D: „Es fehlt eine Basissympathie für Religionsgemeinschaften“
Vor dem deutschen
Parlament liegen zwei Gesetzentwürfe, die Beschneidungen gesetzlich ordnen sollen,
zwei Entwürfe, die sehr verschieden sind. Die Debatte gehört in den weiteren Kontext
von Religionsfreiheit. Das sagt der UNO-Koordinator für Religionsfreiheit, Heiner
Bielefeldt, im Gespräch mit Radio Vatikan.
„Das Thema Beschneidung ist
ein wirklich schwieriges Thema. Es geht darum, hier unterschiedliche Menschenrechtsansprüche
und Grundrechtsansprüche zusammen zu bringen, was auch manche Kompromisse erforderlich
macht: Religionsfreiheit, Elternrecht, aber auch das Recht des Kindes auf Unverletzlichkeit
– das alles zusammen zu bringen, wird vielleicht gar nicht ganz reibungslos funktionieren.
Beschneidung
soll möglich sein. Das, finde ich, ist ein wichtiges Signal, denn wir haben immerhin
einen wichtigen religiösen Ritus, der für Juden und für Muslime sehr breit verankert
ist, der sehr breiten Konsens in den Communities findet.
Da gibt es
immer auch Minderheiten, die das anders sehen, Minderheiten innerhalb der Minderheiten.
Mit dem kann man auch durchaus Sympathie haben und Fragen stellen, ob nicht auch hier
vielleicht Reformen entstehen können. Aber mit dem Strafrecht jüdische Gemeinden oder
Muslime zu bedrohen oder gar zu Reformen zu zwingen, das wäre eine ziemlich absurde
Maßnahme und finde es notwendig, auch hier die Flagge der Religionsfreiheit zu halten.
Zumal die Diskussion in Deutschland zum Teil doch sehr schrille Töne hervorgebracht
hat. Ich war ehrlich gesagt reichlich erschrocken, wie viele Ressentiments zum Teil
gegen Religion überhaupt, aber dann auch spezifisch gegen Muslime und Juden hier an
den Tag getreten sind. Das war reichlich erschreckend und zeigt, dass auch in einem
Rechtsstaat wir Deutschland in einer vergleichsweise befriedeten Gesellschaft kulturkämpferische
Konfliktlinien wieder aufbrechen können.
Aggressive Ignoranz Es
fehlt in großen Teilen unserer Gesellschaft Basiswissen und auch eine Basissympathie
für Religionsgemeinschaften, für deren Riten und deren Selbstverständnisse, so dass
dann eine aggressive Ignoranz immer wieder formuliert worden ist.
Und
es gibt in Teilen der Gesellschaft eine aggressive Stimmung gegen Religionen überhaupt.
Religion weckt zunehmend Unbehagen und Misstrauen, und insofern stehen jetzt auch
die Religionsgemeinschaften insgesamt vor der Aufgabe, miteinander dafür zu sorgen,
dass Probleme zwar angesprochen werden, dass wir aber auch ein Klima der Offenheit
haben, wo religiöser Pluralismus gelebt werden kann.
So selbstverständlich,
wie ich das vor einigen Jahren noch gedacht habe, ist das mittlerweile nicht mehr.
Das hat diese zum Teil schrille und aggressive Debatte um Beschneidung offen gelegt.“
Ressentiments
und Aufklärung Es wird aber schwierig sein, alle Religionen gegen diese
Haltungen und aufklärerischen Stimmungen zusammen zu bringen. Wir selber machen ja
auch ganz instinktiv Unterschiede, wenn es um Religionsfreiheit geht: Beschneidung
bei Juden ist kein Problem, aber beim Islam macht uns das auf einmal Angst.
„Der
Islam hat noch mal ganz besonders mit Vorbehalten und Ressentiments zu kämpfen. Es
gibt viele Menschen, die dem Islam generell zuschreiben, frauenfeindlich zu sein,
intolerant zu sein, undemokratisch zu sein: Das ist ein großes Problem.
Wir
haben aber mittlerweile ein Klima, in dem Religion an und für sich mit Misstrauen
betrachtet wird. Das gibt es viel zu tun.
Übrigens würde ich das Aufklärung
nennen. Sie haben in Ihrer Frage von ‚aufklärerischer Stimmung’ gesprochen: Ich glaube,
dass es darum geht, wie wir Aufklärung verstehen. Verstehen wir sie so, dass wir eine
Gesellschaft wollen, in der Pluralismus gelebt werden kann? Das ist eine aufklärerische
Forderung. Oder verstehen wir Aufklärung so, dass die Religionen ersetzt werden durch
irgendwelche postreligiösen wissenschaftsorientierten Ideologien. Das ist ein sehr,
sehr enges Verständnis von Aufklärung.“
Was genau steht denn auf dem Spiel,
wenn zum Beispiel Beschneidung oder eine andere konkrete Form der Religionsausübung
in unserer Gesellschaft nicht mehr erlaubt würde?
„Ich glaube, dass die
Konsequenzen gravierend wären. Muslime und Juden, von denen die ganz große Mehrheit
auf die Beschneidung nicht verzichten würde, hätten keine Möglichkeit, hier ihre religiöse
Praxis legal in Deutschland zu leben.“
Kein Nachhilfeunterricht per
Strafrecht Ein Hauptargument gegen Beschneidung lautete, dass aufgeklärte
Gruppen in Israel auch schon gegen Beschneidung seien und deswegen sich die Religionen
mit der Gesellschaft entwickeln müssten und ihre Riten behutsam anpassen müssten.
Braucht die Religionsfreiheit eine ‚Anpassung’?
„Dass Religionen sich ändern,
gehört auch zur Realität. Man kann das zur Kenntnis nehmen oder auch begrüßen. Aber
jetzt sozusagen mit dem Strafrecht Nachhilfeunterricht zu formulieren, das wäre eine
unglaubliche Anmaßung und eine Überschätzung der Möglichkeiten, die dem Strafrecht
zustehen. Kulturkampf mit Strafrechtsdrohungen kann nur verheerende Folgen
haben.“
Im Vatikan wird Religionsfreiheit immer wieder als Prüfstein aller
Menschenrecht dargestellt. Daran zeige sich, was Menschenrechte an sich wert sind.
Ist das so? Ist Religionsfreiheit theoretisch gesprochen so essentiell für die Menschenrechte
allgemein?
„Ja, unbedingt. Bei der Religionsfreiheit – mit vollem Namen
„Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit“ – geht es darum, den
Menschen als Träger von grundlegenden Überzeugungen zu respektieren und damit eingehend
von individuellen und gemeinschaftlichen Praktiken. Hier geht es um Respekt vor der
Vielfalt der identitätsstiftenden Überzeugungen von Menschen. Insofern ist die Religionsfreiheit
tatsächlich ein Prüfstein für das Klima einer Gesellschaft, für Offenheit, für den
Umgang miteinander, für die Menschenrechtskultur in einem Land. Ohne Religionsfreiheit
sind Menschenrechte nicht zu haben.“
Was braucht es im deutschsprachigen
Raum noch alles für eine wirklich umfassende Verwirklichung der Religionsfreiheit?
„Generell
sieht es in Sachen Religionsfreiheit ja gut aus. Das müssen wir einmal zur Kenntnis
nehmen. Aber wie wir eben schon besprochen haben, erleben wir auch neue Bruchlinien,
die Debatte um die Beschneidung hat mich alarmiert. Sie hat gezeigt, dass da wieder
einiges an Investition zu leisten ist, vor allem in Gespräch. Und das nicht
nur interreligiös, sondern auch Gespräche mit den berühmten „religiös Unmusikalischen“.
Da müssen wir für Verständnis füreinander werben. Daran hat es gefehlt, da müssen
wir richtig was tun.“
Zur Person Professor Heiner Bielefeldt
hat in Erlangen den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik inne und
ist außerdem UNO-Koordinator für Religionsfreiheit.