Ist die Allianz zwischen
dem orthodoxen Moskauer Patriarchat und dem Kreml wirklich so unverbrüchlich, wie
viele Medien behaupten? Ausgerechnet eine Äußerung von Ministerpräsident Dmitri Medvedev
läßt daran zweifeln. Der Premier erklärte am Freitag, aus seiner Sicht gehörten die
zwei jungen Frauen der Punkrock-Gruppe „Pussy Riot“ nicht hinter Gitter. Damit stellt
er sich gegen die offizielle orthodoxe Kirche, konkret gegen Patriarch Kyrill I.,
die das Urteil gegen die zwei Musikerinnen wegen Blasphemie ausdrücklich begrüßt hatte.
Also, eine Kreml-Kirche-Allianz im Streßtest? Jean-Francois Thiry ist Ökumene-Experte;
er leitet in Moskau ein katholisches Zentrum namens „Bibliothek des Heiligen Geistes“,
das das Gespräch mit der orthodoxen Kirche sucht. Er sagt in einem Interview mit Radio
Vatikan:
„Die Beziehung zwischen der orthodoxen Kirche und dem Staat
ist ausgesprochen komplex; die Art und Weise, wie das Drama rund um „Pussy Riot“ orchestriert
wurde, hat untergründig gezeigt, dass es starke Divergenzen zwischen einigen Vertretern
des Staates (und auch der Richterschaft) auf der einen und der Kirche auf der anderen
Seite gibt. Da hat jemand aus einer großen Dummheit dieser drei jungen Frauen einen
großen Skandal gebastelt, und man könnte es so sehen, dass die Kirche dadurch vom
Kreml ausgetrickst wurde. Mit einer ersten und sehr harten Erklärung hatte sich die
orthodoxe Kirche aus Sicht der Gesellschaft in eine Ecke manövriert. Wollte vielleicht
der Staat sich ein bisschen lustig machen über die Kirche und sie auf ihren Platz
verweisen, unter dem Motto „Haltet euch aus politischen Angelegenheiten heraus“?“
Das sei nur eine Hypothese, sie müsse nicht unbedingt exakt sein,
so unser Gesprächspartner aus Moskau. Er hält es auch für wahrscheinlich, dass man
im Kreml allmählich wahrnehme, dass die Bedeutung der orthodoxen Kirche in der Gesellschaft
ab- und die des Islams allmählich zunehme. Kyrill I. allerdings werde sich, so Thiry,
niemals wie ein Oppositioneller aufführen.
„Der Patriarch gibt sehr
selten, wahrscheinlich sogar nie, Erklärungen ab, die irgendwie dem Interesse der
Regierenden entgegenlaufen – das weiß man im Kreml, man schätzt ihn dort als sehr
treu ein. Also, keiner im Kreml sägt an Kyrills Stuhl. Es gibt aber viele Russen,
die von der orthodoxen Kirche enttäuscht sind und mehr religiös-spirituelle Anleitung
von ihr erwarten. Diese spirituelle Botschaft gibt es durchaus, aber in den Medien
kommen vor allem die politischen Äußerungen der Kirche vor. Viele hätten sich auch
von ihm kircheninterne Reformen erwartet, schließlich galt er bei Amtsantritt als
liberal. Kyrill hat viel geleistet, um ein Auseinanderfallen seiner Kirche zu verhindern,
aber in der Öffentlichkeit wird nicht genug von seinen pastoralen Initiativen gesprochen,
man redet nur von der Politik und verschweigt sein seelsorgliches Wirken.“