2012-11-23 12:59:52

Haiti: „Ein Land, in dem das Durcheinander institutionalisiert war“


RealAudioMP3 Der Präsident von Haiti, Michel Martelly, war an diesem Donnerstag zu Gast im Vatikan. Mit Benedikt XVI. sprach der frühere Musiker – Künstlername „Sweet Micky“ – über die Lage im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Martelly, ein Seiteneinsteiger in die Politik, gelangte vor anderthalb Jahren ins höchste Staatsamt. Dabei kam ihm die Popularität seiner kreolischen „Compas“-Musik zugute.

„Ich wollte vor allem der katholischen Kirche für die gute Arbeit danken, die sie weltweit und eben auch auf unserer Insel leistet, und zwar nicht nur in Hinsicht auf das Erdbeben von 2010. Ich denke vor allem an ihre Arbeit im Schul- und Ausbildungsbereich, die für uns ausgesprochen wichtig ist, weil sie unseren jungen Leuten die Türen zur Zukunft und zum Erfolg öffnet; man gibt ihnen Chancen und vermittelt ihnen Werte.
Meine Frau war übrigens bei Ordensfrauen auf der Schule, und ich bei den Schulbrüdern; ich war sogar im Schulchor. Wir wissen also sehr gut, was katholische Erziehung leistet!
Mit dem Papst habe ich aber natürlich auch über den Wiederaufbau nach dem Erdbeben gesprochen – 70 Prozent unserer Kirchen wurden bei den Erdstößen zerstört, und es ist für uns schon symbolisch wichtig, dass diese Kirchen wiederaufgebaut werden. Und zwar, um wieder Orte zu haben, von denen aus unsere Gesellschaft konsolidiert wird.“

Papst nach Haiti eingeladen

Er sei beeindruckt, wie gut der Papst über die Lage in Haiti informiert sei, so der Präsident im Gespräch mit Radio Vatikan nach seiner Audienz bei Benedikt XVI..

„Wir haben auch von der Notwendigkeit einer Reise Seiner Heiligkeit nach Haiti gesprochen, damit er diesem Volk, das so viel gelitten hat, seinen Segen bringt, und diesem Land, wo das Durcheinander institutionalisiert war und wo das Böse als Meister geherrscht hat.“

Was der Papst zur Einladung nach Haiti gesagt hat, verrät uns Präsident Martelly nicht. Benedikt XVI. reist im nächsten Sommer zum Weltjugendtag nach Rio – es ist seit seinem Amtsantritt 2005 seine vierte Amerikareise. Martelly ist derzeit auf einer neuntägigen Europatour; u.a. hat er in Cadiz am Iberoamerikanischen Gipfel teilgenommen. Zu Haiti sagte der Präsident uns:

„Es gab auf der Insel lange Zeit nur zwei Gruppen: Die, die alles haben, und die, die nichts haben. Das Erdbeben hat vor allem diejenigen schwer in Mitleidenschaft gezogen, die nichts haben, weil sie die Verletzlichsten in der Gesellschaft waren; ihre Bauten waren notdürftig zusammengeflickt und krachten als allererstes ein. Dazu kam eine Hungersnot im Jahr 2008, letztes Jahr eine große Trockenheit, und jetzt haben Überschwemmungen Plantagen verwüstet, Nutztiere ertränkt und Häuser weggeschwemmt. Es ist immer dieselbe Klasse, die zum Opfer wird: die, die nicht zur Schule gegangen sind und die keinen Zugang zu Gesundheitsleistungen haben. Als ich letztes Jahr ins Amt kam und immer von Wiederaufbau, Wiederaufbau die Rede war, da habe ich den Wiederaufbau der haitianischen Seele zur Priorität erklärt! Das ist noch wichtiger als die Häuser, die Infrastruktur, die Straßen und all das. Die Leute müssen wieder Vertrauen zum Staat und zu sich selbst schöpfen können – Vertrauen, dass es eine bessere Zukunft geben könnte.“

Erste Priorität: der Wiederaufbau der haitianischen Seele

Martelly reklamiert für sich, dass er schon energische Maßnahmen ergriffen habe, um das Leben der Armen zu verbessern. Seine Kritiker hingegen zeihen ihn des Populismus und der politischen Unerfahrenheit. Sie ärgern sich u.a. darüber, dass weder er noch sein Ministerpräsident letzten Sonntag am Nationalfeiertag in Port-au-Prince waren. Die Opposition nutzte das zu Demonstrationen gegen den Präsidenten und seinen Sohn, dem sie vorwerfen, mit Entführern gemeinsame Sache zu machen. Martelly:

„Ich habe als allererstes Schulbildung für kostenlos erklärt und die Schulpflicht für die Kleinen eingeführt: Über eine Million Kinder gehen mittlerweile dank dieser Maßnahme kostenlos in die Schule, der Transport ist kostenlos, und sie bekommen auch gratis jeden Tag etwas Warmes zu essen. Ab Januar läuft dann ein ähnliches Programm im Berufsschul-Bereich an – wir wollen damit etwas gegen die Arbeitslosigkeit tun, die bei achtzig Prozent liegt. Wenn wir keine Arbeitsplätze schaffen und den jungen Leuten keine Chancen geben, bleibt unsere Wirtschaft am Boden, und es wird nichts mit einer nachhaltigen Entwicklung.“

Bei seinen Gesprächen in europäischen Hauptstädten versucht der Präsident, Investoren für Haiti zu finden. Diese ständigen Reisen bringen doch für Haiti nichts, sagen Kritiker hingegen auf der Homepage „defend haiti“. Martelly erklärt:

„Ich wünsche mir, dass Haiti aus dieser ständigen Hilfsbedürftigkeit herausfindet und ein neues Klima bei uns entsteht. Dass man uns nicht mehr als Elende, Unglückliche sieht. Wir sind ein edles Volk, wir können arbeiten und Hindernisse überwinden!“

Nicht immer nur Feuerwehr spielen

Dazu müsse sich allerdings auch in seinem Land selbst die Mentalität noch ein bißchen ändern, so der Präsident. „Wir sollten endlich aufhören, immer nur Feuerwehr zu spielen!“, sagt er wörtlich.

„Jedesmal wenn es Überschwemmungen gibt, retten wir Menschenleben, evakuieren die Leute, karren Nahrungsmittelhilfe herbei – was wir jetzt bräuchten, wären langfristige Investitionen für eine Wiederaufforstung in Haiti, Maßnahmen zur Flußregulierung, Rückhaltebecken usw. Ich werde mich deswegen an die Freunde Haitis und an Geldgeber wenden, um ein entsprechendes Umweltprogramm auf die Beine zu stellen. Damit könnten auch Maßnahmen für unsere Landwirtschaft einhergehen: Wir haben fruchtbares Land, Haiti könnte sich selbst ernähren, schon jetzt produzieren wir siebzig Prozent unserer Lebensmittel selbst.“

Ein Land, das aus der Armut herausfinden wolle, könne „nicht nur von Almosen leben“, so Präsident Martelly. Er lade alle Interessierten ein, „einmal nach Haiti zu Besuch zu kommen und sich die Möglichkeiten anzuschauen“, die es dort gebe.

„Wir verfügen über wichtige Reichtümer in dem Sinn, dass unsere Schwächen Möglichkeiten für andere sein könnten. Unser Energienetz ist noch nicht sehr ausgebaut – da könnten Unternehmen von außen kommen und Geschäfte machen. Wir haben ein großes Tourismus-Potential, da könnte man doch Hotels bauen; und weil Häfen und Flughäfen sowie viel Infrastruktur durch das Erdbeben 2010 zerstört worden sind, könnten große Bauunternehmen kommen und ebenfalls Geschäfte machen. Dadurch könnten bei uns Arbeitsplätze bei uns entstehen. Wir warten also auf unsere Freunde. Macht uns keine Geschenke! Kommt lieber als Touristen oder um zu investieren!“

Für seine Musik findet „Monsieur le Président“ nicht mehr so richtig Zeit, wie er im Gespräch mit Radio Vatikan einräumt.

„Also, manchmal mache ich nach einem Auftritt, einer wichtigen Rede oder ähnlichem, noch ein bißchen Musik, um den Leuten etwas Mut zu geben. Und am Jahresende werde ich nebenan in der Dominikanischen Republik bei einem Benefiz-Konzert für unser Schulwesen zusammen mit Julio Iglesias singen.“

(rv 23.11.2012 sk)








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