Er ist 67 Jahre alt
und kümmert sich seit jeher um die Migranten, die Mexiko durchqueren bei dem Versuch,
in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Pater Alejandro Solalinde Guerra ist ein katholischer
Priester, der seit 2007 im Staat Oxana, einem der ärmsten mexikanischen Staaten im
Süden des Landes, das Zentrum „Hermanos en el Camino” („Brüder auf dem Weg“) leitet.
In seinem Zentrum kommen Honduraner, Guatemalteken, Salvadorianer und Nicaraguaner
zusammen, alle auf der Suche nach menschlichem Beistand und Erholung. Tausende Migranten,
unter ihnen auch Frauen und Kinder, werden in Mexiko jedes Jahr Opfer von Massenentführungen,
Folter, Vergewaltigung und Morden durch die organisierte Kriminalität, die in einigen
Fällen sogar in Absprache mit der Polizei und lokalen Autoritäten handelt. In nur
sechs Monaten, von April bis September 2010, sind 11.333 Migranten entführt worden.
„Amnesty International“ und „Peace Brigades International“ haben sich nun hinter Pater
Solalinde gestellt und haben die mexikanischen Autoritäten aufgefordert, seinen Schutz
zu garantieren. Er beschreibt die Situation in Mexiko folgendermaßen:
„Mexiko
durchlebt zur Zeit eine sehr schwerwiegende Krise, besonders bedingt durch die vom
Kampf gegen Drogenhandel ausgelöste Gewalt, aber auch wegen der Korruption in den
Behörden und wegen der nicht funktionierenden Justiz, die de facto Straffreiheit garantiert.
Vor allem die Migranten leiden unter dieser Gewaltbereitschaft in Mexiko.“
Die
Personen, die Gewalt gegen Migranten ausüben, seien Teil der organisierten Kriminalität,
Mitglieder der Drogenkartelle – aber unter ihnen seien auch Polizisten, Immigrationsagenten
und öffentliche Autoritäten. Die organisierte Kriminalität habe mittlerweile zwei
Drittel des Staatsapparats unterwandert, so dass ein Gutteil der Amtsträger zu Komplizen
der Kriminellen geworden sei. Der Pater zeigt Folter, das Verschwinden von Personen,
Entführungen und die fortwährende Gewalt gegen Frauen an:
„Ja, vor allem
den Frauen wird Schreckliches angetan! Es handelt sich hierbei nicht nur um Gewalt,
die dem Instinkt geschuldet ist, sondern dieser Gewalt liegt ein tiefer Geschlechterhass
zugrunde. Mexiko ist der Staat mit der höchsten Anzahl von getöteten Frauen. Auch
unter den Journalisten, die im Fadenkreuz dieser Kriminellen sind (bislang sind 107
getötet worden, ndr), sind die meisten Opfer Frauen.“
Die Zahl der Verschwundenen
kann nur geschätzt werden, sicher aber ist, dass mehrere tausend Personen jedes Jahr
entführt werden, für die dann Lösegeld gefordert wird. Pater Solalinde erklärt, wie
die Lösegeldzahlung vonstattengeht:
„Ein Familienmitglied oder eine Kontaktperson
in den Vereinigten Staaten nimmt es auf sich, das Geld herbeizuschaffen und das Lösegeld
zu zahlen. Der Entführte, der vor der Freilassung Gewalt und Folter erlitten hat,
muss dann eine Arbeit finden, um diese Schulden zurückzuzahlen. Das Lösegeld wird
letztlich von der Person bezahlt, die entführt worden ist.“
Die Vereinigung
„Hermanos en el camino” unterstützt und beherbergt die Migranten, die auf ihrem Weg
in eine vermeintlich bessere Zukunft im Süden Mexikos aufschlagen. Viele davon landen
in einem erbärmlichen Zustand bei Pater Solalinde:
„Sie kommen sehr müde
an, alle sind arm und der Großteil ist sehr jung. Sie verlassen ihre Heimat, um studieren
zu können, zu arbeiten oder der Gewalt zu entkommen. Sie kommen bei uns an, nachdem
sie vielleicht stundenlang auf dem Dach eines Güterzuges ausgeharrt haben, im Regen
wie in der prallen Sonne, der Kälte ausgesetzt. Sie kommen halb verhungert, verdurstet
und manchmal ohne Kleidung oder Geld.“
Seit einiger Zeit erhält Pater
Solalinde Morddrohungen, lässt sich aber dennoch nicht von seinem karitativen Werk
abbringen. Hat er denn keine Angst angesichts dieser sehr konkreten Gefahr für Leib
und Leben?
„Eigentlich ist mein ganzes Leben ein Risiko gewesen. In den
letzten beiden Monaten habe ich sechs Morddrohungen erhalten. Meine Vorgesetzten,
aber auch „Amnesty International“ und „Peace Brigades“ haben mich gebeten, mich für
eine Zeitlang zurückzuziehen, und das tue ich bis zum 3. Juli, auch um mich ein wenig
zu erholen. In der Zwischenzeit werden Recherchen durchgeführt, um an die Hintermänner
der Morddrohungen zu gelangen, bei denen es sich um Politiker handelt. Aber ich habe
keine Angst, denn mein Leben liegt in der Hand Gottes. Ich mache mir keine Sorgen
um mich selber, sondern um die Migranten und wegen der Lage, in der man hier in Mexiko
lebt. Ich frage mich: Wann werden wir die Krise überwinden? Und ich meine nicht nur
die Wirtschaftskrise, sondern auch die Krise der Moral! Ein gutes Signal kommt von
den jungen Mexikanern, sie sind eine wirkliche Stärke, und von ihnen kommt ein klares
„Nein“ zu diesem Mexiko. Sie wollen den Wechsel, und sie arbeiten dafür, ihn herbeizuführen.
Der Großteil von ihnen ist katholisch und steht für die Zukunft, auch die unserer
Kirche.“
In der Tat sind die Hoffnungen des Paters berechtigt: In Mexiko
hat sich in den letzten Monaten aus dem Nichts eine Jugendbewegung gebildet, die sich
„Yo soy 132" („Ich bin 132“) nennt und mittlerweile durch alle Klassen und Altersgruppen
geht. Der „Mexikanische Frühling“ wirbelt die festgefahrene politische Klasse durcheinander
- und mischt die Karten für die Präsidentschaftswahl am 1. Juli neu. Pater Solalinde
ist soeben von einer Reise durch einige europäische Länder zurückgekehrt, während
der er auf die Zustände in Mexiko aufmerksam gemacht hat. Seine Erwartungen an Europa
sind bescheiden:
„Ich erwarte mir, dass Europa seinen Teil der Aufgabe übernimmt:
dass es die Probleme der Migranten zu lösen hilft und sich daran erinnert, dass sie
unsere Brüder sind und die Anwesenheit Christi verkörpern. Wir sind zu weit weg dafür,
dass Europa uns helfen könnte, aber wenigsten sollte es denjenigen helfen, die auf
sein Territorium gelangen.“
Auch Papst Benedikt XVI. hat während seiner
kürzlich erfolgten Reise nach Mexiko einen Appell gegen die Gewalt gerichtet. Der
Pater interpretiert seine Botschaft folgenermaßen:
„Die Stimme des Papstes
ist immer eine sehr einflussreiche Stimme, die sich in konkrete Handlungen übersetzen
lässt. Was können wir tun? Uns hinunterbeugen und die Personen, die jungen Leute,
die Frauen, anhören. Auf die Straße gehen und die Realität leben, die uns umgibt.
Das ist meiner Meinung nach das, was wir machen müssen.“