Missbrauchsprävention: „Viele Länder hinken noch hinterher“
Das Internationale
Symposium zu kirchlichem Missbrauch, das im Februar in Rom Vertreter des Vatikan,
Psychologen, Rechtsexperten und Ordensvertreter versammelte, war für viele Bischofskonferenzen
der Welt ein „Augenöffner“. Das betont Pater Hans Zollner, Direktor des Instituts
für Psychologie an der päpstlichen Universität Gregoriana. Fünf Monate nach der Tagung
berichtet Zollner im Gespräch mit Radio Vatikan von ersten Zwischenergebnissen der
kirchlichen Missbrauchsprävention. Zugleich benennt der Jesuit im Interview mit Anne
Preckel klar die Probleme und „Baustellen“ im Kampf gegen Missbrauch.
„Speziell,
was folgende Fragen angeht, müssen wir sicherlich noch nachlegen: der Umgang mit Opfern,
der Umgang mit kirchlichen Verantwortlichen, die nicht den Leitlinien, die die Bischofskonferenz
eingeführt hat, folgen. Was natürlich auch Konsequenzen hat für rechtliche Fragen
im Umgang mit Bischöfen, mit Oberen, die sich nicht an das halten, was eigentlich
Vorschrift ist.“ „Symposium war für viele ein Augenöffner“ Welche
Wirkung hat denn das Symposium in den verschiedenen Ländern bisher gezeigt, können
Sie Beispiele nennen?
„Zum Beispiel wollte die nigerianische Bischofskonferenz
in Nordwestafrika, dass wir eine Neuauflage des Symposiums für die Bischofskonferenz
dort organisieren. Oder in Zentralamerika hat man eine Nachfolgekonferenz zu diesem
Symposium organisiert. Wir haben gehört, dass die indischen Jesuitenprovinzen – das
sind immerhin 20 – sich in einer Initiative zusammengeschlossen haben im Anschluss
an das Symposium und sich auch sehr stark in die Richtung eines stärkeren Engagements
für Kinderrecht zum Beispiel bewegen. Ein großes Fragezeichen ist der ganze Kontinent
Afrika. Dort sind Fragen nach Kinderrechten zwar vielleicht auf dem Papier vorhanden,
aber de facto doch sehr weit weg von der Realität.“
Die Gregoriana richtet
ja in Zusammenarbeit mit dem Ulmer Klinikum Kinder- und Jugendpsychologie und der
Erzdiözese München-Freising eine „E-Learning-Plattform“ zur Missbrauchsprävention
ein, die noch in der Testphase ist. Ihre Mitarbeiter haben sich dafür jetzt in Indien
und Indonesien umgesehen. Ist Missbrauchsprävention in der Kirche dort ein Thema?
„In
Indien und Indonesien gab es große Bereitschaft von Seiten der Jesuitenprovinzen,
die mit uns zusammenarbeiten wollen. Es ist erschreckend zu hören, wie hoch die Missbrauchszahlen
im familiären Kontext in Indien und in Indonesien sind und wie hoch die ,Schweigepflicht‘
sozusagen innerhalb der Familien ist. Es ist ein unglaubliches Tabu, es darf nicht
darüber gesprochen werden, Dass Väter, Brüder, Onkel, Großväter usw. Kinder und Jugendliche
in diesen Ländern missbrauchen. Das ist eines der wichtigsten Dinge, auf die wir uns
einstellen müssen, dass die Missbrauchszahlen in diesen Ländern viel höher sind, als
wir das erwarten und viel höher, als es auch zugegeben wird in diesen Ländern, speziell
auch im familiären Kontext. Und dass das natürlich auch unglaubliche Widerstände hervorrufen
wird, wenn wir dieses Thema auch als Kirche thematisieren.“
Wie muss man
sich denn die Internet-Lernplattform konkret vorstellen?
„Hier geht es
nicht um die Betreuung von Opfern – rein kräftemäßig kann das auch nicht unsere Aufgabe
sein. Wir wollen für Prävention, für eine bessere Vorbeugung von Missbrauch arbeiten.
Und in den nächsten noch zweieinhalb Jahren werden wir eben mit einem Team ein wissenschaftlich
stringentes und validiertes Programm anbieten, mit dem sich in drei Jahren Diözesen,
Pfarreien, katholische Schulen weltweit in 30 Stunden Lernprogramm darüber informieren
können: Was ist Missbrauch, und wie erkenne ich, dass ein Kind vielleicht missbraucht
wird? Was ist die Gesetzgebung in meinem Land, was ist die Gesetzgebung der Kirche?
Was muss ich tun, um einen Missbrauchstäter anzuzeigen oder ihn zu stellen, wie kann
ich selber damit umgehen, wenn ich erfahre, dass jemand missbraucht worden ist?“
„Missbrauchsprävention
ist für viele noch ein Fremdwort“ Nur knapp die Hälfte aller nationalen
Bischofskonferenzen hat die vom Vatikan geforderten Leitlinien zur Missbrauchsprävention
bisher erarbeitet, dabei ist die Frist dafür bereits abgelaufen. Welche Probleme hat
es da wohl gegeben?
„Die wichtigste Frage ist natürlich: Wo steht ein Land,
wo steht eine Ortskirche in der Diskussion über Missbrauch und über mögliche gesellschaftliche,
politische, moralische Implikationen dieser Fragen. Und man muss einfach sagen, dass
nach 25 Jahren der intensiven Diskussion in Westeuropa und in Nordamerika zum Beispiel
selbst in Südeuropa oder in Osteuropa diese Diskussion bei Weitem noch nicht angekommen
ist, ganz zu schweigen von Kontinenten wie Afrika und vielen Ländern Asiens. Wobei
man bei Asien auch unterscheiden muss: Manche Länderwie die Philippinen oder wie Thailand
sind – wegen des ganzen Sextourismus dort – schon deutlich weiter als andere Länder,
in denen das Thema auch aus gesellschaftlichen und philosophischen Gründen ganz wenig
öffentlich diskutiert werden kann. Das Paradebeispiel ist Südkorea: Mit dieser konfuzianischen
Philosophie, die da im Hintergrund einer Gesellschaftsordnung steht, ist es schier
unmöglich, ein Tabuthema wie sexuellen Missbrauch in Familie, in Gesellschaft, in
Kirche überhaupt anzusprechen.“
Und wie kann der Heilige Stuhl und die
Glaubenskongregation mit solchen Unterschieden umgehen?
„Unser Symposium
im Februar hier an der Gregoriana war ja auch gedacht als Hilfestellung für diese
Bischofskonferenzen, die da noch weit hinterherhinken. Aber innerhalb von ein paar
Monaten schaffen das einige Bischofskonferenzen auch wegen ihrer ungenügenden Organisation
diesbezüglich kaum, so einen Text vorzulegen. Aber die Glaubenskongregation ist ja
gerade dabei, einen ,Mahnbrief‘ zu erstellen, Monsignor Scicluna hat darauf im Interview
mit der Zeitschrift ,Jesus‘ verwiesen. Sie werden also sehr stark darauf drängen,
dass mehr Bischofskonferenzen ihre Leitlinien einreichen. Die Leitlinien müssen dann
noch einmal in der Glaubenskongregation überprüft werden. Aber das ist ein Prozess,
der sicher nicht aufgehalten wird. So wie wir die Glaubenskongregation in den letzten
Jahren erlebt haben, werden die da sicher nachhaken und auch konkret Hilfestellung
leisten, wo es eventuell notwendig ist.“ „Vatikanische Missbrauchsabteilung
ist in letzten Jahren deutlich gewachsen“ Die Leitlinien werden also zunächst
in der Glaubenskongregation geprüft, das kann laut Monsignor Scicluna bis zu ein Jahr
dauern. Würden Sie sagen, dass solche zeitlichen Abläufe – von den Regeln bis zu ihrer
Anwendung – vorzeigbar sind? Oder sollte man die noch beschleunigen?
„Man
könnte da immer nachbessern. Man bräuchte mehr Mitarbeiter, aber die Glaubenskongregation,
beziehungsweise die Abteilung, die sich mit den Missbrauchsfragen beschäftigt, ist
schon deutlich gewachsen in den letzten Jahren. Wenn wir auf gesellschaftliche und
politische Rechtsprechungsprozesse und Gesetzgebungsprozesse schauen: die gehen ja
auch nicht von heute auf morgen, es muss ja alles gut überlegt werden, und es soll
dann auch gut umgesetzt werden. Der Punkt ist ja der: Die katholische Kirche muss
auf die Rechtsprechung in vielleicht 200 Ländern eingehen! Das ist ja nicht so, dass
es nur um eine deutsche, eine österreichische, eine schweizerische und eine italienische
Rechtsprechung geht. Sondern es geht darum, dass die Kirche jeweils in einem gesellschaftlichen,
in einem Gesetzgebungsumfeld eines Land agiert, das überhaupt nicht dem entspricht,
was wir Europäer uns zum Beispiel vorstellen.“
„Thema Anzeigepflicht
ist komplex“
Auch in Europa sind die Gesetze ja schon unterschiedlich,
was den Kampf gegen Missbrauch angeht. Beispiel Anzeigepflicht: die gibt es in Frankreich,
aber zum Beispiel nicht in Italien und Deutschland. Wie kann Missbrauchsprävention
gelingen, wenn es keine Anzeigepflicht gibt?
„Naja, also in Deutschland
war ja die Diskussion unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Jahr
2010 so, dass die Bundesjustizministerin unbedingt darauf gedrängt hat, dass es eine
Anzeigepflicht geben sollte in Deutschland. Wer waren die Hauptgegner einer solchen
Anzeigeplicht? Überraschenderweise Opferverbände. So paradox das klingt, ist das auch
einsichtig. Aus unserer, also aus der deutschen Sicht, und aus den Erfahrungen, die
die Opferverbände eingebracht haben, ist es nicht einfach damit getan, dass man wie
in den angelsächsischen Rechtssystemen sagt: Also, wenn du etwas hörst über Missbrauch,
musst du sofort das zur Anzeige bringen. Das ist vielleiht klarer und es ist vielleicht
auch im ersten Moment einsichtiger. Es trägt aber oft dem Empfinden und der Scheu
und dem Scham – die mit dem Aussprechen dessen, was einem geschehen ist, einhergeht
– überhaupt nicht Rechnung.“ Was bedeutet das für die Prävention? „Was
das für die Prävention bedeutet, ist, dass man einerseits natürlich sagen muss, ich
bin zwar nicht gehalten, aber ich soll es und muss es anzeigen. Wenn zum Beispiel
ich als Priester im Gespräch, in einer vertraulichen Mitteilung, erfahre, dass jemand
missbraucht wird und dass dieser Missbrauch auch weiter vor sich geht, dann muss ich
natürlich alles tun, inklusive Einschalten von Polizei usw., um dieses Opfer und mögliche
andere Opfer zu schützen. Aber das muss auch so diskret und empathisch geschehen können,
dass dieses Opfer sich auch noch einmal geschützt weiß.“
„Es gibt
nicht diese perfekte Gesellschaft, auch nicht in der Kirche“
Sie haben
nach dem Symposium zu Missbrauch dankbare und ermutigende Rückmeldungen auch von Opferverbänden
bekommen, andere bemängelten, dass zu wenig Betroffene auf der Konferenz waren.
„Es
war natürlich keine zahlenmäßig auch nur annähernde Repräsentanz möglich, aber für
uns war notwendig, dass wir diese Stimme der Opfer den Bischöfen, den Kardinälen,
dem Generaloberen hierwirklich auch zu Gehör bringen, und ich glaube, das hat den
wichtigsten Impuls für den Erfolg dieses Symposiums gegeben. (…) Natürlich
müssen wir uns auch bei einer Organisation, die eine Milliarde Menschen umfasst, darüber
im Klaren sein, dass nie alles richtig perfekt funktionieren wird, ich glaube, da
muss man sich auch von einer Ideologie verabschieden, die in der Kirche selber vorherrscht
und propagiert wurde: dass man sich immer reinwaschen kann. Die Kirche hat auch mit
dem Konzil gesagt, dass sie immer auch eine Kirche der Sünder ist und bleiben wird,
es gibt nicht diese perfekte Gesellschaft, auch nicht in der Kirche. Es gibt eine
Kirche, die mit Erschrecken auf das schauen muss, was in den letzten Jahren geschehen
ist und die jetzt die Konsequenzen daraus ziehen muss. Und wir arbeiten mit vielen
Menschen zusammen in der Kirche, die das wirklich auch voranbringen wollen – mit Ehrlichkeit
und mit der Bereitschaft zu lernen und sich zu ändern.“
Pater Zollner,
eine Frage zum Thema Therapie und Heilung, an Sie als Psychologe. Der Kirche liegt
am Herzen, den Stimmen der Opfer mehr Raum zu geben und sowieso einen Umgang mit den
Betroffenen zu finden, der für beide Seiten konstruktiv sein kann. Hand aufs Herz:
Wie kann ein Opfer, das durch Kirchenvertreter in seinem Innersten verletzt wurde,
in der Institution Kirche Heilung erfahren?
„Die Frau Collins, die beim
Symposium im Februar als Missbrauchsopfer gesprochen hat – sie wurde mit 13 Jahren
von einem Krankenhauskaplan im Krankenhaus missbraucht – hat mir am Ende des Symposiums
gesagt, dass für sie die Erfahrung hier und die Begegnung mit den Bischöfen, die Ehrlichkeit,
mit der hier mit dem Thema umgegangen wurde, eine unglaubliche Heilung bewirkt hat.
Das heißt: Es ist möglich, dass Heilung geschieht, auch von Menschen und für Menschen,
die durch kirchliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen missbraucht wurden, das ist
natürlich möglich. (…) Man kann diese Dinge nicht quantitativ abwiegen. Ich muss immer
schauen, was kann im therapeutischen, was kann im kirchlichen Rahmen geschehen, damit
Opfer auch dem trauen können, was die Kirche sagt.“ Vielen Dank für das Gespräch,
Pater Zollner.
Konferenzbeiträge bald auf Deutsch erhältlich Die
Redebeiträge des Internationalen Symposiums „Für Heilung und Erneuerung“ über sexuellen
Missbrauch durch Kleriker sind jetzt auf Italienisch erschienen; eine deutsche Fassung
wird voraussichtlich im Oktober im Handel erhältlich sein. Das „E-Learning-Zentrum“
zur Missbrauchsprävention ist noch bis Ende 2014 in der Testphase. Im Oktober 2012
soll es dazu in München eine Pressekonferenz geben, kündigte Pater Zollner an. (rv
10.07.2012 pr)