Haiti: „Ein Land, in dem das Durcheinander institutionalisiert war“
Der Präsident von
Haiti, Michel Martelly, war an diesem Donnerstag zu Gast im Vatikan. Mit Benedikt
XVI. sprach der frühere Musiker – Künstlername „Sweet Micky“ – über die Lage im ärmsten
Land der westlichen Hemisphäre. Martelly, ein Seiteneinsteiger in die Politik, gelangte
vor anderthalb Jahren ins höchste Staatsamt. Dabei kam ihm die Popularität seiner
kreolischen „Compas“-Musik zugute.
„Ich wollte vor allem der katholischen
Kirche für die gute Arbeit danken, die sie weltweit und eben auch auf unserer Insel
leistet, und zwar nicht nur in Hinsicht auf das Erdbeben von 2010. Ich denke vor allem
an ihre Arbeit im Schul- und Ausbildungsbereich, die für uns ausgesprochen wichtig
ist, weil sie unseren jungen Leuten die Türen zur Zukunft und zum Erfolg öffnet; man
gibt ihnen Chancen und vermittelt ihnen Werte. Meine Frau war übrigens bei
Ordensfrauen auf der Schule, und ich bei den Schulbrüdern; ich war sogar im Schulchor.
Wir wissen also sehr gut, was katholische Erziehung leistet! Mit dem Papst
habe ich aber natürlich auch über den Wiederaufbau nach dem Erdbeben gesprochen –
70 Prozent unserer Kirchen wurden bei den Erdstößen zerstört, und es ist für uns schon
symbolisch wichtig, dass diese Kirchen wiederaufgebaut werden. Und zwar, um wieder
Orte zu haben, von denen aus unsere Gesellschaft konsolidiert wird.“
Papst
nach Haiti eingeladen
Er sei beeindruckt, wie gut der Papst über die
Lage in Haiti informiert sei, so der Präsident im Gespräch mit Radio Vatikan nach
seiner Audienz bei Benedikt XVI..
„Wir haben auch von der Notwendigkeit
einer Reise Seiner Heiligkeit nach Haiti gesprochen, damit er diesem Volk, das so
viel gelitten hat, seinen Segen bringt, und diesem Land, wo das Durcheinander institutionalisiert
war und wo das Böse als Meister geherrscht hat.“
Was der Papst zur Einladung
nach Haiti gesagt hat, verrät uns Präsident Martelly nicht. Benedikt XVI. reist im
nächsten Sommer zum Weltjugendtag nach Rio – es ist seit seinem Amtsantritt 2005 seine
vierte Amerikareise. Martelly ist derzeit auf einer neuntägigen Europatour; u.a. hat
er in Cadiz am Iberoamerikanischen Gipfel teilgenommen. Zu Haiti sagte der Präsident
uns:
„Es gab auf der Insel lange Zeit nur zwei Gruppen: Die, die alles haben,
und die, die nichts haben. Das Erdbeben hat vor allem diejenigen schwer in Mitleidenschaft
gezogen, die nichts haben, weil sie die Verletzlichsten in der Gesellschaft waren;
ihre Bauten waren notdürftig zusammengeflickt und krachten als allererstes ein. Dazu
kam eine Hungersnot im Jahr 2008, letztes Jahr eine große Trockenheit, und jetzt haben
Überschwemmungen Plantagen verwüstet, Nutztiere ertränkt und Häuser weggeschwemmt.
Es ist immer dieselbe Klasse, die zum Opfer wird: die, die nicht zur Schule gegangen
sind und die keinen Zugang zu Gesundheitsleistungen haben. Als ich letztes Jahr ins
Amt kam und immer von Wiederaufbau, Wiederaufbau die Rede war, da habe ich den Wiederaufbau
der haitianischen Seele zur Priorität erklärt! Das ist noch wichtiger als die Häuser,
die Infrastruktur, die Straßen und all das. Die Leute müssen wieder Vertrauen zum
Staat und zu sich selbst schöpfen können – Vertrauen, dass es eine bessere Zukunft
geben könnte.“
Erste Priorität: der Wiederaufbau der haitianischen
Seele
Martelly reklamiert für sich, dass er schon energische Maßnahmen
ergriffen habe, um das Leben der Armen zu verbessern. Seine Kritiker hingegen zeihen
ihn des Populismus und der politischen Unerfahrenheit. Sie ärgern sich u.a. darüber,
dass weder er noch sein Ministerpräsident letzten Sonntag am Nationalfeiertag in Port-au-Prince
waren. Die Opposition nutzte das zu Demonstrationen gegen den Präsidenten und seinen
Sohn, dem sie vorwerfen, mit Entführern gemeinsame Sache zu machen. Martelly:
„Ich
habe als allererstes Schulbildung für kostenlos erklärt und die Schulpflicht für die
Kleinen eingeführt: Über eine Million Kinder gehen mittlerweile dank dieser Maßnahme
kostenlos in die Schule, der Transport ist kostenlos, und sie bekommen auch gratis
jeden Tag etwas Warmes zu essen. Ab Januar läuft dann ein ähnliches Programm im Berufsschul-Bereich
an – wir wollen damit etwas gegen die Arbeitslosigkeit tun, die bei achtzig Prozent
liegt. Wenn wir keine Arbeitsplätze schaffen und den jungen Leuten keine Chancen geben,
bleibt unsere Wirtschaft am Boden, und es wird nichts mit einer nachhaltigen Entwicklung.“
Bei
seinen Gesprächen in europäischen Hauptstädten versucht der Präsident, Investoren
für Haiti zu finden. Diese ständigen Reisen bringen doch für Haiti nichts, sagen Kritiker
hingegen auf der Homepage „defend haiti“. Martelly erklärt:
„Ich wünsche
mir, dass Haiti aus dieser ständigen Hilfsbedürftigkeit herausfindet und ein neues
Klima bei uns entsteht. Dass man uns nicht mehr als Elende, Unglückliche sieht. Wir
sind ein edles Volk, wir können arbeiten und Hindernisse überwinden!“
Nicht
immer nur Feuerwehr spielen
Dazu müsse sich allerdings auch in seinem
Land selbst die Mentalität noch ein bißchen ändern, so der Präsident. „Wir sollten
endlich aufhören, immer nur Feuerwehr zu spielen!“, sagt er wörtlich.
„Jedesmal
wenn es Überschwemmungen gibt, retten wir Menschenleben, evakuieren die Leute, karren
Nahrungsmittelhilfe herbei – was wir jetzt bräuchten, wären langfristige Investitionen
für eine Wiederaufforstung in Haiti, Maßnahmen zur Flußregulierung, Rückhaltebecken
usw. Ich werde mich deswegen an die Freunde Haitis und an Geldgeber wenden, um ein
entsprechendes Umweltprogramm auf die Beine zu stellen. Damit könnten auch Maßnahmen
für unsere Landwirtschaft einhergehen: Wir haben fruchtbares Land, Haiti könnte sich
selbst ernähren, schon jetzt produzieren wir siebzig Prozent unserer Lebensmittel
selbst.“
Ein Land, das aus der Armut herausfinden wolle, könne „nicht nur
von Almosen leben“, so Präsident Martelly. Er lade alle Interessierten ein, „einmal
nach Haiti zu Besuch zu kommen und sich die Möglichkeiten anzuschauen“, die es dort
gebe.
„Wir verfügen über wichtige Reichtümer in dem Sinn, dass unsere Schwächen
Möglichkeiten für andere sein könnten. Unser Energienetz ist noch nicht sehr ausgebaut
– da könnten Unternehmen von außen kommen und Geschäfte machen. Wir haben ein großes
Tourismus-Potential, da könnte man doch Hotels bauen; und weil Häfen und Flughäfen
sowie viel Infrastruktur durch das Erdbeben 2010 zerstört worden sind, könnten große
Bauunternehmen kommen und ebenfalls Geschäfte machen. Dadurch könnten bei uns Arbeitsplätze
bei uns entstehen. Wir warten also auf unsere Freunde. Macht uns keine Geschenke!
Kommt lieber als Touristen oder um zu investieren!“
Für seine Musik findet
„Monsieur le Président“ nicht mehr so richtig Zeit, wie er im Gespräch mit Radio Vatikan
einräumt.
„Also, manchmal mache ich nach einem Auftritt, einer wichtigen
Rede oder ähnlichem, noch ein bißchen Musik, um den Leuten etwas Mut zu geben. Und
am Jahresende werde ich nebenan in der Dominikanischen Republik bei einem Benefiz-Konzert
für unser Schulwesen zusammen mit Julio Iglesias singen.“