Italien/Usbekistan: Zeugnisse gegen die Todesstrafe
Tamara Chikunova war
eine der Teilnehmerinnen am Kongress, den die katholische Basisgemeinschaft Sant´Egidio
am 27. November in Rom organisiert hat, um für die Abschaffung der Todesstrafe in
den verbliebenen Vollstreckerstaaten zu werben. Tamara hat in ihrem Land Usbekistan
die Vereinigung „Mütter gegen die Todesstrafe und die Folter“ gegründet, die maßgeblich
an der dortigen Abschaffung der Todesstrafe im Jahr 2008 beteiligt war. Tamara ist
orthodoxe Christin und musste im Jahr 2000 miterleben, wie ihr einziger Sohn Dimitrij
mit 28 Jahren hingerichtet wurde.
„Es war sehr schwierig, zu entscheiden,
gegen die Todesstrafe zu kämpfen, in diesem Leben zu bleiben und zu kämpfen. Es wäre
vielleicht viel einfacher gewesen, zu gehen. Das ist aber nicht so, weil die Arbeit
sehr schwer ist, sondern schlicht und ergreifend, weil mein einziger Sohn am 10. Juli
2000 in aller Heimlichkeit in einem Gefängnis von Taschkent erschossen worden ist.
Mein Sohn war unschuldig zum Tode verurteilt worden, für einen Mord, den er nicht
begangen hat. Er wollte das Geständnis nicht unterschreiben und an diesem Punkt haben
sie mich verhaftet. Sie hatten ihn gefoltert, geschlagen, ihm eine Maske übergezogen,
mit der er nicht atmen konnte. Als er erfahren hat, dass sie seine Mutter verhaftet
haben und damit gedroht haben, ihr etwas anzutun, hat er sein eigenes Todesurteil
unterschrieben, um mein Leben zu retten. Auch wenn wir etwas Hoffnung in ein gerechtes
Urteil hatten, ist es dazu nicht gekommen. Chikunov Dimitrij, russischer Staatsbürger,
Christ, geboren in Berlin, 28 Jahre alt: diese Person hatte keinen Wert für die Gesellschaft,
er hatte keine Möglichkeit, in Gefangenschaft rehabilitiert zu werden. Deshalb ist
er zum Tode verurteilt worden.“
In den ersten beiden Jahren ihrer Aktivität
für die Gefangenen, erzählt Tamara, hatte sie schwere innere Kämpfe mit sich auszufechten.
Zwar sei es ihr schnell gelungen, Fälle von Menschen ans Licht zu bringen, die auf
ihre Hinrichtung warteten. Doch ein unstillbarer persönlicher Rachedurst trübte zunächst
ihren Sinn. Erst dann, so Tamara, habe sie realisiert dass die Hilfe für die Menschen,
die auf ihre Hinrichtung warteten, wichtiger sei.
„Es gab andere schreckliche
Situationen. Ich bin Jurist und habe auch an Fällen von Menschen gearbeitet, die zum
Tode verurteilt worden sind. Manchmal haben wir es nicht rechtzeitig geschafft, den
Urteilsspruch annullieren zu lassen, und die Todesstrafe ist vollstreckt worden. Ich
selbst habe die Angehörigen informieren müssen, denn der Staat hat die Hinrichtungen
im Geheimen vorgenommen. Ich wünsche nicht einmal meinem ärgsten Feind eine solche
Mission. Ich habe sehr mit meinem Schicksal gehadert. Doch am nächsten Morgen habe
ich immer an die Gefangenen im Todestrakt gedacht, als wären es meine Kinder, die
sich alle etwas von mir erwarteten. Und wenn es uns nicht gelungen wäre, etwas für
sie zu tun, wären auch sie gestorben.“
Auf ihrem steinigen Weg hat Tamara
durch die Gemeinschaft Sant´Egidio wichtige Unterstützung erfahren. Sie habe, so Tamara,
ihr dabei geholfen, weiter in dem ihr nunmehr verhassten Land zu leben und ihre Aufgabe
zu erfüllen. Dabei habe sie ihr auch persönlichen Schutz geboten, denn ohne wachsame
Augen von außen wäre es ein leichtes gewesen, auch sie für immer zum Schweigen zu
bringen. Einer der Häftlinge, die dank Tamaras Arbeit freigekommen sind, ist Marat
Rakhmanov, der selbst Ende der 90er Jahre verhaftet worden war, als er sich auf Urlaub
bei seiner Schwester befand. Er musste 9 Jahre im Gefängnis verbringen, davon 13 Monate
im Todestrakt, und war jeder erdenklichen Form von Folter und Gewalt ausgesetzt:
„Um
mich dazu zu zwingen, ein falsches Schuldeingeständnis zu unterzeichnen, haben sie
zusammen mit mir meine Schwester und ihr eineinhalbjähriges Kind verhaftet. Das wird
in der Republik Usbekistan als normale Methode angesehen, wenn man das so sagen kann.
Indem sie diese anwenden, setzen sie den Angeklagten unter Druck.“
Doch
der Druck sei nicht nur psychologischer Natur gewesen, erzählt Marat Rakhmanov:
„Während
der 13 Monate im Todestrakt haben sie mich regelmäßig geschlagen, richtig starke Schläge!
Meine Hände sind mit verschiedenen Instrumenten geschnitten worden und nach all den
Schlägen habe ich verschiedene Rückenprobleme. Ich muss sagen, mein Körper erinnert
mich jeden Tag daran, was ich vor so vielen Jahren durchgemacht habe. Einmal entlassen,
war ich sozusagen im Gefängnis bei Tamara, denn sie verteidigte mich und hat mich
versteckt, damit mir nichts passiert. Die Polizei hat sogar versucht, in ihr Haus
einzudringen um mich zu finden.“
Er selbst fühle sich immer noch weder
psychologisch noch körperlich stark genug, um in der Vereinigung mitzuarbeiten. Auch
heute noch rufe eine einfache Unterhaltung mit Tamara die schrecklichen Erinnerungen
an die Zeit im Gefängnis wieder wach:
„Sie merkt vielleicht nichts davon,
aber tief in mir leide ich, denn es ist sehr schmerzhaft auch nur zu erinnern, was
geschehen ist. Um in Vereinigungen wie dieser zu arbeiten, braucht man sehr starke
Menschen. Ich kann zu diesem Zeitpunkt nur Zeuge des Geschehenen sein. Ich bin noch
nicht bereit, zu kämpfen, zu arbeiten. Ich brauche Zeit nicht nur um die Probleme
physischer und psychischer Art zu überwinden, sondern ich muss auch meinen Rachedurst
überwinden, um nicht die Personen anzufallen, die mir all das angetan haben. Es muss
mir gelingen, diesen Bewusstseinszustand zu erreichen und dann wird mein Auftrag sein,
gegen das System zu kämpfen, das Menschen beschuldigt und umbringt.“