
leben. Die Gnade Christi ist – auch wenn wir es nicht wissen oder sehen – auch außerhalb
der sichtbaren grenzen der Kirche gegenwärtig. Die Gnade Christi kennt die Wege, um
alle Menschen zu erreichen. Es gibt keine andere Rettung, als die, die uns Jesus Christus
gebracht hat. Aber nicht alles, vielleicht sogar das Wenigste davon, ist sichtbar.“
Wie
sehen Sie das Verhältnis zwischen der evangelischen Armut und der Kirche – im Zeichen
der Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft?
„Ich denke, wichtig ist,
dass wir alle ärmer werden müssen. Vor allem die Kirche muss arm sein.“
Der
moderne Agnostizismus hängt sehr mit dem erscheinen der Säkularisierung zusammen.
Was kann, was muss die Kirche tun, um diesem Zeit-Phänomen wirksam entgegen zu treten?
„Wir
befinden uns im Jahr des Glaubens. Das war eine große Intuition Papst Benedikts XVI.
dieses Jahr einzuberufen. Die Säkularisierung ist die Folge des praktizierten Materialismus.
Die Menschen haben keine Zeit mehr, über Gott nachzudenken. Unsere Welt ist eine traurige
Welt. Und die Menschen sind nicht glücklich. Deshalb beruft sich der Heilige Vater
immer wieder und eindringlich auf die Freude, Christ zu sein. Unter „Aufklärung“
versteht man die Vorherrschaft der Vernunft sowie die Ablehnung des Übernatürlichen,
der Gnade und der Wunder. In sich aber ist Aufklärung ein schöner Begriff: bedeutet
er doch „Beleuchtung“. Und die wahre Aufklärung ist ... das Evangelium. Heute ist
an die Stelle der Aufklärung das Wort Zweifel getreten. Zweifel an allen Dingen.“
Wie
ist Ihre Meinung über den neu eingerichteten, von Papst Benedikt XVI. gewünschten,
sogenannten „Vorhof der Völker“, in dem der Dialog zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden
gefördert werden soll?
„Ich habe lange Zeit dem Sekretariat für den Dialog
mit den Nichtchristen angehört. Der Begriff ‚Vorhof der Völker’ geht alle Christen
an. In unserer pluralistischen Welt müssen wir alle den Sinn und den Wert des Dialogs
erkennen: nämlich unseren Zeitgenossen die Schönheit des Christseins weiter zu geben.
Aber auch auf die Einwände einzugehen. Wie Papst Paul sagt: der Dialog mit den Nichtglaubenden
ist eine Pflicht für die katholische Kirche. Wir dürfen uns nicht einschließen, sondern
wir müssen uns der Welt öffnen. Wir dürfen dabei nicht ängstlich sein, denn Christus
ist die wahre ‚Aufklärung’“.
Nur wenigen Theologen ist es möglich, das
Wesen des Christentums in wenigen Worten zusammen zu fassen. Einer dieser Theologen
heißt Kardinal Georges Cottier....
„Ich denke, das ist Jesus Christus.....(lacht
ein wenig) das sagt alles, nicht? Wenn Sie wollen, kann man auch sagen: das Geheimnis
Jesus Christus. das ist unsere Botschaft.“
Letzte Frage: Herr Kardinal,
Sie haben das hohe Alter von 90 Jahren erreicht: was ist die Zeit, was ist die Ewigkeit?
„Ich
kann auf eine lange Zeit der Vergangenheit zurückblicken, aber auch die Gegenwart
wahrnehmen und auch in die Zukunft blicken. Denn die Zukunft ist für mich die Vorbereitung
zur Ewigkeit. Die Ewigkeit ist ein Augenblick ohne Grenzen. Die Zeit der Vergangenheit
fällt in das Nichts – die Zeit der Zukunft ist noch nicht angekommen, die Zeit der
Gegenwart ist für uns das zerbrechlichste, was wir kennen. Gott hat keine Grenzen,
weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Wir werden dies alles erst richtig
verstehen und erkennen, wenn wir dort angekommen sind.“