2012-08-17 11:57:49

Polen/Russland: Gemeinsame Erklärung der Kirchen


In einer Arbeitsübersetzung geben wir den Text der Gemeinsamen Erklärung wieder, die die russisch-orthodoxe und die polnische katholische Kirche an diesem Freitag in Warschau veröffentlichen.

„Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. (2 Kor 5,19)

Gemeinsame Erklärung des Vorsitzenden der Bischofskonferenz Polens, Erzbischof Józef Michalik, und des Oberhauptes der Russisch-Orthodoxen Kirche, des Patriarchen von Moskau und ganz Russlands, Kyril; an die Nationen Polens und Russlands

Im Geist der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft unserer Kirchen und Völker und angetrieben von pastoraler Sorge, richten wir im Namen der Katholischen Kirche in Polen und der Russisch-Orthodoxen Kirche diese Botschaft der Versöhnung an die Gläubigen unserer Kirchen, an unsere Nationen und an alle Menschen guten Willens.

Die Wahrheit verkündend, dass Christus unser Friede und unsere Versöhnung ist (Eph 2:14, Röm 5:11) und eingedenk der uns im Geist des Evangeliums Christi anvertrauten Berufung wollen wir zum Werk der Annäherung zwischen unseren Kirchen und unseren Nationen unseren Beitrag leisten.

1. Dialog und Versöhnung

Unsere Brüdervölker sind nicht nur durch ihre Nachbarschaft vereint, sondern auch durch ein reiches ost- und westkirchliches Erbe. Im Wissen um diese lange historische Nachbarschaft und Tradition, die aus dem Evangelium Christi entspringt und die unsere Identität, die spirituelle Physionomie und die Kultur unserer Nationen wie auch ganz Europas beeinflußt hat, betreten wir den Weg eines ehrlichen Dialogs – in der Hoffnung, dass er dazu beitragen wird, die Wunden der Vergangenheit zu heilen, die gegenseitigen Vorurteile und Unverständnisse zu überwinden und uns bei der Suche nach Versöhnung Kraft zu geben...

Die Sünde, die die Hauptquelle aller Spaltungen ist, die menschliche Schwäche, der individuelle und kollektive Egoismus, aber auch der politische Druck haben uns untereinander entfremdet, bis hin zu offener Feindschaft und auch Kampf unter unseren Nationen. Infolge solcher Umstände hat sich als allererstes die ursprüngliche christliche Identität aufgelöst. Spaltungen und Brüche, die dem Willen Christi entgegenstehen, sind zu einem großen Skandal geworden, und darum kehren wir nun um, um unsere Kirchen und Nationen einander wieder anzunähern und um glaubwürdigere Zeugen des Evangeliums für die heutige Welt zu werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und den schmerzhaften Erfahrungen des unseren Nationen auferlegten Atheismus betreten wir heute den Weg der spirituellen und materiellen Erneuerung. Damit die eingeschlagene Richtung eingehalten wird, müssen sich zuallererst die Menschen ändern; eine solche Änderung bei den Menschen wird dann auch die Beziehungen unter Kirchen und Nationen erneuern.

Der brüderliche Dialog ist der Weg, der zu dieser Erneuerung führt. Der Dialog muss dazu verhelfen, sich besser kennenzulernen, um das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen und so zur Versöhnung zu führen. Die Versöhnung wiederum impliziert auch die Bereitschaft, die erduldeten Beleidigungen und Ungerechtigkeiten zu verzeihen. Dazu verpflichtet uns das Gebet: Vater unser, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Wir appellieren an unsere Gläubigen, um Verzeihung zu bitten für die Beleidigungen, die Ungerechtigkeiten und für alles gegenseitig angetane Unrecht. Wir sind davon überzeugt, dass das der erste und wichtigste Schritt ist, um das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen, ohne das es keine dauerhafte menschliche Gemeinschaft und keine volle Versöhnung gibt.

Natürlich bedeutet Vergeben nicht Vergessen. Die Erinnerung ist schließlich ein essentieller Teil unserer Identität. Wir schulden sie auch den Opfern der Vergangenheit, die gelitten haben und ihr Leben für die Treue zu Gott und ihrem Vaterland gegeben haben. Dennoch: Vergeben bedeutet, auf Rache und Hass zu verzichten und mitzumachen beim Bau der Eintracht und der Brüderlichkeit unter den Menschen, unter unseren Völkern und Staaten. Und das ist das Fundament für eine Zukunft in Frieden.

2. Die Vergangenheit im Licht der Zukunft

Die tragischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts haben alle Länder und Völker Europas mehr oder weniger heftig getroffen. Unsere Länder, Nationen und Kirchen wurden davon schmerzhaft in Mitleidenschaft gezogen. Das polnische und das russische Volk sind geeint durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und die Periode von Repressionen, die totalitäre Regime verursacht haben. Diese Regime, die von einer atheistischen Ideologie angetrieben wurden, bekämpften alle Formen der Religiosität und führten einen besonders grausamen Krieg gegen das Christentum und gegen unsere Kirchen. Millionen von Unschuldigen wurden geopfert, und zahllose Vernichtungs- und Grabstellen auf polnischem wie auf russischem Boden erinnern daran.

Die Geschehnisse unserer gemeinsamen Geschichte, die oft schwierig und tragisch verlief, rufen manchmal Ansprüche und gegenseitige Anschuldigungen hervor, die es nicht erlauben, die alten Wunden zu heilen.

Ein objektives Wissen um die Fakten und eine Präsentierung der Dimensionen der Tragödien und Dramen der Vergangenheit werden jetzt zu einer dringenden Aufgabe für die Historiker und die Spezialisten. Mit Dankbarkeit verfolgen wir die Arbeit der kompetenten Kommissionen und Arbeitsgruppen in unseren Ländern. Wir sind davon überzeugt, dass ihre Anstrengungen dabei helfen werden, die historische Wahrheit unverfälscht kennenzulernen, Zweifel zu klären und negative Stereotypen zu überwinden. Wir sind davon überzeugt, dass eine dauerhafte Versöhnung als Fundament einer friedlichen Zukunft nur auf der Basis der vollen Wahrheit über unsere gemeinsame Vergangenheit möglich ist.

Wir appellieren an alle, die das Gute, den dauerhaften Frieden und eine glückliche Zukunft wollen: an die Politiker, die in der Gesellschaft Engagierten, die Wissenschaftler, die Menschen der Kultur und der Kunst, die Gläubigen und die Nichtgläubigen, die Vertreter der Kirchen. Arbeitet ohne Unterlass für den Dialog, unterstützt alles, was ein erneuertes gegenseitiges Vertrauen wieder möglich macht, was die Personen einander näherbringt und den Bau einer friedlichen Zukunft für unsere Länder und Völker erlaubt, ohne Gewalt und Krieg!

3. Gemeinsam vor neuen Herausforderungen

Infolge der politischen und sozialen Umwälzungen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts haben unsere Kirchen die Möglichkeit erhalten, ihre Mission der Verkündigung des Evangeliums zu erfüllen und auch unsere Gesellschaften anhand der traditionellen christlichen Werte zu prägen. Im Lauf der Geschichte hat das Christentum einen riesigen Beitrag zur Herausbildung der geistlichen Physionomie und der Kultur unserer Nationen geleistet. Auch heute, in der Epoche religiöser Gleichgültigkeit und fortschreitender Säkularisierung, versuchen wir uns in jeder Weise zu engagieren, damit das soziale Leben und die Kultur unserer Völker nicht der grundlegenden moralischen Werte entbehren müssen, ohne die es keine Zukunft in dauerhaftem Frieden geben kann.

Die erste und wichtigste Aufgabe der Kirche aller Zeiten bleibt die Verkündigung des Evangeliums Christi. Alle Christen, nicht nur der Klerus, sonderrn auch die gläubigen Laien, sind dazu aufgerufen, das Evangelium unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus zu verkünden und die Frohe Botschaft mit Worten und mit dem Zeugnis des eigenen Lebens in den privaten, familiären, aber auch in den sozialen Bereich hineinzutragen.

Wir erkennen die Eigenständigkeit der bürgerlichen und der kirchlichen Autorität an, aber wir werben auch für eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Einsatzes für die Familie, für die Erziehung, das Sozialwesen und in anderen wichtigen Fragen, die das Wohl der Gesellschaft betreffen. Wir wollen die Toleranz stärken und vor lalem die grundlegenden Freiheiten verteidigen, an erster Stelle die Religionsfreiheit und das Recht auf die Anweisenheit der Religion im öffentlichen Leben.

Heute stehen unsere Völker vor neuen Herausforderungen. Unter dem Vorwand des Respekts vor dem Prinzip der Laizität oder der Verteidigung der Freiheit werden grundlegende moralische Prinzipien, die auf den Zehn Geboten fussen, in Frage gestellt. Abtreibung, Euthanasie, Ehe zwischen Personen desselben Geschlechts (die als eine Form der Ehe hingestellt wird) werden vorangebracht, ein konsumistischer Lebensstil wird gefördert, traditionelle Werte werden geleugnet und religiöse Zeichen aus der öffentlichen Sphäre verbannt.

Nicht zufällig erleben wir sogar offene Feindschaft gegen Christus, sein Evangelium und sein Kreuz, und dazu Versuche, die Kirche aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Eine falsch verstandene Laizität nimmt die Form des Fundamentalismus an, und sie ist in der Tat eine der Formen des Atheismus.

Wir laden alle dazu ein, die unveräußerliche Würde jedes Menschen zu achten, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist (Gen 1,27). Im Namen der Zukunft unserer Nationen erklären wir uns für den Respekt und die vErteidigung des Lebens jedes Menschen vom Moment der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Wir sind der Ansicht, dass nicht nur Terrorismus und bewaffnete Konflikte, sondern auch Abtreibung und Euthanasie eine schwere Sünde gegen das Leben und eine Schande der modernen Zivilisation ist.

Die Familie ist ein dauerhaftes Fundament jeder Gesellschaft, wenn sie auf der stabilen Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau fusst. Die Familie als eine von Gott begründete Institution (vgl. Gen 1,28; 2,23-24) verlangt Respekt und Verteidigung. Sie ist wirklich die Wiege des Lebens, ein gesundes Umfeld für Erziehung, Garantin von sozialer Stabilität und Zeichen der Hoffnung für die Gesellschaft. In der Familie reift der Mensch, wird verantwortlich für sich selbst, für die anderen und für die Gesellschaft, in der er lebt.

Mit aufrichtiger Sorge, Hoffnung und Liebe schauen wir auf die Jugendlichen, wollen sie vor der Demoralisierung bewahren und wollen sie im Geist des Evangeliums erziehen. Wir wollen den jungen Menschen zeigen, wie man Gott, den Menschen und das Vaterland liebt, und in ihnen den Geist der christlichen Kultur herausbilden, deren Früchte Respekt, Toleranz und Gerechtigkeit sein werden.

Wir sind davon überzeugt, dass der auferstandene Christus die Hoffnung nicht nur unserer Kirchen und unserer Nationen ist, sondern auch Europas und der ganzen Welt. Möge er mit seiner Gnade dafür sorgen, dass jeder Pole in jedem Russen und jeder Russe in jedem Polen einen Freund und Bruder sehen möge!

Die Polen wie die Russen hegen eine tiefe Verehrung für die Jungfrau Maria. Wir vertrauen auf die Fürsprache der Gottesmutter und vertrauen ihrem Schutz das große Werk der Versöhnung und Wiederannäherung unserer Kirchen und unserer Nationen an. Indem wir die Worte des Apostels Paulus aufgreifen „Und der Friede Christi herrsche in euren Herzen“ (Kol 3,15), segen wir alle im Namen des Vaters, des Sonhes und des Heiligen Geistes.

+ Józef + Kyrill I
Erzbischof Michalik Patriarch von Moskau
Metropolit von Przemysl und ganz Russland

Warschau, am 17. August 2012

(rv 17.08.2012 sk/ord)








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