2012-08-21 13:35:34

Pakistan: Und wenn jemand Koranfetzen fallen lässt?


RealAudioMP3 Es klingt wie eine Meldung aus dem Mittelalter: Erregte Muslime stürzen sich auf ein Mädchen von elf Jahren und wollen es lynchen. Dem Kind, das das Down-Syndrom hat, wird vorgeworfen, den Koran bzw. den islamischen Propheten Mohammed beleidigt zu haben. Die Meldung kommt aus der pakistanischen Hauptstadt Islamabad; der Lynch-Versuch ereignete sich während des islamischen Opferfestes `id al-fitr, das den Fastenmonat Ramadan beschließt, in einem Armenviertel.

Etwa dreihundert christliche Familien sind jetzt auf der Flucht aus dem christlichen Slum von Islamabad. Berichten zufolge hatte das zu einer christlichen Familie gehörende Mädchen mehrere Seiten eines Buchs mit arabischen Schriftzeichen, möglicherweise des Koran, verbrannt. Daraufhin verprügelte eine aufgebrachte Menge das Kind, seine Mutter und eine Schwester und setzte mehrere Häuser von Christen in Brand. Präsident Asif Ali Zardari hat einen detaillierten Bericht über den Vorfall vom letzten Samstag angefordert. Nach Angaben der pakistanischen Zeitung „The Express Tribune“ vom Montag wurde Anzeige gegen den Imam der Moschee von Meharabad erstattet, weil er zur Verbrennung der Minderjährigen aufgerufen haben soll. Die kleine Rimsha Masih – ihr Nachnahme bedeutet „Christin“ – steht jetzt unter Arrest in einer Jugendanstalt von Rawalpindi, ihr droht eine Haftstrafe. Schwester Daniela Baronchelli, eine Ordensfrau aus Karatschi, berichtet:

„Wir haben gehört, dass die Kleine verhört wird und keine Antworten zu geben weiß. Man hat sie offenbar mit einer Tasche gefunden, in der Teile eines verbrannten Korans waren – aber keiner kann sagen, wer ihr diese Tasche gegeben hat oder wo sie sie hergenommen hat, keiner weiß etwas. Fundamentalisten wollten sie bei lebendigem Leib verbrennen, weil sie von einer großen Beleidigung des Korans sprechen. Leider ist das eine Situation, die immer häufiger auftritt: Die Extremisten wollen keine Christen mehr hier. Es reicht schon ein völlig nichtiger Anlass, um Revolten auszulösen.“

Der Chef der Polizeistation Qasim Niazi erklärte laut „Express Tribune“, es liefen Ermittlungen zum Hergang selbst sowie zum Alter des Mädchens und seinen Motiven. Paul Bhatti, Katholik und Regierungsberater für „Nationale Harmonie“, sagte der Zeitung, das Mädchen werde medizinisch untersucht. Zudem werde der Fall mit Religionsgelehrten unterschiedlicher islamischer Richtungen erörtert, um die Frage der Verantwortlichkeit für das Verhalten zu klären. Von dem Vorfall selbst gibt es laut der Zeitung unterschiedliche Darstellungen. Immerhin hat die Polizei diesmal nicht tatenlos danebengestanden, sondern ist eingeschritten, bevor Rimsha getötet wurde. Ein Mann mit geistiger Behinderung hatte letzten Monat nicht soviel Glück: Er wurde in der Stadt Bahawalpur im Süden Pakistans lebendig verbrannt, weil er angeblich den Koran geschändet hatte. Selbst der Papst hat letztes Jahr ausdrücklich gegen den Blasphemie-Paragraphen in Pakistans Verfassung protestiert; dieser Gesetzesartikel dient immer wieder als Handhabe gegen Angehörige der christlichen Minderheit. Zwar verbietet er offiziell die Beleidigung jeder Religion, wird aber in der Praxis bisher nur bei Herabsetzung des Islam angewandt. Zwar ist in Pakistan nie ein Todesurteil wegen Blasphemie vollstreckt worden, mehrere Angeklagte wurden aber nach ihrer Freilassung gelyncht. Schwester Daniela:

„Es geht hier nicht um den Islam, sondern lediglich um Extremisten. Allerdings weiß keiner, wie man diese Gruppen unter Kontrolle bekommen soll. Wir schaffen das nicht mit Dialog, nicht mit besonders gutem Benehmen, auch nicht indem wir ihre Feste mitfeiern, ihnen helfen oder so... Oft werden wir absichtlich provoziert: Manchmal geht sogar jemand herum und lässt Koranfetzen fallen, und kurz danach werden wir dann angeklagt. Im Fall des kleinen Mädchens ist es sehr wahrscheinlich, dass sie benutzt wurde – allerdings können wir das nicht mit Sicherheit behaupten.“

Seit Juni 2010 sitzt auch Asia Bibi immer noch in Haft: Die Christin und Mutter von fünf Kindern hatte ursprünglich die Todesstrafe riskiert, weil man ihr die Beleidigung Mohammeds vorwarf. Paul Bhatti versucht muslimische Führer dazu zu bringen, in diesen Tagen zu Ruhe und Ordnung aufzurufen. Bhattis Bruder Shahbaz, Minister für Minderheiten, war letztes Jahr von islamischen Extremisten getötet worden. Zugleich bittet Bhatti eindringlich Menschenrechtsverbände, jetzt im Fall der kleinen Rimsha keine Polemik zu machen, sondern einen moderaten Ton anzuschlagen. Hier gehe es um ein Menschenleben. Schwester Daniela:

„Ich bete zu Gott, dass er die Christen segne und ihnen in diesen so schwierigen Momenten Kraft gebe. Er möge auch die Muslime segnen, damit sie den Weg des Friedens, des Dialogs und des guten Zusammenlebens nicht verfehlen.“

Die Menschenrechtskommission der Pakistanischen Volkspartei äußerte sich besorgt über die Festnahme des Mädchens. Das Blasphemiegesetz müsse dahingehend geändert werden, dass in einem solchen Fall die religiösen Autoritäten und staatliche Behörden Untersuchungen anstellen könnten, bevor Anzeige erstattet werde oder eine Festnahme erfolge. Nach Angaben des Menschenrechtsberichts der pakistanischen Katholiken von 2011 sind im Jahr 2010 mindestens vierzig Menschen in Pakistan wegen Blasphemie angeklagt worden. Fünfzehn von ihnen seien Christen, zehn seien Muslime.

(rv 21.08.2012 sk)







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