Guy Delisle:
Aufzeichnungen aus Jerusalem. Eine Besprechung von Stefan v. Kempis
Kann
man über eine so komplizierte Stadt wie Jerusalem, und vor allem über einen so komplizierten
Konflikt wie den Nahost-Konflikt, in Comic-Form erzählen? Gegenfrage: Wie denn sonst?
Kein anderes Medium ist doch so imstande wie ein Comic, eine tragikomische Lage mit
all ihren Absurditäten buchstäblich vor Augen zu führen. „Ein Meisterwerk“, urteilt
die FAZ über die „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ von Guy Delisle – und diesem Urteil
kann ich mich nur anschließen.
Die Story: Delisles Frau, die für „Ärzte ohne
Grenzen“ arbeitet, wird für ein Jahr nach Israel versetzt. Ihr Mann, der Zeichner,
muss sich um die Kinder und den Haushalt kümmern, streift aber in jeder freien Minute
mit dem Skizzenblock durch die Heilige Stadt – und erlebt dabei so einiges, was unmittelbar
vom Mit- oder auch Gegeneinander der Religionen, Konfessionen, Gruppen und Ethnien
im Heiligen Land erzählt – ob an der Sperrmauer, in einer Siedlung, in Nablus, im
orthodoxen Stadtviertel Mea Shearim, im täglichen Stau auf der Schnellstraße oder
im Wadi Kelt an der Straße nach Jericho. Kleine, oft humorvolle, manchmal bittere
Geschichten sind so entstanden; sie berichten über ein Jahr (2009), in dem Israel
den Gazastreifen bombardierte und der Papst nach Jerusalem kam. Immer bleibt Delisle
respektvoll, das Menschliche interessiert ihn. Illusionen über den sogenannten „Friedensprozess“
und über das Miteinander der Religionen in der Stadt, die den drei monotheistischen
Credi heilig ist, macht man sich nach dieser Innenansicht nicht mehr.
Übrigens
habe ich die französische Ausgabe dieses Comics vor ein paar Tagen, am Rand der Libanon-Reise
des Papstes, auch in einer Buchhandlung im Beiruter Hamra-Viertel gesehen. Man stelle
sich vor: Die Libanesen können, weil ihr Land offiziell im Kriegszustand mit Israel
ist, nicht ins Nachbarland reisen; sie können sich also nur anhand eines Buches wie
diesem ein Bild machen von Israel. Mit Delisle fahren sie gut, und wir Leser im deutschen
Sprachraum auch.
Sparsame Strichführung, ein Blick für sprechende Details,
hintergründiger Witz und eine unbändige Lust am Erzählen: ein Glücksfall.