Während im Nachbarland
Österreich das Islamgesetz zur rechtlichen Anerkennung der Muslime seinen 100. Geburtstag
feiert, scheint diese Anerkennung in Deutschland noch in weiter Ferne zu liegen. Der
Islamwissenschaftler Bülent Ucar ist Professor für islamische Religionspädagogik und
leitet das Institut für islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Er ist
Mitglied der deutschen Islamkonferenz beim Bundesinnenministerium und setzt sich seit
Jahren für eine Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft in Deutschland ein.
Seiner Ansicht nach hapert es einerseits am guten Willen der Bundesregierungen, den
Verhandlungen konkrete Schritte folgen zu lassen - doch auch die Anhänger des Islam
selbst seien nicht ganz unschuldig an der Situation. Ein guter Schritt in die richtige
Richtung sei jedenfalls die breite Diskussion und die kürzlich gefällte Bundestagsentscheidung
zur rituellen Beschneidung Minderjähriger gewesen.
„Die ersten Reaktionen
auf das Urteil des Kölner Landgerichts waren ja sehr, sehr irritierend und auch befremdend
für Juden und Muslime in Deutschland. Aber ich denke, weil die Politik auch mit einer
ganz klaren Mehrheit und auch mit wichtigen Stimmen aus der Opposition einen Entschluss
gefasst hat, ist hier ein ganz klares Signal ausgesendet worden: In Richtung der Gesellschaft,
aber auch in Richtung religiöser Minderheiten wie Juden und Muslime, dass sie ein
Teil der Gesellschaft sind, dass die Religionsfreiheit ernst genommen wird und dass
sie in Deutschland willkommen sind. Das ist sicherlich ein Beitrag zur Integration.
Andererseits müssen natürlich auch die Bedürfnisse der Kinder bedacht werden. Ich
denke, der Gesetzgeber hat hier maßvoll und weise entschieden.“
Andererseits
scheint ja eine Anerkennung des Islam als Religionsgemeinschaft in Deutschland noch
in weiter Ferne zu sein. Warum ist das denn so?
„Nun, juristisch gibt es
ja kein formales Verfahren, was die Anerkennung einer islamischen Religionsgemeinschaft
oder einer Religionsgemeinschaft überhaupt betrifft. Tatsächlich ziehen sich die unterschiedlichen
Ministerien auf den Standpunkt zurück und sagen, dass es keine islamische Religionsgemeinschaft
in Deutschland gebe. Paradox daran ist natürlich, dass es dutzende, wenn nicht hunderte
von Religionsgemeinschaften in Deutschland gibt. Alle anderen religiösen Gruppierungen,
ob sie nun im christlichen oder jüdischen Kontext verankert sind, werden in ihren
unterschiedlichen Weisen auch entsprechend akzeptiert und als Religionsgemeinschaften
betrachtet, einzig der Islam profitiert von diesen Rechten in Deutschland momentan
nicht. Es gibt aber auch wohltuende Ausnahmen hiervon, etwa in Niedersachsen, Hamburg
und Bremen.“
Was ist denn der Grund dafür, dass der Islam noch nicht
von diesen Rechten profitiert?
„Ich glaube, dass das nicht nur mit rechtlichen
Gründen einhergeht, sondern dahinter auch politische Gründe stehen. Meine Hauptkritik
ist, dass der Staat teils eine abwehrende Haltung einnimmt, dahinter stecken teils
grundsätzliche Anschauungen was etwa das Kooperationsmodell in Deutschland anbelangt,
manche wollen einen laizistischen Staat und sind grundsätzlich gegen dieses Kooperationsmodell
in Deutschland. Ich will damit sagen, es gibt sicherlich Ressentiments gegen den Islam,
das ist das eine. Die andere Seite ist, dass in der Tat die islamischen Organisationen
auch entsprechende Schritte machen müssen, die sie nicht tun. Da müssen sie selbstverständlich
auch ihre Hausaufgaben machen und sich so organisieren und strukturieren, dass das
für den Staat auch akzeptabel ist. Allerdings muss der Staat dann konkrete Vorgaben
machen und sagen, was er genau einfordert. Das hat die Erfahrung der letzten Jahre
auch gezeigt, dass es immer Möglichkeiten gibt, wenn der Staat etwas will. An dieser
Stelle erwarte ich von den verschiedenen Ministerien und Landes und Bundesbehörden,
dass sie aktiv werden in diesem Bereich.“
Wie sind die Muslime in Deutschland
denn verbandschaftlich organisiert?
„Es gibt 4 bis 4,5 Millionen Muslime
in Deutschland und rund 2.000 Moscheegemeinden. Die Rechtsprechung sagt, Religionsgemeinschaften
sind dort, wo die Religion allseitig wahrgenommen wird, wo es eine klare Mitgliederstruktur
gibt, wo es eine Gewähr auf Dauer gibt und auch eine gewisse Verfassungstreue. Das
sind die Kriterien, und für die Moscheegemeinden treffen sie zu. Über 90 Prozent dieser
2.000 Moscheegemeinden sind organisiert in vier großen Verbänden, das sind die Ditib,
der Islamrat, der Zentralrat und der Verband islamischer Kulturzentren und die wiederum
haben sich zusammengeschlossen im Koordinationsrat der Muslime. Daher gibt es keine
Lösung des „Islamproblems“ ohne diesen Koordinationsrat, aber der muss sich sicherlich
noch weiter entwickeln. Ich habe da noch meine Zweifel, ob sie diesen Weg gehen können
oder auch wollen.“
Wie viele Muslime sind denn von dem Dachverband
vertreten?
„Die genauen Zahlen kennt keiner. Es geht ja letztlich nur um
die organisierten Muslime, parallel zu der Situation in den christlichen Kirchen.
Ich meine, wenn es viele Kulturchristen in der Gesellschaft gibt, die sich als Christen
bezeichnen, aber in der katholischen Kirche nicht organisiert sind, dann interessiert
es die katholische Kirche auch relativ wenig. Nur, wenn sie sich auch mitgliedschaftlich
in der Kirche organisieren, dann hat das eine auch rechtliche Relevanz. Genauso ist
das auch für die Muslime. Die genauen Zahlen kennen wir nicht, wissen also nicht,
wie viele Mitglieder die einzelnen Gemeinden haben, aber man kann das in etwa hochrechnen.
Bei 2.000 Moscheen kann man von etwa hundert bis zweihundert Familien ausgehen, dann
müsste man das mit der Zahl vier oder fünf multiplizieren und dann hätte man eine
realistische Zahl. Die Kritik an der KRM, dass sie zu wenige Muslime vertreten würde
und die schweigende Mehrheit keine Stimme habe, halte ich für eine Legende, denn jene,
die für sich beanspruchen, diese schweigende Mehrheit zu vertreten, haben, in der
Regel keine einzige funktionierende Gemeinde vorzuweisen.“
Was für
Folgen hat das denn für die Integration, dass die Anerkennung des Islams als Religionsgemeinschaft
noch nicht erreicht ist?
„Ich bin der Überzeugung, dass Integration über
Normalität funktioniert. Solange das Thema so hoch gekocht wird, man das besonders
positiv oder negativ bewertet, werden wir an dieser Stelle weiterhin ein Problem haben.
Erst dann, wenn die Muslime ein ganz normaler Teil der Gesellschaft sind, wie die
Katholiken, Protestanten oder Juden, meinetwegen auch wie die Atheisten oder Agnostiker,
wird Integration erreicht. Dazu gehört, dass Teilhabe ermöglicht wird, dass Gleichberechtigung
und Anerkennung da ist, dass aber auch ein Stück Beteiligung an den Möglichkeiten
des Staates möglich ist. Erst wenn das alles geschieht, gelingt Integration und dann
wird es tatsächlich eine gemeinsame Gesellschaft, oder wenn Sie so wollen, eine Schicksalsgemeinschaft
geben. Ich glaube, das sind die entsprechenden Schritte: Gleichberechtigung, Gleichstellung,
Partizipation, Anerkennung, und dann Integration und schließlich Identifikation mit
dem Land. Erst wenn diese Identifikation tatsächlich geschieht, gelingt auch Integration,
aber dafür bedarf es noch verschiedener Schritte.“
Der Bequemlichkeit halber
sprechen wir gerne von „dem Islam“, aber, wie ja auch in unserem Gespräch deutlich
geworden ist, es sind sehr verschiedene und differenzierte Glaubensgemeinschaften,
die sich unter dem Dach des Islam wiederfinden. Wie kann man sicherstellen, dass gewisse
Splittergruppen die Bemühungen zunichtemachen?
„Der Islam ist eine sehr
vielfältige Religion, die weltweit verortet ist. Auch in Deutschland gibt es eine
Bandbreite von theologischen und religiösen Orientierungen der Muslime und ich glaube,
dass man sich da nicht von den Rändern her positionieren lassen darf. Man muss vielmehr
die Breite Mitte der Muslime in Deutschland zur Grundlage nehmen. Muslimisches Leben
in Deutschland geschieht zu einem Großteil in den Moscheegemeinden vor Ort. Wenn man
die Mehrheit dieser Gemeinden zur Basis nimmt, dann hat man etwas, was auch wirklich
in Deutschland organisiert und strukturiert ist und auch an Deutschland orientiert
ist. Gleichzeitig kann man nicht sagen, dass die große Mehrheit der Muslime radikal
oder extremistisch eingestellt sei: Dazu gibt es auch diverse soziologische Studien.
Auf diese Weise würde man auch quasi präventiv vorgehen, um solchen Entwicklungen
vorzubeugen. Langer Rede, kurzer Sinn: man darf die marginalen Gruppierungen nicht
überbewerten, man muss sie ernst nehmen, aber richtig quantifizieren, und dafür auch
die breite Basis der Moscheegemeinden als Ansprechpartner nehmen.“