Mit einer Feierstunde
in der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl ist am Samstag Abend in Rom der heiligen
Hildegard von Bingen gedacht worden. Bei der Begegnung mit Leben und Werk der „prophetissa
teutonica“ waren zahlreiche Ordensfrauen des Klosters St. Hildegard aus Eibingen anwesend,
die Antiphone der Hildegard rezitierten und aus ihren Schriften Passagen vortrugen.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, würdigte
den geistlichen Einsatz der Ordensfrauen aus Eibingen. Sie seien Sachwalterinnen des
Erbes der heiligen Hildegard und hielten die Erinnerung an diese Frau besonders lebendig:
„Sie mühen sich durch das tägliche Gebet und die Feier der Eucharistie um die Fürsprache
Hildegards beim Herrn. Im wahrsten Sinne des Wortes arbeiten Sie tagtäglich in Eibingen
am Vermächtnis der Hildegard, die wir und die Weltkirche morgen in dieser besonderen
Weise feiern dürfen. Deshalb gilt Ihnen unser aller Dank.“
„Prophetische
Gestalten überdauern die Zeiten“
Hildegard von Bingen habe auch heute
noch etwas zu sagen. „Sie stärkt mich in meiner Arbeit gerade auf dem Weg, den die
Kirche in Deutschland derzeit geht. Mit den Worten der heiligen Hildegard sehe ich
mich ermutigt, den eingeschlagenen Weg der Erneuerung der Kirche in Deutschland fortzusetzen“,
sagte Erzbischof Zollitsch. Äbtissin Clementia Killewald OSB aus Eibingen nannte die
Erhebung Hildegards zur Kirchenlehrerin den besten Beweis dafür, „dass die Botschaft
Hildegards auch heute kraftvoll und stark ist“. „Prophetische Gestalten überdauern
die Zeiten. Und manchmal sind sie nach vielen Jahrhunderten aktueller denn je. Die
heilige Hildegard ist eine solche.“
Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann mahnte
in einem Festvortrag, das Werk der heiligen Hildegard „auch in unsere Gegenwart zu
übersetzen“. Man dürfe Hildegard nicht kurzsichtig bestimmten Bedürfnissen von heute
ausliefern. „Heute steht Hildegard in ihrer ganzen kühnen Universalität vor uns.
Wir fühlen uns angesprochen durch ihre liebevolle Zuwendung zu den heilenden Kräften
der Schöpfung … vor allem aber durch ihre Glaubensverkündigung; sie ist uns daher
nahe als eine Frau, die Christus in seiner Kirche liebte, aber nichts von Weltfremdheit
oder Ängstlichkeit zeigt, sondern gerade von ihrer Berührung mit dem Geheimnis Gottes
her ihrer Zeit das rechte Wort furchtlos und frei zu sagen vermochte.“
Lehmann:
„Hildegard war eine starke Frau“
Lehmann erinnerte daran, dass es fast
zweitausend Jahre lang fast nur männliche Kirchenlehrer gab. Im 20. Jahrhundert seien
dann drei Frauen (Teresa von Avila, Katharina von Siena, Therese von Lisieux) in die
Liste der Kirchenlehrer aufgerückt. Zwei von ihnen, nämlich Teresa von Avila und Katharina
von Siena, könne man als „starke Frauen“ bezeichnen. Zu ihnen stoße nun Hildegard
von Bingen. „Auch bei ihr existiert eine ausgedehnte Korrespondenz mit Päpsten,
Königen, Fürsten, Bischöfen, Ordensleuten und Laien. Sie unternahm Predigtreisen vor
allem an den Rhein und nach Süddeutschland, wo sie Volk und Klerus Umkehr predigte.
Auch sie offenbart eine ungewöhnliche dichterische Begabung. Wenn die anderen drei
genannten heiligen Frauen aus Italien, Spanien und Frankreich stammen, so ist die
hl. Hildegard von Bingen die erste Frau aus dem mitteleuropäischen und besonders deutschsprachigen
Bereich, die zu dieser Ehre gelangt.“
„Ich glaube, dass man die Ernennung
dieser vier heiligen Frauen durch drei Päpste innerhalb von gut 40 Jahren in ihrer
Bedeutung bisher nicht genügend erkannt hat – und dies trotz aller feministischen
und emanzipatorischen Rufe nach einer angemesseneren Wertung und Stellung der Frau
in der Kirche.” Zwar stehe „vor allem die hohe Spiritualität dieser heiligen Frauen
im Vordergrund“. Doch dürfe man „nicht vergessen, dass sie zugleich hoch gebildet
waren und auch ein großes Organisationstalent hatten“, so Kardinal Lehmann: „Die
besondere frauliche Sensibilität hat aber auch dazu geführt, dass wir im Blick auf
die von ihnen stammenden geistlichen Zeugnisse den besonders ab dem Hochmittelalter
bis heute auf eine sehr rationale Weise zugespitzten Begriff der Theologie aufbrechen
und in gewisser Weise weiten müssen.“
Viele „Abwege“ im Hildegard-Bild
Lehmann
kritisierte, dass sich das Interesse an Hildegard „über einige Jahrzehnte vor allem
des vergangenen Jahrhunderts“ besonders auf „Randerscheinungen in ihrem Leben und
Wirken“ konzentriert habe. „Es ging um die Hildegard-Medizin, um eine direkte Anwendung
ihrer Heilkunde, um Esoterik, um ihre Verwandtschaft mit dem heutigen Feminismus,
ja streckenweise auch um Magie. Dies sind gewiss Ausstrahlungen der Kernideen und
Grunderfahrungen der Prophetin vom Rhein. Aber ohne kritische Rückbindung an die zentralen
Zeugnisse und Schriften sind dies letztlich doch Abwege, die den Zugang zur authentischen
Hildegard eher verstellen.” Wer das eigentliche Denken der Äbtissin vom Rupertsberg
und von Eibingen verstehen wolle, müsse zu den Aufzeichnungen ihrer Visionen greifen,
so der Kardinal.
„Die hl. Hildegard gilt als eine in der europäischen Geistesgeschichte
einzigartige Erscheinung. Man hat sie auch die klügste Frau des Mittelalters genannt.
Von keiner Frau des Mittelalters haben wir so viele literarische Zeugnisse erhalten
bekommen. Es gibt in dieser Hinsicht einen starken Wandel in der Einschätzung der
Bedeutung der hl. Hildegard... Wenn wir heute die hl. Hildegard mit sehr viel mehr
Differenzierungen verstehen, ist dies auch ein Erfolg der immens fleißigen wissenschaftlichen
Erforschung im 20. Jahrhundert.”
„Wir dürfen sie nicht kurzsichtigen
Bedürfnissen ausliefern“
Wer sich heute mit Hildegard von Bingen beschäftige,
der dürfe „nicht nur nach rückwärts schauen“: „Wenn sie nun durch ihr Leben in
Heiligkeit, durch ihre tiefe Erkenntnis göttlicher Dinge und durch ihre vielfältige
Spiritualität für die ganze Kirche als vorbildlich erklärt wird, dann müssen wir ihre
Bedeutung auch in unsere Gegenwart übersetzen. Dies ist, so bin ich der Meinung, der
schwierigere Teil des Auftrags, den uns das Fest anvertraut. Schon die letzten Jahrzehnte,
die die Popularität der hl. Hildegard außerordentlich verbreitet haben, sind uns dabei
eine Warnung. Wir dürfen die hl. Hildegard nicht kurzsichtig bestimmten Bedürfnissen
von heute ausliefern. Wir haben zur Genüge erlebt, wie einzelne Phänomene, wie die
Hildegard-Medizin und viele esoterische Einzelheiten, nicht Randerscheinungen bleiben,
die von der radikalen Mitte ihres Denkens in ihrer begrenzten Bedeutung sichtbar gemacht
werden können, sondern selber in das Zentrum des Interesses rücken.”