In einer Arbeitsübersetzung geben wir den Text der Gemeinsamen Erklärung wieder,
die die russisch-orthodoxe und die polnische katholische Kirche an diesem Freitag
in Warschau veröffentlichen.
„Ja, Gott war es, der in Christus die
Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete
und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. (2 Kor 5,19)
Gemeinsame
Erklärung des Vorsitzenden der Bischofskonferenz Polens, Erzbischof Józef Michalik,
und des Oberhauptes der Russisch-Orthodoxen Kirche, des Patriarchen von Moskau und
ganz Russlands, Kyril; an die Nationen Polens und Russlands
Im Geist der Verantwortung
für die Gegenwart und die Zukunft unserer Kirchen und Völker und angetrieben von pastoraler
Sorge, richten wir im Namen der Katholischen Kirche in Polen und der Russisch-Orthodoxen
Kirche diese Botschaft der Versöhnung an die Gläubigen unserer Kirchen, an unsere
Nationen und an alle Menschen guten Willens.
Die Wahrheit verkündend, dass
Christus unser Friede und unsere Versöhnung ist (Eph 2:14, Röm 5:11) und eingedenk
der uns im Geist des Evangeliums Christi anvertrauten Berufung wollen wir zum Werk
der Annäherung zwischen unseren Kirchen und unseren Nationen unseren Beitrag leisten.
1.
Dialog und Versöhnung
Unsere Brüdervölker sind nicht nur durch ihre
Nachbarschaft vereint, sondern auch durch ein reiches ost- und westkirchliches Erbe.
Im Wissen um diese lange historische Nachbarschaft und Tradition, die aus dem Evangelium
Christi entspringt und die unsere Identität, die spirituelle Physionomie und die Kultur
unserer Nationen wie auch ganz Europas beeinflußt hat, betreten wir den Weg eines
ehrlichen Dialogs – in der Hoffnung, dass er dazu beitragen wird, die Wunden der Vergangenheit
zu heilen, die gegenseitigen Vorurteile und Unverständnisse zu überwinden und uns
bei der Suche nach Versöhnung Kraft zu geben...
Die Sünde, die die Hauptquelle
aller Spaltungen ist, die menschliche Schwäche, der individuelle und kollektive Egoismus,
aber auch der politische Druck haben uns untereinander entfremdet, bis hin zu offener
Feindschaft und auch Kampf unter unseren Nationen. Infolge solcher Umstände hat sich
als allererstes die ursprüngliche christliche Identität aufgelöst. Spaltungen und
Brüche, die dem Willen Christi entgegenstehen, sind zu einem großen Skandal geworden,
und darum kehren wir nun um, um unsere Kirchen und Nationen einander wieder anzunähern
und um glaubwürdigere Zeugen des Evangeliums für die heutige Welt zu werden.
Nach
dem Zweiten Weltkrieg und den schmerzhaften Erfahrungen des unseren Nationen auferlegten
Atheismus betreten wir heute den Weg der spirituellen und materiellen Erneuerung.
Damit die eingeschlagene Richtung eingehalten wird, müssen sich zuallererst die Menschen
ändern; eine solche Änderung bei den Menschen wird dann auch die Beziehungen unter
Kirchen und Nationen erneuern.
Der brüderliche Dialog ist der Weg, der zu dieser
Erneuerung führt. Der Dialog muss dazu verhelfen, sich besser kennenzulernen, um das
gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen und so zur Versöhnung zu führen. Die Versöhnung
wiederum impliziert auch die Bereitschaft, die erduldeten Beleidigungen und Ungerechtigkeiten
zu verzeihen. Dazu verpflichtet uns das Gebet: Vater unser, vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Wir appellieren an unsere Gläubigen,
um Verzeihung zu bitten für die Beleidigungen, die Ungerechtigkeiten und für alles
gegenseitig angetane Unrecht. Wir sind davon überzeugt, dass das der erste und wichtigste
Schritt ist, um das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen, ohne das es keine dauerhafte
menschliche Gemeinschaft und keine volle Versöhnung gibt.
Natürlich bedeutet
Vergeben nicht Vergessen. Die Erinnerung ist schließlich ein essentieller Teil unserer
Identität. Wir schulden sie auch den Opfern der Vergangenheit, die gelitten haben
und ihr Leben für die Treue zu Gott und ihrem Vaterland gegeben haben. Dennoch: Vergeben
bedeutet, auf Rache und Hass zu verzichten und mitzumachen beim Bau der Eintracht
und der Brüderlichkeit unter den Menschen, unter unseren Völkern und Staaten. Und
das ist das Fundament für eine Zukunft in Frieden.
2. Die Vergangenheit
im Licht der Zukunft
Die tragischen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts
haben alle Länder und Völker Europas mehr oder weniger heftig getroffen. Unsere Länder,
Nationen und Kirchen wurden davon schmerzhaft in Mitleidenschaft gezogen. Das polnische
und das russische Volk sind geeint durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und
die Periode von Repressionen, die totalitäre Regime verursacht haben. Diese Regime,
die von einer atheistischen Ideologie angetrieben wurden, bekämpften alle Formen der
Religiosität und führten einen besonders grausamen Krieg gegen das Christentum und
gegen unsere Kirchen. Millionen von Unschuldigen wurden geopfert, und zahllose Vernichtungs-
und Grabstellen auf polnischem wie auf russischem Boden erinnern daran.
Die
Geschehnisse unserer gemeinsamen Geschichte, die oft schwierig und tragisch verlief,
rufen manchmal Ansprüche und gegenseitige Anschuldigungen hervor, die es nicht erlauben,
die alten Wunden zu heilen.
Ein objektives Wissen um die Fakten und eine Präsentierung
der Dimensionen der Tragödien und Dramen der Vergangenheit werden jetzt zu einer dringenden
Aufgabe für die Historiker und die Spezialisten. Mit Dankbarkeit verfolgen wir die
Arbeit der kompetenten Kommissionen und Arbeitsgruppen in unseren Ländern. Wir sind
davon überzeugt, dass ihre Anstrengungen dabei helfen werden, die historische Wahrheit
unverfälscht kennenzulernen, Zweifel zu klären und negative Stereotypen zu überwinden.
Wir sind davon überzeugt, dass eine dauerhafte Versöhnung als Fundament einer friedlichen
Zukunft nur auf der Basis der vollen Wahrheit über unsere gemeinsame Vergangenheit
möglich ist.
Wir appellieren an alle, die das Gute, den dauerhaften Frieden
und eine glückliche Zukunft wollen: an die Politiker, die in der Gesellschaft Engagierten,
die Wissenschaftler, die Menschen der Kultur und der Kunst, die Gläubigen und die
Nichtgläubigen, die Vertreter der Kirchen. Arbeitet ohne Unterlass für den Dialog,
unterstützt alles, was ein erneuertes gegenseitiges Vertrauen wieder möglich macht,
was die Personen einander näherbringt und den Bau einer friedlichen Zukunft für unsere
Länder und Völker erlaubt, ohne Gewalt und Krieg!
3. Gemeinsam vor neuen
Herausforderungen
Infolge der politischen und sozialen Umwälzungen
am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts haben unsere Kirchen die Möglichkeit erhalten,
ihre Mission der Verkündigung des Evangeliums zu erfüllen und auch unsere Gesellschaften
anhand der traditionellen christlichen Werte zu prägen. Im Lauf der Geschichte hat
das Christentum einen riesigen Beitrag zur Herausbildung der geistlichen Physionomie
und der Kultur unserer Nationen geleistet. Auch heute, in der Epoche religiöser Gleichgültigkeit
und fortschreitender Säkularisierung, versuchen wir uns in jeder Weise zu engagieren,
damit das soziale Leben und die Kultur unserer Völker nicht der grundlegenden moralischen
Werte entbehren müssen, ohne die es keine Zukunft in dauerhaftem Frieden geben kann.
Die
erste und wichtigste Aufgabe der Kirche aller Zeiten bleibt die Verkündigung des Evangeliums
Christi. Alle Christen, nicht nur der Klerus, sonderrn auch die gläubigen Laien, sind
dazu aufgerufen, das Evangelium unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus zu verkünden
und die Frohe Botschaft mit Worten und mit dem Zeugnis des eigenen Lebens in den privaten,
familiären, aber auch in den sozialen Bereich hineinzutragen.
Wir erkennen
die Eigenständigkeit der bürgerlichen und der kirchlichen Autorität an, aber wir werben
auch für eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Einsatzes für die Familie, für die
Erziehung, das Sozialwesen und in anderen wichtigen Fragen, die das Wohl der Gesellschaft
betreffen. Wir wollen die Toleranz stärken und vor lalem die grundlegenden Freiheiten
verteidigen, an erster Stelle die Religionsfreiheit und das Recht auf die Anweisenheit
der Religion im öffentlichen Leben.
Heute stehen unsere Völker vor neuen Herausforderungen.
Unter dem Vorwand des Respekts vor dem Prinzip der Laizität oder der Verteidigung
der Freiheit werden grundlegende moralische Prinzipien, die auf den Zehn Geboten fussen,
in Frage gestellt. Abtreibung, Euthanasie, Ehe zwischen Personen desselben Geschlechts
(die als eine Form der Ehe hingestellt wird) werden vorangebracht, ein konsumistischer
Lebensstil wird gefördert, traditionelle Werte werden geleugnet und religiöse Zeichen
aus der öffentlichen Sphäre verbannt.
Nicht zufällig erleben wir sogar offene
Feindschaft gegen Christus, sein Evangelium und sein Kreuz, und dazu Versuche, die
Kirche aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Eine falsch verstandene Laizität
nimmt die Form des Fundamentalismus an, und sie ist in der Tat eine der Formen des
Atheismus.
Wir laden alle dazu ein, die unveräußerliche Würde jedes Menschen
zu achten, der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist (Gen 1,27).
Im Namen der Zukunft unserer Nationen erklären wir uns für den Respekt und die vErteidigung
des Lebens jedes Menschen vom Moment der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Wir sind
der Ansicht, dass nicht nur Terrorismus und bewaffnete Konflikte, sondern auch Abtreibung
und Euthanasie eine schwere Sünde gegen das Leben und eine Schande der modernen Zivilisation
ist.
Die Familie ist ein dauerhaftes Fundament jeder Gesellschaft, wenn sie
auf der stabilen Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau fusst. Die Familie
als eine von Gott begründete Institution (vgl. Gen 1,28; 2,23-24) verlangt
Respekt und Verteidigung. Sie ist wirklich die Wiege des Lebens, ein gesundes Umfeld
für Erziehung, Garantin von sozialer Stabilität und Zeichen der Hoffnung für die Gesellschaft.
In der Familie reift der Mensch, wird verantwortlich für sich selbst, für die anderen
und für die Gesellschaft, in der er lebt.
Mit aufrichtiger Sorge, Hoffnung
und Liebe schauen wir auf die Jugendlichen, wollen sie vor der Demoralisierung bewahren
und wollen sie im Geist des Evangeliums erziehen. Wir wollen den jungen Menschen zeigen,
wie man Gott, den Menschen und das Vaterland liebt, und in ihnen den Geist der christlichen
Kultur herausbilden, deren Früchte Respekt, Toleranz und Gerechtigkeit sein werden.
Wir
sind davon überzeugt, dass der auferstandene Christus die Hoffnung nicht nur unserer
Kirchen und unserer Nationen ist, sondern auch Europas und der ganzen Welt. Möge er
mit seiner Gnade dafür sorgen, dass jeder Pole in jedem Russen und jeder Russe in
jedem Polen einen Freund und Bruder sehen möge!
Die Polen wie die Russen hegen
eine tiefe Verehrung für die Jungfrau Maria. Wir vertrauen auf die Fürsprache der
Gottesmutter und vertrauen ihrem Schutz das große Werk der Versöhnung und Wiederannäherung
unserer Kirchen und unserer Nationen an. Indem wir die Worte des Apostels Paulus aufgreifen
„Und der Friede Christi herrsche in euren Herzen“ (Kol 3,15), segen wir alle
im Namen des Vaters, des Sonhes und des Heiligen Geistes.
+ Józef + Kyrill
I Erzbischof Michalik Patriarch von Moskau Metropolit von Przemysl und
ganz Russland