2012-11-17 11:10:11

Unser Buchtipp der Woche: Kanada


RealAudioMP3 Richard Ford: Kanada. Roman. Hanser Verlag Berlin, ca. 25 Euro. Besprochen von Stefan Kempis am 17. November 2012
„Wir waren fünfzehn. Aber unser Alter war eigentlich egal. Wir mussten uns der Wahrheit stellen, das Alter spielt dabei keine Rolle.“ Der Ich-Erzähler ist ein Junge aus der amerikanischen Provinz, der – zusammen mit seiner Zwillingsschwester – von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt ist. Die Eltern haben aus Geldnot Bankraub begangen und sind vor den Augen der beiden Jugendlichen verhaftet worden; um die zwei jungen Leute kümmert sich keiner. Sie werden auseinandergerissen, der Junge gerät als Illegaler nach Kanada, wo er in einem Hotel arbeiten muss und keine Schule besuchen kann.
„Es ist allerdings merkwürdig, was einen dazu bringt, über die Wahrheit nachzudenken“, räsonniert der Erzähler. „Sie hat so selten mit den Ereignissen des Lebens zu tun. Ich hörte damals eine Zeitlang auf, an die Wahrheit zu denken. Das Kleingedruckte der Wahrheit schien unauffindbar zwischen all den Tatsachen. Falls es eine verborgene Absicht hinter alldem gab, schaffte das Alltagsleben darüber so gut wie nie größere Klarheit.“ Ford, Altmeister der zeitgenössischen US-Literatur, schlägt einen betörend nachdenklichen Ton an: Wie gebannt folgt der Leser des Romans der Entwicklung des Ich-Erzählers in den heiklen Jahren des Erwachsenwerdens. Obwohl er in äußerst prekäre Umstände gerät und sogar Zeuge eines Mordes wird, rutscht der Protagonist nicht in die Kriminalität ab, sondern sucht unbeirrt nach einer Ordnung für sein Leben. Dazu verhilft ihm sein häufiges Nachdenken über Schach: „Das wahre Wesen der Schachfiguren entsprach stets ihrem ursprünglichen Zweck, und eine höhere Macht steuerte alles.“
Fast scheint sich der Erzähler auch selbst zu wünschen, er wäre selbst wie diese „festgelegten Figürchen, die von größeren Kräften als uns herumkommandiert wurden“. Aber: „Ich beschloss, dass wir es nicht waren. Ob wir es gut fanden oder überhaupt wussten, jetzt waren wir nur noch uns selbst gegenüber verantwortlich, keinem höheren Plan.“
Ein bemerkenswerter Roman, in dem sich die Fäden des Schicksals von selbst zu verknäueln scheinen; behutsam erzählt, aufmerksam, ohne jede Aufdringlichkeit. Angeblich hat Ford sein Manuskript lange in einem Eisfach aufgehoben, und etwas von dieser Kühle ist durchaus in den Text eingegangen.
Besonders interessant sind die Momente, in denen religiöse Motive oder Anklänge in den Text hineinspielen: Die Familie, die in diesem Roman so rettungslos verfällt, ist allerdings gar nicht religiös geprägt. „Der nächste Tag war ein Sonntag“, heißt es einmal, und unmittelbar darauf: „Wir gingen ja in keine Kirche. Mein Vater hatte eine große Familienbibel in seiner Kommodenschublade, in der sein Name stand. Offiziell gehörte er der Kirche Christi an und war vor vielen Jahren in Alabama gerettet worden. Meine Mutter verkündete, sie sei „ethische Agnostikerin“, obwohl sie doch Jüdin war. Berner sagte, sie glaube alles und nichts zugleich, was erklärte, warum sie so war, wie sie war. Ich kann mich nicht erinnern, je an irgendetwas geglaubt zu haben – ich wusste nicht mal, was Glauben bedeutete -, außer daran, dass Vögel flogen und Fische schwammen, an Dinge, die man demonstrieren konnte. Trotzdem war der Sonntag ein besonderer Tag. Da sprach keiner viel oder laut, vor allem nicht morgens. Mein Vater sah sich die Nachrichten im Fernsehen an, später Baseball… Meine Mutter las ein Buch… Ich hatte mir den Sonntag ausgesucht, um Schachzüge zu üben…“
Schräg gegenüber vom Wohnhaus der Familie liegt ein Gemeindezentrum der „Zion-Lutheraner“, die sonntags um elf „wie üblich mit ihrem Glockengebimmel“ anfangen. „Autos und Pickups kamen angefahren und parkten am Bortdstein auf der anderen Straßenseite. Familien mit Kindern schritten auf das graue Holzgebäude zu und verschwanden darin. Ich beobachtete sie gern von der Hollywoodschaukel aus. Sie hatten immer gute Laune und unterhielten sich und lachten über Themen, die sie interessierten und über die sie, wie ich annahm, einer Meinung waren. Einmal war ich an einem Wochentag hinübergelaufen, um durch die Türen hineinzuspähen und zu sehen, was es zu sehen gab. Aber die Türen waren abgeschlossen, niemand da. Das graue Schindelhaus kam mir vor wie ein Laden, der dichtgemacht hatte.“ Näher kommt der Ich-Erzähler einer Kirche in all diesen Jahren nicht mehr.
Ford zeigt gnadenlos-konsequent, wie schnell der Firnis der Normalität abplatzen, wie schnell eine Familie sich selbst zerstören, wie schnell jungen Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen werden kann. „Ich will dich hier nie wieder sehen“, herrscht eine junge Nonne den Jungen an, als er mal mit dem Fahrrad zu einer Schule fährt, von der er hofft, dass sie ihn aufnehmen könnte. „Sie schüttelte den Kopf, schob ihr Gesicht nach vorn und starrte mich durchdringend an, um sicherzugehen, dass ich sie auch verstanden hatte. „Wenn du wieder herkommst, rufe ich die Polizei. Die schafft dich hier weg. Merk dir das.“ “
Ein großer Roman: wenn man so will, ein „Wilhelm Meister“ unserer Zeit.
(rv 15.11.2012 sk)







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