2012-08-05 10:10:47

„Menschen in der Zeit“: Alfons Nossol – 80 Jahre


RealAudioMP3 „Ich wollte eigentlich nicht Bischof werden“, bekennt der emeritierte Erzischof von Oppeln: Es ist der bekannte Theologe und einer der bedeutendsten Ökumeniker weltweit, Alfons Nossol. Dennoch hat Nossol während seines 32-jährigen Dienstes als Oberhirte Unglaubliches geleistet, er hat 71 neue Pfarreien gegründet, über hundert Kirchen und Kapellen errichten lassen und 527 Priester geweiht. Der Erzbischof (Jahrgang 1932) war Leiter der polnisch-oberschlesischen Diözese Oppeln. Als Theologe und Ökumeniker hat er sich einen beachtlichen Ruf erworben. Prägend für sein Wirken war die polnische Freiheitsbewegung „Solidarnosc“ und vor allem der Dienst der Versöhnung zwischen den Völkern und Konfessionen. In diesem Beitrag erzählt er offen über sein Leben und seinen Dienst als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland, zwischen Katholiken, Protestanten und Orthodoxen sowie zwischen Rom und Warschau. Unter den zahlreichen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, schätzt Nossol die Brüsseler „Auszeichnung für Euopa“ ganz besonders. Er selbst bezeichnet sich als einen einfachen Mann der Kirche Christi.


*Herr Erzbischof, Sie sprechen Deutsch und Polnisch von Jugend auf – und natürlich den schlesischen Dialekt. Welches Idiom ist Ihre Sprache des Herzens ?

„Sowohl als auch: Wissen Sie, eigentlich alle diese drei Sprachen liegen mir. Es hängt davon ab, wie die Situation es manchmal erzwingt. Dann geht es von einer Sprache auf die andere über.“

*Was bedeutete für Sie und Ihre Familie – die ja zu den ‘Daheimgebliebenen’ zählte –die Erfahrung einer von außen auferzwungenen Identität ?

„Ja, das war nicht einfach, wissen Sie. Man musste nach 1945 total umschalten. Die russischen Truppen sind in unserem Heimatdorf am Fest des hl. Josef, dem 19.3.1945, einmarschiert – und da begann die totale Umwandlung. Auf diese Weise hat man anfangs natürlich alles in Deutsch gemacht, die Gebete hatte man immer auf Deutsch gelernt, und langsam ist man dann in die polnische Sprache hineingewachsen.“

*Wie definieren Sie den Begriff Heimat? Was bedeutet Verlust der Heimat im
allgemeinen?

„Ja, das ist sehr wichtig. Die deutsche Sprache hat diesen Begriff so stark zu umschreiben versucht und ihn geprägt. Heimat ist dort, wo man zum ersten Mal den Himmel überblickt. Mit der Heimat ist so vieles verbunden... Und deswegen ist die Heimat etwas Großartiges. In der polnischen Sprache gibt es den Begriff Heimat nicht. Man pflegt Heimat zu umschreiben als das „kleine Vaterland“. Mir persönlich besagt der Begriff ernorm viel. Ich kann kann gut verstehen, was es bedeutet, wenn jemanden die Heimat auf diese oder andere Weise geraubt wird.“

*Ist es der deutschen Minderheit in Polen gelungen, die Bewahrung ihrer Identität beizubehalten, zu fördern?

„Weitgehend ist das der Fall. Langsam werden die rechtlichen Voraussetzungen der Minderheiten in Europa auch bei uns in Polen sehr realistisch betrachtet, und wer sich darum bemüht hat, der könnte eigentlich in dieser Sicht zufrieden sein. Natürlich, was die Schule betrifft, da hapert es immer noch. Man hat von vornherein das Gebiet der Kultur zu wenig ernst genommen; man wollte um jeden Preis „up to date“ sein, und so hat man diese wichtigste Komponente der Kultur etwas zu wenig ernst genommen.“

*Werden die Schlesier vom polnischen Staat als Polen zweiter Klasse behandelt?

„Anfangs war dies der Fall, heute eigentlich weniger. Hie und da ist es immer noch so, denn die sogenannten Radikalinskis, die nationalistisch, fast chauvinistisch eingeengt sind, die findet man überall. Aber im Großen und Ganzen ist es heute so, dass man nicht abgestempelt wird.“

*Sind in den heutigen deutsch-polnischen Beziehungen noch mögliche Minenfelder zu erkennen?

„In der Zwischenzeit ist es enorm menschlicher geworden. Es gab ja Zeiten, in denen man miteinander lebte... und dann ist die tragische Kriegszeit angebrochen, wo man gegeneinander lebte! Wo man ideologisch-politisch aufgehetzt wurde. Heute leben wir nicht nur nebeneinander, sondern füreinander in einem gemeinsamen Europa, einem Europa, das eine Gemeinschaft des Geistes, eine Werte- und Kulturgemeinschaft zu sein hat.“

*Welche kulturelle, politische und gesellschaftliche Funktion erfüllt die deutsche Volksgruppenminderheit in Schlesien heute zwischen Deutschland und Polen?

„Sie ist eine Brücke, auch zwischen Ost- und West. Und sie ist ein wichtiger Faktor sowohl auf dem Gebiet der Aussöhnung wie auf dem Gebiet der Versöhnung. Denn wir unterscheiden: Aussöhnung ist etwas Horizontales, die Versöhnung ist ein vertikales Anliegen. Es gibt keine echte Versöhnung ohne Gnade, weil es eine echte Versöhnung nicht ohne Vergebung geben kann.“

*Ihre Hinwendung zur deutschen Sprache und Kultur ist eindeutig: War für Sie diese Haltung eine Chance oder ein Hindernis auf Ihrem Lebensweg?

„Eine Chance. Man ist weitsichtiger und menschlicher und kann dadurch das Anderssein tiefer begreifen. Es ist etwas zutiefst Schlesisches: Das Anderssein ist nicht gleichbedeutend mit dem Verzeihen. Mit dem Anderssein kann man sich gegenseitig bereichern. Es kann zum wahren Austausch kommen. Im anderen Teil Polens ist dies nicht der Fall, weil oftmals das Anderssein mit dem Fremdsein gleichgesetzt wird. Wir pflegen hier – geschichtlich gesehen – immer zu unterscheiden: Anderssein, nicht Fremdsein.“

* Wir sprachen vorher von Europa: Sie sind gebürtig aus einem Grenzland, das die schweren Zeiten des Nationalismus besonders dramatisch zu spüren bekam. Was bedeuten für Sie in diesem Zusammenhang Europa und die EU ?

„Ganz konkret gesagt: Europa – Mittel- und Osteuropa – ist für uns das beste und konkreteste Antidotum gegen jedwede nationale und ethnische Einengung.“


*Als gebürtiger Oberschlesier gelten Sie seit Jahrzehnten als Brückenbauer zwischen Polen und Deutschland. Die Meilensteine auf diesem Weg der Versöhnung lauten?

„Erstens: Mut. Man muss aus der Reihe tanzen können – und das verlangt Mut. Zweitens Demut. Ich allein kann es nicht schaffen, ich muss mir helfen, ich muss mich belehren lassen. Und da braucht man eben Demut. Und schließlich kommt alles auf die Langmut an. Ich habe dies einmal dem früheren Bundeskanzler Kohl gesagt, und er hat mir dann noch den vierten Schritt beigebracht: Nach Mut, Demut und Langmut kommt noch Helmut dazu!“ (lacht)

*Als Brückenbauer werden Sie auch auf dem Gebiet der Ökumene genannt: Wie lautet Ihre ökumenische Grundformel?

Wir alle – Christen, die aus dem großen Dreieck der Christenheit kommen, ob römisch-katholisch, ost-reformatorisch oder orthodox – bedürfen noch weit mehr der katholischen Weite und Breite, der evangelischen Tiefe des Wort Gottes und der orientalisch-orthodoxen Dimension des Heiligen Geistes. „In spiritu“ – das ist so wichtig. Und deswegen dürfen wir uns auf diesem Gebiet gemeinsam ergänzen, um noch katholischer - im Sinne von allemfassend – zu werden.“

*Welche kirchliche, welche weltliche Gestalt hat Sie in Ihrem Leben am meisten geprägt?

„Für mich sind die Päpste unseres Jahrunderts sehr exemplarischen Menschen geworden, die bemüht waren, das Christentum nicht nur ernst zu nehmen, sondern es auch auszulegen. Alle Päpste dieses Jahrhunderts haben mir persönlich enorm viel gegeben. Sie haben mich in das Wesen des Christentums und auch der katholischen Kirche eingeführt. Ich konnte vieles von ihnen lernen. Was mir leid tut, ist, dass Paul VI. etwas in Vergessenheit geraten ist: Er war einer der größten Päpste – ohne ihn hätten wir die Ergebnisse des II. Vatikanums nicht so konkret und klar zu spüren bekommen. Und dann Johannes Paul II. Seine Lehre von der Zivilisation der Liebe (aber damit hat eigentlich schon Paul VI. begonnen)... Und dann nach dem Papst aus Polen ein Papst aus Deutschland! Nichts Größeres, Freudvolleres hätte in meinem Christsein und katholischen Leben passieren können – Im Sinne der wahren Versöhnung und Aussöhnung. Für mich ist diese Papstwahl ein konkreter Fingerzeig des Himmels.“

*Die Wahl eines polnischen Kardinals zum Oberhaupt der katholischen Kirche, d.h. die Wahl Johannes Paul II., hatte für den polnischen Widerstand gegen den Kommunismus zweifellos eine herausragende Bedeutung. Hing damit auch der Zusammenbruch des gesamten sowjetischen Politsystems, das Ende des Kalten Krieges zusammen?

„Ohne weiteres. Den ersten Stein aus der Berliner Mauer hat Johannes Paul II. gezogen. Und Gorbatschow hat es erlaubt... hat es zur Kenntnis genommen. Ohne diese zwei Menschen wäre es nicht so einfach zur deutschen Einheit, zum Umbruch gekommen. Das, was damals geschehen ist in diesem „annus mirabilis“, war etwas so Großartiges! Ich erlebte auf diese Weise auch das große Geschenk der Freiheit und bin mir bewußt, auch heute sind wir noch auf dem Weg, um frei zu werden.“

*Sie haben im Jahr der Wende 1989 auf dem Annaberg – dem Heiligen Berg Oberschlesiens – den 1. Gottesdienst seit Kriegsende in deutscher Sprache gehalten. Wie reagierte auf diese Mutprobe die polnische Regierung, und wie reagierte darauf die offizielle Kirche?

„Was die offizielle Kirche angeht - das habe ich alles mit Papst Johannes Paul II. abgesprochen. Schuld daran, das habe ich ihm auch ganz offen und ehrlich gesagt, war seine Friedensbotschaft von 1989: „Achtung der Minderheiten – ein Weg zum Frieden“. Ich sagte:“Heiliger Vater, etwas Großartiges! Darauf habe nicht nur ich, sondern darauf haben viele von uns gewartet. Und das hat mir auch Mut gemacht!“ Und ich fügte hinzu: „Aber wissen Sie, schön gesagt – aber das im Alltag zu realisieren, ist nicht so einfach, besonders bei uns in Oberschlesien.“ Darauf antwortete er: „Damit muß man einmal beginnen, du darfst dich ruhig auf mich berufen!“ Ich habe dies bei der Plenarsitzung der Bischofskonferenz auch so weitergegeben, aber fast alle Bischöfe haben abgeraten: Warten, warten, die Zeit ist noch nicht reif! Es könnte zu Schwierigkeiten kommen mit dem Regime.Ich sagte: Ja, aber das ist eine Friedensbotschaft, und sie fußt auf der Frohbotschaft des Evangeliums! Dadurch können wir die Drohbotschaften der zeitgenössischen Ideologien überwinden.“

*Durch Papst Paul VI. wurden Sie zum Bischof geweiht, Papst Johannes Paul II. hat Ihnen den Ehrentitel eines Erzbischofs ad personam verliehen. Womit war das begründet?

„Mit dem ökumenischen Wirken. Weil ich schon lange in der Ökumene tätig war, in der großen Dialog-Komission auf Weltebene zwischen der katholischen Kirche und den lutherischen Kirchen, 17 Jahre lang. Und von Anfang an, seit 1980, bin ich auch in der großen Dialog-Komission mit den orthodoxen Kirchen und habe bei uns zu Hause in der Diözese Oppeln zweimal die Plenarsitzung geleitet. Deswegen war für mich die Ökumene-Enzyklika „Ut unum sint“ von 1995 etwas so Großartiges. Die Ökumene ist ein Imperativ des christlichen Gewissens! Wenn man die deutsche Kultur, die deutsche Philosophie kennt, dann weiß man, was ein Imperativ zu besagen hat. Ich bin überzeugt: Man kann heute ohne die ökumenische Öffnung eigentlich nicht zutiefst Christ sein. Ja, ich hänge sehr an der Kraft und Macht des Dialogs; der Dialog ist für mich nämlich die Muttersprache der Menschheit. Denn er hilft, aus Feinden Gegner zu machen, und hilft dann auch dabei, Gegner schließlich in Freunde umzuwandeln. Der Christ muss von Natur aus ein Dialogmensch sein!“

*Über 1000 Jahre lang bildete die römisch-katholische Kirche ein mächtiges Element der polnischen Identität. Hat sich darin in den letzten Jahren etwas geändert?

„Die Säkularisierungswelle hat auch uns erreicht. Und weil es bei uns immer schon etwas emotionaler zugeht, war dies auch erkennbarer und hatte auch konkretere Folgen. Wir müssen uns daran gewöhnen. Ich pflegte immer meinen Studenten an den Lehranstalten, wo ich tätig war, zu sagen: An der ganzen Säkularisierung ist der liebe Gott selbst schuld. Er hat seinen Sohn in die Welt hinein gegeben, um die Welt zu erlösen. Die Zeit ist die Vergeschichtlichung, Verzeitlichung auch des ewigen Gottes. Wir haben an der Säkularisierung auch zu leiden, aber andererseits müssen wir uns an die Säkularisierung gewöhnen. Man ist – auch in der Kirche – in die zeitgenössische Epoche quasi hineingeworfen worden, und wir müssen bemüht sein, die Welt nicht immer zu sakralisieren; wir müssen sie allerdings zu sanktifizieren versuchen. Sakralisation kann manchmal auch eine gewisse Dosis Ideologie enthalten. Also: „Non sacrificatio sed sanctificatio mundi“– das ist unsere Aufgabe!“

*Sie sind u.a. ein exzellenter Prediger. Herr Erzbischof – was ist eine gute Predigt?

„Das Wort treu zu verkünden und es verstehbar für den Menschen zu gestalten versuchen. Natürlich, jede Predigt muss gut vorbereitet werden. Und der Heilige Geist muss zur Hilfe herangezogen werden. Meine Devise seit vielen, vielen Jahren: Wenn ich frühmorgens aufwache, mache ich eine Kniebeuge und rufe drei Mal: „Veni sancte spiritus“. Das hilft in so vielen Anliegen! Die Bedeutung dieser pneumatologischen Dimension habe ich auch durch die Ökumene von den orientalischen Kirchen zu konkretisieren gelernt. Man muss eine Predigt zu einem Wort Gottes zu gestalten versuchen. Aus eigener Kraft gelingt nichts. Da muss der Heilige Geist immer mit dabei sein. Wir müssen uns auch von ihm tragen lassen. Aber die Grundvoraussetzung für eine gute Predigt ist ein tiefes Sichhineinlesen in die biblischen Texte.

Aldo Parmeggiani, Radio Vatikan








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