Aktenzeichen: Johann Caspar Lavater – berühmt, umstritten, neu entdeckt
Johann Caspar Lavater,
reformierter Pfarrer, Philosoph und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts wird meist
nur in Verbindung mit seiner bekannten Physiognomik wahrgenommen, einer Lehre, nach
der die Gesichtszüge eines Menschen dessen Charakter offenbaren. Dies vermag aber
nicht sein ganzes Wirken abzubilden. Lavater war beseelt von der Aufbruchsstimmung
seiner Zeit. Er übertrug die Ideale des Sturm und Drang auf die Theologie. Damit löste
er den christlichen Glauben aus dem Korsett des dogmatischen Glaubens und der moralisierenden
Frömmigkeit seiner Zeit. Er zeigt einen Weg, der von der Empfindsamkeit, der Selbstergründung
und der Beobachtungsgabe des einzelnen Menschen genährt wird. Er war seinerzeit nicht
nur in Zürich, sondern auf dem ganzen europäischen Kontinent bekannt, berühmt, geschätzt,
aber auch kritisiert. Johann Caspar Lavater war eine außerordentliche Persönlichkeit.
Seine Aura scheint die Menschen damals geradezu magisch angezogen zu haben: darunter
Wieland, Klopstock, Herder, Goethe, Claudius, Rousseau, Pestalozzi. Weniger bekannt
ist, dass Lavater 15 Jahre lang sozusagen ‘im Hauptberuf’ Pfarrer in der St. Peter-Kirche
in Zürich war. Heute bekleidet Ueli Greminger, Pfarrer an der evangelisch-reformierten
Kirchengemeinde dieses Amt. Er hat jetzt ein Buch über seinen berühmten Vorgänger
geschrieben, mit dem Titel: Johann Caspar Lavater – Berühmt, berüchtigt – neu entdeckt.
Wir haben ihn ans Mikrophon von Radio Vatikan gebeten.
Herr Pfarrer
Greminger, wem stand Johan Caspar Lavater am nächsten: der Wissenschaft, der Religion,
der Sprache oder der Seelsorge – also dem Menschen?
„Johann Caspar
Lavater war mit Leib und Seele Pfarrer. Er war eine feinsinniger Seelsorger, ein begnadeter
Prediger. Von halb Europa strömten die Menschen in den St. Peter von Zürich. Gemäß
Johann Wolfgang Goethe hatten seine Predigten eine so starke Ausstrahlung, weil er
aus vollem Herzen sprach und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen schien,
indem er sie in die ihnen unbekannten Winkel ihres eigenen Herzens führte”.
Sie
haben Lavater neu entdeckt, worin besteht das wirklich Neue?
„Lavater
ist heute allgemein als Physiognomiker bekannt. Im Geheimen Tagebuch bin ich dem anderen
Lavater, dem originellen Theologen begegnet. Es beginnt so: ,Du aber, mein Herz,
sey redlich! Verbirg deine Tiefen nicht vor mir! Ich will Freundschaft mit dir machen,
und einen Bund mit dir aufrichten – Wisse, mein Herz, dass unter allen Freundschaften
auf Erden keine weiser und segenreicher ist, als die Freundschaft und eines menschlichen
Herzens mit sich selber!‘ Freundschaft mit sich selber. Wie wichtig ist dies auch
heute noch für das Menschsein. Mit dieser und mit ähnlichen Vorstellungen formte Lavater
die christliche Tradition so um, dass sie für die Menschen seiner Zeit seelische,
gedankliche und moralische Nahrung blieb. Diese Vorgehensweise ist das eigentlich
Besondere an Lavater!“
In was bestand das Faszinosum Lavaters, das die
Intellektuellen halb Europas seiner Zeit, aber auch einfache Menschen, so sehr angezogen
hat? Wie wurde er zur Kultfigur?
„Es begann mit einem Skandal. Lavater
organisierte kaum 21 Jahre alt eine anonyme Flugblatt Aktion, darin er einen korrupten
Landvogt anklagte. Der Bösewicht wurde entlarvt, entzog sich durch Flucht dem gerichtlichen
Verfahren Goethe war begeistert, als er das Flugblatt las, und meinte, dass eine solche
Tat gleich viel wie hundert Bücher gelte. Lavater wurde mit Voltaire verglichen, als
dieser sich in Frankreich in der Affäre Calas als Einzelner mutig gegen das Unrecht
zur Wehr setzte. Lavaters Gerechtigkeitsgefühl, seine Zivilcourage, seine Schaffenskraft,
seine Fähigkeit, Kontakte zu allen nur möglichen Menschen aus allen gesellschaftlichen
Schichten zu knüpfen, und seine Begabung, die Menschenkenntnis und die Menschenliebe
miteinander zu verbinden, scheinen immens gewesen zu sein. So wurde er zur Kultfigur.”
Der
Glaube ist nicht mit theologischen Begriffen zu erfassen, sondern im Vollzug der Imitatio
Christi. Ein Grundsatz Johann Caspar Lavaters. Hat er konsequent nach diesem Leitsatz
gelebt?
„Ja. Christliche Existenz bedeutete für Lavater, die Wahrheit
aufdecken. Das bedeutet: Politisches Engagement. Der böse Tyrann wird demaskiert.
Sein wahres Gesicht kommt zum Vorschein. Selbsterforschung. Im Geist der Aufklärung
leitete Lavater die Menschen an, sich selbst zu erforschen, sich auf die eigenen Kräfte
zu verlassen. Transzendieren: Lavater war es ganz wichtig, die Grenzen des rein rationalen
Denkens zu übersteigen, um sich mit der göttlichen Wahrheit anzunähern. Beim Tagebuchschreiben
übte Lavater täglich den Umgang mit sich selber, um auf diese Weise der inneren Wahrheit
auf die Spur zu kommen.”
Nach Lavater ist Religion nichts als Genie.
Wie ist das zu verstehen?
„Lavater übernahm den Begriff ,Genie‘ vom
Bildungsideal des Sturm und Drang und übertrug ihn vom Gebiet der Literatur und der
Kunst auf sein Gebiet, die Theologie. Genie wurde zum Schlüsselwort im Aufbruch aus
der Enge der kirchlichen Rechtgläubigkeit, der moralisierenden Frömmigkeit und der
Verstandespedanterie der Aufklärung.”
Zeit seines Lebens war Lavater
auf der Suche nach dem Zauber der Sprache. Hat er ihn gefunden?
„Da
bin ich mir nicht so sicher. Ich beschreibe in meinem Buch, wie Lavater in seiner
Schrift ,Aussichten in die Ewigkeit‘ von einer Sprache des Himmels schwärmt. Wenn
es den Himmel gibt, dann muss es doch schon hier auf Erden eine Sprache dafür geben,
dass der Mensch die Wahrheit unmittelbar versteht und sich als Individuum verstanden
fühlt. Wie schön, wenn dem so wäre! In der Praxis, bei der Predigt, im Unterricht
,in der Seelsorge. Immer ging es Lavater darum, den Zauber der Sprache zu erzeugen
und Raum für das Empfinden des Göttlichen zu schaffen, es zu verstehen und verständlich
zu machen. Er wollte das Unbegreifliche begreifen, das Unfassbare erfassen, das Unsichtbare
sichtbar machen, das Göttliche erfahren im Hier und Jetzt”.
Wie war
das Verhältnis Lavaters – theologisch betrachtet – zur katholischen Kirche?
„Lavater
war mit Leib und Seele Pfarrer im Geist der Reformation von Huldrych Zwingli. Aber
er blieb nicht dabei. Er suchte den Nerv seiner Zeit: Es ist der Reichtum, das Wunderbare
und das Geheimnis des einzelnen Menschen, das frei zur Entfaltung kommen soll. Lavater
überschritt in seinem theologischen Denken andauernd Grenzen. Die Grenzen seiner Herkunft,
des Pietismus, die Grenzen der Aufklärung, des dogmatischen Denkens. Und auch die
Grenzen seiner Konfession. Er hatte eine Geist Kirche vor Augen – einen Ort, wo jeder
auf seine Weise in der Nachfolge Christi steht. Geist Kirche kann überall sein – auch
in der katholischen Kirche. Stellen Sie sich vor, das sagt der St. Peter Pfarrer im
reformierten Zürich des 18.Jahrhunderts. Zitat: Nur der Satan will kriechende, genusslose
Märtyrer. Religion ist ein geistiger Genuss unsichtbarer und ewiger Dinge völlige
Nullitäten sind für mich, für meinen innern Menschen, für meine Religion, für meinen
Gottesgenuss die Namen Zwingli, Calvin, Luther, Papst, Konzilium, reformiert, lutherisch,
katholisch. Natürlich pflegte Lavater Kontakte zu Priestern und Bischöfen. Da hatte
er keine Berührungsangst. Auch dafür wurde er von seiner Zunft heftig kritisiert.”
Über
den Zeitgeist urteilte Lavater, es sei eine beinahe epidemische Krankheit des ‚unphilosophischen
Jahrhunderts’, über dem Mittel den Zweck zu vergessen, oder das Mittel zum Zweck zu
machen. Sehen Sie darin Parallelen zur heutigen Zeit?
„Ja – da zeigt
sich die Aktualität von Lavater. Es ist wie wenn er damals bereits unser Jahrhundert
beurteilt hätte. Ebenso aktuell ist seine theologische Antwort. Es geht darum: Ganz
Mensch zu sein. Nicht irgendwann einmal nach dem Tod. Mitten im Leben. Von Angesicht
zu Angesicht. Aber jeder Mensch als Individuum und auf seine Weise: Zitat ,Keiner
soll des Andern ganzen Glauben, Jeder soll einen eigenen individuellen Glauben, wie
ein eigenes Gesicht haben.‘”
Was spiegelt sich in der tiefen Freundschaft
Lavaters mit Goethe?
„Die Freundschaft zwischen Lavater und Goethe
zerbrach. Damit auch die Verbindung zwischen dem christlichen Glauben und dem Geist
der Moderne. Es ist, wie wenn sich damals der liberale Weltgeist vom christlichen
Glauben für immer emanzipiert hätte. Das ist meine Vision:Kreative sollen
freundschaftlich miteinander verbunden sein: Der weltoffene Glaube (Lavater) und der
liberale Weltgeist (Goethe). Im Sinn einer Religiosität für das 21. Jahrhundert, da
miteinander verwoben sind das Genie des Herzens (Lavater) und die Klarheit des Denkens
(Goethe). Die christliche Religiosität als Seelenkraft und als kritisches Nachdenken,
im Sinn des im Religiösen verankerten und gleichzeitig selbst bestimmten und weltoffenen
Menschen.”
Wo ist Lavater gescheitert, wo hingegen hat er ein Vermächtnis
hinterlassen?
„Lavater ist an seinem größten Erfolg, an seiner Physiognomik
gescheitert, indem er aus ihr eine Wissenschaft machen wollte. Lavater ist auch daran
gescheitert, dass er pausenlos geschrieben hat. Er hat seine Werke kaum überarbeitet.
So verliert man sich in seinen Schriften. Sie werden kaum mehr gelesen. Sein Vermächtnis? Habe
ich in meinem Buch ,Johann Caspar Lavater – berühmt, berüchtigt, neu entdeckt‘ zusammengestellt.
Drei Dinge sind es, mit denen Lavater das wunderbare, geheimnisvolle Reich des Individuums
zu ergründen suchte: die Einbildungskraft, die Kunst der Freundschaft und die Gabe
des Beobachtens. Mit diesem Bildungsideal ging Lavater daran, den einzelnen Menschen
zu ergründen, zu befreien und zu seiner Bestimmung, zu sich selbst zu führen.“
Was
bleibt von Lavater für das 21. Jahrhundert? Kann er auch heute noch als religiöse
Leitfigur betrachtet werden?
„Ja – Lavater hat den Weg zu einem neuen
Verständnis des christlichen Glaubens vorgezeichnet. Indem er das Bildungsideal seiner
Zeit auf die Theologie übertrug, löste er den christlichen Glauben aus dem Korsett
des dogmatischen Glaubens, der moralisierenden Frömmigkeit und des reinen Vernunftdenkens.
Er bahnte den Weg zu einer individuellen Christlichkeit, die nicht von der Tradition,
von Dogma und Moral genährt wird, sondern von der Empfindsamkeit des Individuums.
Diese Empfindsamkeit nährt die Phantasie, ermöglicht die Freundschaft – auch die Freundschaft
mit sich selber – und vertraut der Beobachtungsgabe des Einzelnen. Diese neue Art
der Religiosität beschränkt sich nicht auf die Pflege einer individuellen Frömmigkeit,
sondern sein Wesen findet im Aufdecken von Wahrheit im persönlichen, aber auch im
öffentlichen Bereich. Die Lebensgeschichte von Lavater zeigt, dass damit sowohl Zivilcourage
im Bereich des öffentlichen Lebens in Kirche und Staat als auch das kritische Hinterfragen
von Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit gemeint ist.”
Herr Greminger,
vielen Dank für Ihre ausführlichen Einschätzungen zu Johann Caspar Lavater.
Nachwort: Johann
Caspar Lavater wurde bei den Unruhen in Zürich von einem betrunkenen französischen
Soldaten durch einen Schuss in die Brust schwer verletzt. Nach schweren Leiden erlag
er nach einem Jahr an den Folgen der Verletzung. Es war der 2. Januar 1801. Lavater
war 60 Jahre alt. Von seinem Schwiegersohn, Georg Gessner, wird überliefert, dass
er im Todeskampf immer noch für den betete, der ihn tödlich verwundet hatte.