2012-06-05 13:25:36

Wirtschaftskrise in Europa: „Es geht nicht mit gerechten Dingen zu“


RealAudioMP3 Die kommenden drei Monate werden für Europa entscheidend sein. Das sagt die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel im Gespräch mit Radio Vatikan. Irland hat sich vor wenigen Tagen in einem Referendum für den Fiskalpakt entschieden, in Griechenland steht mit den Parlamentswahlen am 16. Juni eine Entscheidung über die Zukunft noch aus.

Begonnen habe die gegenwärtige Krise schon vor vier Jahren, so die Direktorin der Kommission Iustitia et Pax der Österreichischen Bischofskonferenz. Mit der Rettung der Banken seien die Haushaltsdefizite der Staaten in die Höhe getrieben worden, aber auch schon zuvor habe die Klientelpolitik immer wieder Schulden zur Folge gehabt. Die Bankenrettung habe diese dann so in die Höhe getrieben, dass sie bedrohlich wurden. Jetzt stehe man in dem Konflikt zwischen einer Politik, die auf Wachstum aus sei – in den Medien verbunden mit dem Namen des französischen Präsidenten Hollande – und der Sparpolitik, für die vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel eintrete.

„Das ist die große Frage, vor der wir stehen: Wie ist die Balance zu gestalten zwischen dem notwendigen Sparen, der Wachstumsstimulation und der politischen und finanziellen Integration Europas? Wobei ich glaube, dass sich die Positionen annähern, aber ob das schnell genug geht, das ist die große Frage.“

Dafür, dass sich in Griechenland eine vernünftige Politik durchsetze, stünden die Chancen nicht gut, so Gabriel.

„Das ist ebenfalls eine allgemeine und ziemlich bedrohliche Tendenz: Dass Populisten überall im Aufwind sind. Das gilt besonders auch für Griechenland, aus einer gewissen Situation der Hoffnungslosigkeit, der Orientierungslosigkeit und auch der Wut der Bevölkerung heraus.“

Sozialausgaben wurden über Monate nicht ausgezahlt, es treffe vor allem die Armen, außerdem sei die Arbeitslosigkeit stark gestiegen. Die viel diskutierte Alternative sei aber auch nicht erstrebenswert: Ein Ausscheiden aus dem Euro-Raum, das Griechenland, dann aber auch in der Folge andere Länder betreffen könnte, würde nach Expertenmeinung erst zu einem finanziellen und dann zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch führen, ein Szenario, dass sich niemandem wünschen könne, so Gabriel.

„Das Groteske daran ist, dass Europa ja sehr reich ist und wir alle sehr reich sind. Mir fällt da ein Wort aus dem Evangelium ein, wo Johannes der Täufer sagt ‚Wer zwei Röcke hat, der gebe einen dem der keinen hat.’ Die meisten von uns haben mehr als zwei Röcke, und insofern glaube ich, dass das Stichwort der Solidarität nicht nur ein politisches und wirtschaftliches, sondern auch ein humanes und christliches Stichwort ist.“

Am vergangenen Wochenende hatte Papst Benedikt XVI. Familienpartnerschaften ins Spiel gebracht: Wohlhabende Familien übernehmen ganz konkret Verantwortung für Familien in Ländern, denen es wirtschaftlich schlecht geht.

„Das ist sicherlich eine wunderbare Idee, die man auch kirchlich gleich umzusetzen versuchen sollte, ich werde das gleich in der Iustitia et Pax Kommission sagen. Das ist die zivilgesellschaftliche und christliche Ebene, und alle Programme, die auf dieser Ebene initiiert werden, haben ja nicht nur einen konkreten armutslindernden Effekt, sondern sie können auch den gefährlichen Renationalisierungstendenzen entgegenwirken.
Das kann aber natürlich nicht Regelungen im Finanzbereich und im politischen Bereich ersetzen. Man muss alle diese Ebenen zugleich bedienen und nicht eine gegen die andere ausspielen.“

Gefragt nach den Anliegen, die sie mit dieser Perspektive der Politik nennen würde, sieht die Sozialethikerin Gabriel drei Kategorien:

„Eine Kategorie ist die der Solidarität. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass auch politische Entscheidungen aus ganz tiefen menschlichen Grundhaltungen heraus fallen und dass eine politische Ordnung nur dann Bestand haben kann, wenn sie von moralischen Prinzipien getragen ist.
Das Zweite ist, dass gegenwärtig ein weitverbreitetes Gefühl besteht, dass es nicht mit gerechten Dingen zugeht. Menschen in politischen Organisationen sind zutiefst darauf angewiesen, dass sie das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht. Das ist so lange gut gegangen, wie eine kleine Gruppe immer größere Vermögen angehäuft hat und die anderen nicht davon betroffen waren. Doch das hat sich gegenwärtig mehr und mehr verschoben.
Die dritte Frage ist die, wie wir mit den Ärmsten und den Randgruppen in der Gesellschaft umgehen. Können wir denen gegenüber die Solidarität – um das Wort noch einmal zu verwenden – aufbringen, die ihnen wirklich ein menschenwürdiges Leben erlaubt?“

Ingeborg Gabriel wünscht sich mehr Beteiligung an der öffentlichen Debatte auch von kirchlicher Seite, gerade die Kategorie der Solidarität dürfe nicht zugunsten wirtschaftlicher Überlegungen an den Rand gedrängt werden.

(rv 05.06.2012 ord)








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