Das Christentum ist in Europa zugleich „Fremdkörper und Wurzel“. Das hat Kardinal
Christoph Schönborn am Mittwochabend bei einem Vortrag vor hochrangigen Vertretern
aus Politik und Kirche in Berlin verdeutlicht. Dem Christentum habe es trotz eines
unleugbaren Bedeutungsverlustes „gut getan, dass es durch das Feuer der Kritik von
Aufklärung und Säkularismus gehen musste“, so Schönborn. Denn dies gebe „die Chance
der Läuterung“ und stelle „die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit“. Zugleich erklärte
der Wiener Erzbischof, in so mancher säkularen Kritik am Christentum sei „auch ein
Stück Sehnsucht verborgen, es möge doch so etwas wie ein authentisches, gelebtes Christentum
geben“. Und Schönborn fügte optimistisch hinzu: „Insgeheim wissen wir wohl, ob säkular
oder gläubig, dass hier die tragfähigen Wurzeln Europas liegen.“ Der Wiener Kardinal
sprach beim jährlichen „Michaelsempfang“ in Berlin auf Einladung der Deutschen Bischofskonferenz.
Schönborns Überlegungen zum Status quo des Christentums in Europa folgte ein hochkarätiges
Auditorium. Unter den rund 900 Gästen im Tagungszentrum der Berliner Katholischen
Akademie waren u.a. die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Bundesminister
Annette Schavan, Wolfgang Schäuble, der Apostolische Nuntius in Deutschland, Jean-Claude
Périsset, der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki und weitere deutsche Bischöfe.
Lesen Sie hier eine Zusammenfassung der Rede von Kardinal Schönborn
von der Agentur „kathpress“:
Christentum wird immer marginaler
Schönborn
begann seinen Vortrag mit einer ungeschminkten Analyse: In immer mehr Bereichen gehe
der „Mainstream“ in eine andere Richtung als das Christentum. Im Blick auf die vergangenen
40 Jahre „erscheint mir die Feststellung unausweichlich: das Christentum wird immer
marginaler“, so Schönborn. „Ich sage das nüchtern diagnostisch.“
In Österreich
sei diesbezüglich die gesetzliche Verankerung der Fristenregelung ein Markstein gewesen,
die trotz des heftigen Widerstands von Christen 1974 von der SPÖ-Alleinregierung durchgesetzt
wurde. Auf die Frage eines Journalisten an Bruno Kreisky, ob er sich nicht vorstellen
könne, dass in Österreich Menschen Probleme mit der sogenannten „Fristenlösung“ haben
könnten, habe der damalige Bundeskanzler geantwortet: „Ich kann mir vorstellen, dass
sehr, sehr religiöse Menschen damit Schwierigkeiten haben könnten“.
„Es muss
nicht sein, dass Kreisky das damals verächtlich meinte. Es war es dennoch allemal“,
sagte Kardinal Schönborn. Als viel tragischer aber bewerte er jedoch, dass Kreisky
den Widerstand gegen die Fristenregelung vor allem bei „sehr, sehr religiösen Menschen“
geortet habe. Dabei sei aus dem Blick geraten, dass der damals von Kardinal Franz
König angeführte kirchliche Widerstand nicht primär religiös begründet wurde. „Es
ging vielmehr um die Anerkennung und den gesetzlichen Schutz des menschlichen Lebens,
also um elementares Menschenrecht“, erinnerte Schönborn. Die Kirche habe hier „nicht
konfessionelles Sonderrecht, sondern vernunftbegründetes Menschenrecht“ verteidigt.
Mehrheitsprinzip hat Grenzen
Ähnliches habe sich bei
anderen ethisch brisanten Themen am Beginn und Ende des menschlichen Lebens wiederholt,
verwies der Kardinal auf die Beispiele Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik
oder die Euthanasiedebatte in vielen Ländern Europas. Immer mehr erlebten sich für
umfassenden Lebensschutz engagierte Christen als Minderheit. „In den diversen Ethikkommissionen
figurieren sie mit ihren Positionen meist unter 'ferner liefen'“, bedauerte Schönborn.
Viele Gesetzesmaterien seien kompromissfähig. Doch Papst Benedikt habe mehrmals
mit Recht darauf hingewiesen, „dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um
die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht“.
Auch die sommerliche Beschneidungsdebatte offenbare ein Abrücken von Religion,
wies der Kardinal hin. Das Recht auf körperliche Integrität habe in einer säkularen
Gesellschaft offenbar eine höhere Plausibilität. Schönborn dazu: „Man wünscht sich,
dass das Recht auf körperliche Integrität des zur Abtreibung freigegebenen Ungeborenen
mit ebensolcher Vehemenz verteidigt würde wie das Recht, über das Haben oder Nichthaben
der Vorhaut selbst entscheiden zu können.“
Wenn der gesellschaftliche Konsens
durch das gesetzgeberische Mehrheitsprinzip von den „christlichen Werten“ abrücke
und damit die Christen „nicht nur in eine Minderheitsposition, sondern auch in Gewissenskonflikte
bringt“, liegt nach den Worten Schönborns die Versuchung nahe, „sich dieser Welt anzugleichen“,
wie Paulus warnend formuliert habe. Mit seiner vieldiskutierten Aussage von der „Entweltlichung“
habe der Papst der drohenden „Verweltlichung“ der Kirche ihr Gegenstück entgegengehalten.
„Schwanken zwischen Anpassung und Abgrenzung“
Viele Christen,
„ob Gläubige oder Amtsträger, schwanken zwischen Anpassung und Abgrenzung“, so Schönborn
weiter. Benedikt XVI. ermutige die Christen heute zu einem positiven Verhältnis zur
säkularen Gesellschaft - freilich nicht im Sinne der Anpassung, wie der Wiener Erzbischof
hinzufügte. Vielmehr sollten die Christen in aller Freiheit in einer pluralistischen
Gesellschaft „das Eigene einbringen“.
Gerade in Staaten wie Deutschland oder
Österreich, die ein stark kooperatives Verhältnis zu den Kirchen hätten, sei „die
Versuchung groß, mehr auf die eigene kirchliche Institution und Organisation zu schauen,
als auf die ursprüngliche Berufung des Christen in der Welt“, räumte Schönborn ein.
Die vom Papst geforderte „Entweltlichung“ meine nicht den Rückzug aus allen Vernetzungen
der Kirche mit der zivilen Gesellschaft und dem Staat, wohl aber „ein Freierwerden
für das Eigentliche des Christentums, das Evangelium und seine Bezeugung“. Ein „verweltlichtes“
Christentum dagegen sei gerade in einer säkularen Gesellschaft „uninteressant“, so
Schönborn. „Denn 'weltlich' sein, das können die Säkularen meist besser als die Kirchlichen.“
Kardinal Schönborn kritisierte es als unzulänglich, dass der pragmatische
Nutzen der Religion oft als Argument für ihren Platz in der säkularen Gesellschaft
verwendet wird; Religion mag zwar nützlich für die Moral sein, kulturelle Werte fördern
oder soziales Verhalten stärken – „aber es ist nicht das Herz der Religion“, argumentierte
er. Dieses bestehe darin, dass Menschen an Gott glauben, weil Gott für sie „die alles
bestimmende Wirklichkeit“ sei.
„Mehr als alle Worte spricht die Tat“
Getragen von dieser Überzeugung gelte es nach dem Vorbild Papst Benedikts
die großen Worte des Glaubens - wie Glaube, Hoffnung und Liebe, Barmherzigkeit, Gnade
oder Rechtfertigung - neu leuchten zu lassen, appellierte Schönborn. „Doch mehr als
alle Worte spricht die Tat“, ergänzte er. „Vielleicht müssen wir Christen mehr darauf
vertrauen, dass die selbstlose, interessensfreie Tat des Glaubens oft mehr bewirkt
als alle noch so wichtigen gesetzgeberischen Maßnahmen.“ Er rief das Beispiel Mutter
Teresas in Erinnerung, die zum Konfliktthema Lebensschutz „die einzig überzeugende
Antwort gefunden“ habe: „Tötet sie nicht! Gebt sie mir!“
Der Kardinal schloss
seine Ausführungen mit der Überzeugung, dem „fremdgewordenen Christentum“ könnten
heutige Zeitgenossen nur um den Preis ihrer eigenen Bekehrung nahekommen. „Und die
ist ein lebenslanger Prozess und beginnt bei uns selbst.“