Das erste Mal spricht
Joseph Ratzinger 2002 in einem Interview mit Radio Vatikan von seinem Projekt, ein
Buch über Jesus zu schreiben. Er ist damals 75 Jahre alt, Kardinal, Chef der römischen
Glaubenskongregation. Und rechnet damit, in fünf Jahren in Ruhestand zu gehen. Dafür
will er sich nicht zuviel vornehmen:
„Was mir aber besonders am Herzen läge,
wäre, noch ein Buch über Jesus Christus zu schreiben. Wenn mir das geschenkt würde,
wäre das sozusagen der Wunsch, den ich vor allem trage. Und damit verbindet sich auch
der Wunsch, dass ich genügend Zeit und Freiheit finde, um das zustande zu bringen.“
Joseph
Ratzinger ist – so wird er es selbst später einmal formulieren – zu seinem Jesusbuch
„lange innerlich unterwegs gewesen“. Ihm steht ein „Bild Jesu Christi“ vor Augen,
„wie er als Mensch auf Erden lebte, aber – ganz Mensch – doch zugleich Gott zu den
Menschen trug, mit dem er als Sohn eins war. So wurde durch den Menschen Jesus Gott
und von Gott her das Bild des rechten Menschen sichtbar.“ Seit den fünfziger Jahren
allerdings habe es eine Reihe von Jesus-„Rekonstruktionen“ gegeben, durch die der
„Riss zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens“ immer tiefer
wurde: „Beides brach zusehends auseinander.“
„Christus wird auf Jesus reduziert,
auf einen beispielhaften Menschen, über den dann wieder die Ideen sehr unterschiedlich
sind, und die Gottesfrage weitgehend beiseite geschoben. Es bleiben menschliche Vorbilder;
bis zu Gott reicht es sozusagen gar nicht hin. So dass heute die Frage geworden ist:
Gibt es doch mehr? Ist dieser Jesus mehr als irgendeines der Vorbilder, die es irgendwann
mal gegeben hat? Und erreichen wir in ihm sozusagen wirklich Gott? Nur, wenn wir auf
diese Fragen antworten, können wir die Herausforderung bestehen, die in der Gegenwart
liegt.“
Im April 2005 wird Ratzinger zum Papst gewählt: Benedikt XVI. Sein
Jesusbuch ist da schon weitgehend fertig geschrieben – das erste zumindest. Denn das
Projekt wächst an, mindestens drei Bände wird er brauchen. Im März 2007 veröffentlicht
der Papst seinen ersten Band: Jesus von Nazareth – von der Taufe im Jordan bis zur
Verklärung. Er wartet nicht, bis er alles fertig geschrieben hat: „Da ich nicht weiß,
wie lange mir noch Zeit und Kraft geschenkt sein werden“, wie er formuliert. Der Autorenname
ist ein doppelter: Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.
„Das gab es noch nie
in der Geschichte, dass ein Papst ein wissenschaftliches Jesusbuch schreibt.“
So reagiert damals, zusammen mit vielen anderen, der Bochumer Neutestamentler Thomas
Söding. „Hier zeigt sich ein ganz neuer Stil des Papsttums: Der Stellvertreter
Christi auf Erden formuliert kein Dogma, sondern sagt „Das ist meine Beobachtung als
Theologe, lest das kritisch und diskutiert darüber!“ Das halte ich für revolutionär.“
„Gewiss
brauche ich nicht eigens zu sagen, dass dieses Buch in keiner Weise ein lehramtlicher
Akt ist, sondern einzig Ausdruck meines persönlichen Suchens nach dem Angesicht des
Herrn“, so Ratzinger-Benedikt im Vorwort des ersten Bandes. „Es steht daher
jedem frei, mir zu widersprechen. Ich bitte die Leserinnen und Leser nur um jenen
Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“
„Das Buch
ist für alle interessant. Und mit seiner klaren und sehr gut verständlichen Sprache
kann man es auch ohne Vorkenntnisse lesen... Was er jetzt braucht, sind viele intelligente
und kritische Leser, die nicht vor Ehrfurcht in die Knie gehen, sondern das offene
Gesprächsangebot ernst nehmen... Der Papst will ja auch gerade nicht sagen "Hier ist
der Weisheit letzter Schluss und ab jetzt wird keine Jesusforschung mehr getrieben."
Im Gegenteil! Die Leser sollen ja diskutieren, wieso dieser Jesus einerseits so fasziniert
und andererseits so irritiert.“
Das erste Jesusbuch wird ein Bestseller.
„Faszinierend“, urteilt der Jesuitenkardinal Martini, „bewunderswert, dass der Papst
sich das als Nicht-Exeget zutraut.“ Der Theologe auf dem Stuhl des Petrus versucht,
die historisch-kritische Bibelauslegung ernstzunehmen, aber auch die sogenannte „Kanonische
Exegese“ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Sein Argument: Der Jesus, von dem die Evangelien
erzählen, ist der Jesus des Glaubens. Man kann also, wenn man nach diesem Jesus fragt,
den Glauben nicht einfach außer acht lassen. Auch der Wiener Kardinal Christoph Schönborn,
der den Band der internationalen Presse vorstellt, sagt das so: „Jesus von Nazareth
ist zuallererst das Werk eines Glaubenden.“
„Und das ist das Wichtigste
an diesem Buch. Es ist das Zeugnis eines Glaubenden an Jesus. Dass dieser Glaubende
auch ein großer Theologe ist,.... das spielt natürlich alles mit hinein in dieses
Buch, aber es ist zuerst das ganz persönliche Hinschauen des Christen Ratzinger auf
seinen Herrn, auf Jesus.“
Es ist vor allem ein jüdischer Rabbiner, mit
dem der Papst – überraschend genug – in einen inneren Dialog über Gott tritt und darüber,
wer Jesus war. Jesus war selbst die Thora, so entwickelt es Benedikt XVI.; und wenn
man fragt, was Jesus eigentlich gebracht habe, dann sei die Antwort „ganz einfach:
Gott. Er hat Gott gebracht... Nun kennen wir sein Antlitz, nun können wir ihn anrufen.“
Heimliche Achse des ersten Jesusbuches: die Bergpredigt. In den Seligpreisungen der
Armen, der Sanftmütigen usw. erkennt Ratzinger-Benedikt ein verhülltes Selbstporträt
Jesu.
„Er ist der Gewaltlose, der Friedensstifter, der Arme usw.! Wenn man
also von der Biografie Christi her sozusagen die Bergpredigt liest, dann sieht man,
dass es gar nicht so sehr auf die Einzelheiten ankommt (jeder kann nur einen Teil
verwirklichen) – das Prinzip darin ist eben dieses: Christus nahezukommen und in seinem
Leben die Gemeinschaft mit Christus neu auszudrücken und sich davon in seinem Leben
führen und bestimmen zu lassen.“
Vier Jahre später veröffentlicht Papst
Benedikt den zweiten Teil der Jesus-Trilogie: „Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung“.
Darin kann er schon auf eine lebhafte Debatte zu seinem ersten Band zurückblicken:
„Dankbar nehme ich auch zur Kenntnis, dass die Diskussion über Methode und Hermeneutik
der Exegese, über Exegese als historische und zugleich als auch theologische Disziplin
trotz mancher Sperren neuen Schritten gegenüber an Lebhaftigkeit zunimmt.“ Der Papst
präzisiert noch mal, „dass ich kein „Leben Jesu“ schreiben wollte“ und auch keine
„Christologie von oben“. „Gestalt und Botschaft Jesu“ wolle er zeichnen: „Ein wenig
übertreibend könnte man sagen, ich wollte den realen Jesus finden, von dem aus so
etwas wie eine „Christologie von unten“ überhaupt möglich wird.“
„Der Papst
geht nun der Frage nach, was Jesus Christus für uns bedeutet – was sein Tod und seine
Auferstehung bedeuten und welches nun die große Verheißung für uns ist: dass Jesus
Christus der Erlöser, der Retter ist.“ Das sagt der Vorsitzende der Deutschen
Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch. „Das Buch hat den großen Vorteil,
dass es in deutscher Sprache konzipiert ist und wir damit die Originalsprache des
Heiligen Vaters selber haben. Und er ist der, der den Leser einlädt, mitzugehen, durch
die Art und Weise, wie er Fragen stellt und sie beantwortet und wie er den Leser mit
einbezieht in seine ganzen Überlegungen, die ihm auf diese Weise folgen können. Man
spürt, woraus Papst Benedikt lebt, was Jesu für ihn bedeutet, und dieses Feuer wird
weitergegeben.“
Auch das zweite Jesusbuch: ein Bestseller. Auch wenn man
sich an den bücherschreibenden Papst mittlerweile etwas mehr gewöhnt hat. Besonders
aufmerksam wird zur Kenntnis genommen, dass Ratzinger-Benedikt deutlich die These
zurückweist, die Juden seien schuld am Tode Jesu. Thomas Söding:
„Der Papst
lässt sich hier erfreulich intensiv auf die Debatten der historisch-kritischen Exegese
ein und arbeitet heraus, dass es zu einem guten Teil bibelwissenschaftliche Gründe
sind, dass wir mittlerweile sagen: Es waren natürlich nicht die Juden – es waren die
Hohenpriester, und es waren in gewisser Weise wir alle. Das wird beim Papst glasklar
und ist natürlich sehr hilfreich für das christlich-jüdische Gespräch.“
Über
die Auferstehung Jesu schreibt der Papst: „Jesus ist nicht in ein normales Menschenleben
dieser Welt zurückgekehrt wie Lazarus und die anderen von Jesus auferweckten Toten.
Er ist in ein anderes, neues Leben hinausgetreten – in die Weite Gottes...“ Der Autor
betont in direktem Widerspruch etwa zum evangelischen Theologen Gerd Lüdemann, „dass
die Auferstehung für die Jünger so real war wie das Kreuz“. „Keine wiederbelebte Leiche,
sondern ein von Gott her neu und für immer Lebender.“ Das Jesus-Projekt Benedikts
ist alles auf einmal: Bekenntnis des Glaubens, theologische Detailarbeit, Einladung
zum Gespräch. Noch einmal Kardinal Schönborn:
„Er hat sich auch als Professor,
wo ich ihn erlebt habe, immer sehr debattenfreudig gezeigt, er hat ein ganz großes
Vertrauen in die Kraft der Argumente. Darum lässt er sich auch gründlich ein auf die
historische Kritik an Jesus, stimmt das überhaupt, was man in der Bibel über ihn erzählt,
ist das nicht Pfaffenlug und Kirchenschwindel, muss man das nicht alles enthüllen,
wie das gewisse Autoren mit großen finanziellen Erfolg machen – da stellt er sich
ganz ungeniert der strengen strikten Argumentation. Und diese Argumentation ist für
ihn auch möglich, und er vertraut darauf, dass die Argumente nachvollziehbar sind.
Das ersetzt nicht den Glauben, aber es zeigt zumindest eines für ihn, so ganz nebulös
ist das Bild dieser Jesus nicht, wie es in den Evangelien steht – das ist sehr glaubwürdig.“