Die Terrorsekte Boko
Haram richtet sich gegen alle „westlichen“ Einflüsse in Nigeria, nicht allein gegen
die Christen. Daran erinnert im Interview mit Radio Vatikan Toni Görtz, Afrikareferent
beim katholischen Hilfswerk missio Aachen und profunder Nigeria-Kenner. Ebenfalls
sei es falsch, die „Christen“ in dem Land, das die Fläche von Frankreich hat, als
homogene Gruppe zu betrachten, die sich mit einer Stimme ausdrückt, sagte Görtz im
Gespräch mit Christine Seuß:
„In unseren Medien wird ja häufig und fast
überwiegend darüber berichtet, dass Boko Haram gegen Christen in Nigeria kämpfe, aber
das ist mitnichten so. Zunächst hatten die Attentate von Boko Haram überhaupt nichts
mit katholischer Kirche oder Christen zu tun, sondern die Angriffe richteten sich
von Anfang an gegen Institutionen des Staates oder ihre Vertreter wie die Polizei.
Als islamistische Sekte, die sich von westlichen Einflüssen reinigen wollte, war ihre
Absicht, alle Dinge abzulegen, die durch die Kolonialzeit in die Region herein getragen
worden sind. Das eigentliche Symbol, die eigentliche Macht, die dieses Westliche repräsentiert,
war und ist der Staat und mit ihm die Polizei.“
Die Nationale Vereinigung
der Christen in Nigeria hat ein Statement verteilt, das besagt, es werde eine religiöse
Reinigung vorgenommen, die Angriffe seien also religiös motiviert. Die katholischen
Bischöfe hingegen sagen, nein, dieser Konflikt ist politisch motiviert. Warum sprechen
die Christen in Nigeria mit so unterschiedlichen Stimmen?
„Zunächst einmal
muss man sehen, dass Boko Haram keine Terrororganisation mit einem Kopf ist, sondern
Boko Haram ist ein nebulöses Konglomerat von gewaltbereiten Leuten, die Attentate
begehen. Man kennt auch keine klar definierten Ziele, da gibt es mal Aussagen, sie
seien gegen alles Westliche, dann wieder, sie seien gegen Christen, und auch ganz
andere Statements – es gibt also keine Einheit. Auf der christlichen Seite gibt es
die ,Christian Association of Nigeria‘ (CAN), den Zusammenschluss aller christlicher
Gruppierungen im Land. Da gibt es drei große Gruppen. Das ist zunächst die katholische
Kirche, die steht für sich, dann gibt es die protestantischen Kirchen und mehrere
Tausend Pfingstkirchen. Wenn CAN-Vertreter sprechen, dann ist das keineswegs so, dass
damit die Meinung der katholischen Kirche kundgetan wäre. Erst kürzlich habe ich von
einem CAN-Vertreter gehört, es reiche jetzt mit den Angriffen auf Christen und Kirchen,
und es wäre an der Zeit, Rache zu üben und zurückzuschlagen. Das ist meines Erachtens
– und auch der Meinung der katholischen Kirche nach – das Dümmste, was man machen
kann. Dann hätte man nämlich einen Krieg, dessen Frontlinien genau zwischen Christen
und Muslimen verlaufen würden, aber es geht ja bei diesem Konflikt eigentlich um etwas
völlig anderes.“
In der Tat kam es ja infolge der Anschläge vom Sonntag
und Montag in Kaduna zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen,
bei denen bereits viele Menschen starben… Sie sagen, das ist eine Folge. Worum geht
es also bei dem ursprünglichen Konflikt genau?
„Es geht darum, dass eine
große Unzufriedenheit mit der Regierung und mit dem Staat in Nigeria herrscht. Diese
große Unzufriedenheit wird von Boko Haram aufgegriffen, genutzt und instrumentalisiert,
und sie haben ja auch deshalb hauptsächlich Polizeistationen als Hauptangriffsziele
gewählt, um dem Staat und der Regierung eins auszuwischen. Boko Haram ist auch stolz
darauf – es gibt in der Beziehung immer wieder Statements – den Staat sozusagen vorzuführen,
nämlich dadurch, dass Boko Haram fast täglich größere oder kleinere Attentate irgendwo
in Nigeria verübt und der Staat dem sozusagen machtlos und stauend gegenüber steht.
Boko Haram ist auch teilweise besser ausgerüstet als die Polizei, so dass sie häufig
Angst hat und zögerlich gegen die Attentäter vorgeht. Es ist ja bisher auch kein einziger
Fall bekannt, dass ein Boko Haram Attentäter verhaftet und vor einem Gericht verurteilt
worden wäre. Man hat einfach Angst davor.“
Was ist denn Boko Harams Plan
für ein mögliches „Danach“, ohne die gesamte politische Elite?
„Nur auf
Boko Haram zu schauen, um eine Lösung zu finden, ist der falsche Ansatz. Es gibt im
Grunde genommen keine gute Lösung, weil eine Lösung in einem solchen Konflikt, wenn
es nicht eine kriegerische Auseinandersetzung werden soll, eigentlich nur über Dialog
möglich ist. Aber gerade Dialog ist zumindest im Moment nicht möglich, da es ja keine
Ansprechpartner gibt, die bekannt wären. Richtiger und wichtiger wäre es meines Erachtens,
und das ist die Überzeugung des Großteils der Bischöfe der katholischen Kirche, den
Staat zu reformieren. Der Staat ist vor allem wegen seines Ölvorkommens sehr reich,
aber auch sehr korrupt. Der Reichtum ist sehr schlecht verteilt. Ich nenne einmal
eine Zahl, um zu verdeutlichen, was da an dramatischer Ungerechtigkeit passiert: Ein
Prozent der Bevölkerung vereinnahmt für sich 80 Prozent der staatlichen Öleinnahmen.
Gleichzeitig ist es so, dass über 70 Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut leben.
Die kleine Elite, die das Geld des Staates abschöpft, ist korrupt und hält die Macht
in Händen. Sie sorgt auch dafür, dass das so bleibt, während die große Masse arm ist
und arm bleibt. Das ist der eigentliche Skandal, gegen den letztlich auch Boko Haram
angeht.“
Das hört sich so an, dass Boko Haram auch Befürworter in der Bevölkerung
hat…
„Ja, weil Boko Haram im Grunde diesen Machtapparat angreift, hat sie
bei manchen Armen sogar Sympathien. Das war zumindest zu Beginn der Angriffe so, weil
man so die eigene Machtlosigkeit ein bisschen aufarbeiten konnte. Die Sympathie ist
allerdings mittlerweile geschwunden, weil das tägliche Leben zu stark beeinträchtigt
wird. Man weiß nie, explodiert die nächste Bombe auf dem Markt, auf dem ich einkaufen
gehe oder in der Kirche, in der ich den Gottesdienst besuche, oder in der Polizeistation,
an der ich vorbei fahre? Diese Notwendigkeit, sich schützen zu müssen, kostet viel
Energie; Angst lähmt und Lebensfreude schwindet. Christen, die heute im Norden Nigerias
leben und ursprünglich aus dem Süden stammten, ziehen wieder in den Süden zurück.
Das Leben ist sehr destabilisiert und unsicher geworden.“
„Es provoziert
Zorn, dass nicht alle Gruppierungen Anteil an der Macht haben“
Es heißt
ja, den Nigerianern sei Unterstützung durch ausländische Sicherheitskräfte oder sogar
Geheimdienstunterstützung angeboten worden, aber das Angebot sei nicht auf fruchtbaren
Boden gefallen. Warum ist das so?
„Da kann ich natürlich nur spekulieren.
Die Regierung ist zur Zeit sehr schwach, und das liegt vor allem daran, dass der christliche
Präsident Goodluck Jonathan seine Regierung so aufgebaut hat, dass vor allem Christen
in Schlüsselpositionen sitzen. Er hat nicht versucht, wie das seine Vorgänger recht
vorbildlich gemacht haben, alle Gruppierungen, Religionen und Völker Nigerias in der
Macht zu repräsentieren. Er hat also einen sehr einseitig gelenkten Machtapparat aufgebaut,
und das provoziert den Zorn der Gruppierungen, vor allem der Muslime, die sich nicht
berücksichtigt fühlen. Aus dieser Schwäche heraus kann ich verstehen, dass er zögert,
diese Geheimdienstunterstützung anzunehmen. Denn taktisch gesehen wäre es ja sicherlich
gut, wenn Geheimdienste helfen würden, die Köpfe von Boko Haram ausfindig zu machen,
um sie dann angreifen zu können, aber der Sicherheitsapparat traut sich kaum, gegen
die gut ausgerüsteten Boko Haram-Kämpfer anzugehen. Wenn tatsächlich mal Kämpfer gefangen
genommen werden, werden sie freigebombt oder von Sympathisanten einfach nur frei gelassen.“
Das heißt also, besser gar nicht erst in die Höhle des Löwen geführt werden,
sondern in seliger Unwissenheit in meiner abwartenden Position verharren?
„Richtig.
Ich weiß, wenn ich sie verhaftet hätte, wäre der Apparat nicht in der Lage, adäquat
damit umzugehen. Der Bischof von Sokoto, Matthew Kuka, hat vor einigen Tagen gesagt,
dieser Staat ist die Domäne von Schurken, Dieben und Banditen, die das Vermögen des
Staates plündern und sich am Öl Nigerias persönlich bereichern." (rv 20.06.2012
cs)