Welttag der Suizid-Prävention: „Pathos der Freiheit gibt es nicht“
Immer mehr ältere
Menschen, vor allem ältere Männer, nehmen sich in Deutschland selbst das Leben. Das
berichtet der Leiter der katholischen Notfallseelsorge im Erzbistum München, Andreas
Müller-Cyran, im Radio Vatikan-Wocheninterview. Am kommenden Montag, dem 10. September,
wird der Welttag der Suizid-Prävention begangen. Allein in Deutschland begehen laut
Angaben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention jährlich über 11.000 Menschen
Suizid. Von allen Selbsttötungen werden im Schnitt zwei Drittel von Männern durchgeführt.
Der Diakon Müller-Cyran gibt im Gespräch mit uns Einblick in die seelsorgliche Hilfe
für betroffene Angehörige, umreißt Ursachen der Selbsttötung und zeichnet die gesellschaftliche
Entwicklung des Phänomens in den vergangenen Jahren nach.
„Menschen, die
sich selbst das Leben nehmen, kommen aus absolut allen gesellschaftlichen Gruppen,
ich kann da keine besonderen Häufungen feststellen. Fachleute sagen, dass die Zahl
in einem ganz geringen Umfang, also kaum messbar, abnimmt. Was wir allerdings auch
feststellen, eine sehr tragische Entwicklung: dass mehr ältere Menschen, vor allem
mehr ältere Männer, sich das Leben nehmen. Gut zwei Drittel der Menschen, die sich
das Leben nehmen, sind Männer. Das scheint auch international so zu sein, dass die
Verteilung da nicht gleich ist – gerade bei der Selbsttötung haben es mit doppelt
so vielen Männern zu tun als mit Frauen.“
Welche Ursachen der Selbsttötung
begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit am häufigsten?
„Es ist so, dass es da keine
einfachen Motive gibt. Also umso einfacher, schlichter, monokausaler man sich mit
dieser Frage beschäftigt, umso falscher liegt man, das kann man ganz klar sagen.Es gibt keine Logik, nach der sich ein Mensch das Leben nimmt, sondern da spielen
ganz viele Faktoren eine Rolle, die in der Persönlichkeitsstruktur, aber auch in bestimmten
Lebensereignissen liegen. Es können psychiatrische Erkrankungen im Hintergrund eine
Rolle spielen, oft auch massive Kränkungen im Leben, also zum Beispiel Arbeitslosigkeit,
dass man von dem Partner oder der Partnerin verlassen wird, oder auch andere Formen
von Kränkungen, die dann dazu führen, dass ein Mensch sein Leben als wertlos empfindet,
über Suizid nachdenkt und sich schließlich das Leben nimmt. Immer wieder spielen auch
Suchterkrankungen eine wichtige Rolle, aber auch die sind nicht spezifisch für eine
besondere soziale Gruppierung.“
Wie viele Fälle gibt es im Raum München
pro Jahr?
„Im Stadt- und Landkreis München sind es pro Jahr ungefähr 230
Fälle, also in drei Tagen gibt es zwei Selbsttötungen, die wir in München und im Landkreis
München zu beklagen haben.“
Von jedem Suizid sind im Durchschnitt sechs
Angehörige mitbetroffen. Ihre Arbeit zielt darauf, den Hinterbliebenen zu helfen.
Wie tun Sie das?
„Mir geht es in der Betreuung darum, dass die Menschen
einen geschützten Rahmen haben, in dem sie dann über ihre Gefühle, ihre Wut, ihre
Trauer reden können. Wir stellen sehr viele Ambivalenzen fest, dieses starke Schwanken
zwischen Wut, Aggression auf den Menschen, der ihnen das angetan hat – der ja nicht
nur sich das Leben genommen hat, sondern auch ein Stück weit den Hinterbliebenen,
der Familie, das Leben nimmt – und auf der anderen Seite Trauer und dann noch sehr
stark die Schuldgefühle, die eine große Rolle spielen.“
Mit welchen Gefühlen
werden Sie in den betroffenen Familien konfrontiert?
„Zunächst geht es
darum, dass diese Menschen, wenn sie mit dem Suizid eines Angehörigen konfrontiert
werden, völlig aus ihrer Normalität herauskatapultiert sind. Die meisten Selbsttötungen
in Deutschland werden durch Strangulation durchgeführt. Das ist natürlich sehr, sehr
traumatisierend für Angehörige, wenn sie dann den Verstorbenen auffinden. Es geht
darum, dass sie Möglichkeit haben, darüber zu sprechen, dass sie sich mitteilen können,
dass sie nicht alleine sind. Was die Situation von Hinterbliebenen nach Selbsttötungen
immer sehr deutlich kennzeichnet, sind einerseits massive Schuldgefühle, also die
Frage: wäre es in meiner Macht gewesen, das zu verhindern, hätte ich das irgendwie
wahrnehmen können oder müssen? Auf der anderen Seite gibt es aber auch häufig Wut.
Denn die Art und Weise, auf die sich ein Mensch das Leben nimmt, ist nicht zufällig,
sondern häufig über Wochen oder sogar Jahre geplant und in der Fantasie durchgespielt
worden. Da steckt eine Botschaft hinter der Art und Weise, wie sich ein Mensch das
Leben nimmt. Und diese Botschaft hat mit sehr viel Gewalt, mit sehr viel Aggression
zu tun. Diese Aggression kommt dann auch bei den Hinterbliebenen an.“
Wie
hat sich das Phänomen in den vergangenen Jahren entwickelt? Gibt es gesellschaftliche
oder sogar politisch-wirtschaftliche Korrespondenzen, wenn man einmal individuelle
Faktoren ausklammert?
„Man muss da sehr vorsichtig sein, bei gesellschaftlichen
Umschwüngen allzu monokausal auf die Biographie eines konkreten Menschen zu schließen.
Und trotzdem ist es so, dass es zum Beispiel nach der Wende und in der Phase der Erweiterung
der Bundesrepublik es zu einer Intensivierung der Selbsttötungen kam. Das hat sicher
damit zu tun, dass da Weltbilder zusammenbrechen, dass die eigene Position in der
Gesellschaft nicht mehr klar ist, dass man sich ein ganz neues Lebensumfeld suchen
muss.“
„Suizid hat meiner Erfahrung nach nie diesen Pathos der
Freiheit“ Würden Sie sagen, dass in einer sehr individualistischen Gesellschaft
der Suizid verharmlost oder als Teil persönlicher Freiheit begriffen wird, zumindest
untergründig? Suizid-Foren im Internet dazu könnten ja ein Hinweis darauf sein...
„Das
ist ja kein ganz neuer Gedanke, dass der Mensch als einziges Wesen die Freiheit hat,
sich gegenüber der Tatsache seines eigenen Lebens zu verhalten. Schon in der stoischen,
also der griechischen und römischen, Philosophie gibt es da ja entsprechende Überlegungen
in dieser Fragestellung. Diese sind dann auch wieder aufgegriffen worden, besonders
prominent sicher von Jean Améry (Autor des Buches „Hand an sich legen. Diskurs über
den Freitod“, Anm. d. Red.), einem jüdischen Überlebenden des Holocaust, der KZ-Erfahrungen
machte, einen Diskurs über den ,Freitod‘ veröffentlichte und sich anschließend tatsächlich
dann selber das Leben nahm. Auf der anderen Seite muss man sehr deutlich sehen, dass
gern sehr liberalistisch argumentiert wird, eben mit Verweis auf die Freiheit des
Menschen.“
Wie stehen Sie dazu?
„Ich halte das für fatal, weil
es in der realen Situation der Selbsttötung nie den grandiosen Pathos von Freiheit
und vom selbstbestimmten Leben gibt. In der konkreten Situation sehen wir in der Notfallseelsorge
sehr, sehr, sehr viel Elend, sehr viel Unglückliches, sehr viel missglücktes Leben,
sehr viel Gescheitertes, sehr viel Trauriges auch, sehr viel Krankheit bis hin zu
psychiatrischen Erkrankungen. Also dieser Pathos der Freiheit, der von manchen Menschen
immer wieder bemüht wird, dieser Pathos ist in der Realität ganz klar nicht anzutreffen.“
Herr Müller-Cyran, am 10. September wird der Welttag der Suizid-Prävention
begangen. Was sollte Ihrer Meinung nach im Präventionsbereich verbessert werden?
„Ich
halte es auf jeden Fall für wichtig, dass wir eine Gesellschaft gestalten, in der
Leben lebenswert ist, in der auch ein Leben lebenswert ist, das nicht produktiv ist,
auch ein Leben, das nach manchen gesellschaftlichen Begriffen vielleicht nicht mehr
so wertvoll ist oder das – salopp gesagt – nicht mehr am Bruttosozialprodukt beteiligt
ist. Wir haben ja in Deutschland immer wieder die Diskussion, ob es nicht angemessen
ist, das Leben zu beenden, wenn man eine Erkrankung hat, Tumor, Alzheimer, Demenz.
Ich denke, die Gesellschaft profiliert sich nicht darüber, dass sie Menschen die Möglichkeit
einräumt, sich selber zu beseitigen, wenn sie nicht mehr ,produktiv‘ sind. Ich halte
es dagegen für viel wichtiger, dass wir eine Gesellschaft haben, in der die Würde
des Menschen im Mittelpunkt steht, gerade auch die Würde der Menschen, die ihre Fähigkeit
verlieren, zu gestalten und die krank sind.“