2012-05-30 11:39:40

Ägypten: „Der Wolf hat Kreide gefressen“


RealAudioMP3 In Ägypten ist in den letzten Tagen das passiert, was nach dem Sprichwort auch in einem römischen Konklave gern geschieht: Wer als Papst hineingeht, kommt als Kardinal wieder heraus. Die zwei Politiker jedenfalls, die als Favoriten in die erste Runde der Präsidentenwahlen am Nil zogen – Mussa und Abdelfutuh –, landeten unter „ferner liefen“. Stattdessen dürfen sich die Ägypter in der Stichwahl Mitte Juni zwischen dem Islamisten Mohamed Mursi von der Muslimbruderschaft und Mubaraks letztem Premier Ahmed Schafik entscheiden. Wie kommt dieses überraschende Ergebnis der ersten Wahlrunde zustande? Das fragten wir an diesem Mittwoch den Seelsorger der deutschsprachigen Gemeinde von Kairo, Monsignore Joachim Schroedel.

„Fast möchte man sagen: Das ist eben die übliche Überraschung hier in Ägypten, es kommt immer alles anders, als man es sich vorstellt. Ganz wichtig ist: 45 Prozent der möglichen Wähler waren bis zur Wahl noch unentschieden – und das kam in den Umfragen natürlich nie so deutlich heraus. Was auch wichtig ist: Man wählt Stabilität. Und da ist natürlich Ahmed Shafik ein herausragender Kandidat für die Garantie einer Rückkehr zu gesicherten Verhältnissen. Die letzten 15 Monate waren sehr chaotisch!“

Ja, aber Shafik hätte doch nach der Wahlordnung eigentlich gar nicht antreten dürfen: Schließlich war er ja der letzte Ministerpräsident des Mubarak-Regimes!

„Es gibt sogar einen Gesetzesentwurf, der allerdings im Moment beim Gericht liegt, und am 11. Juni soll entschieden werden, ob dieses Gesetz rechtens ist oder nicht. Das heißt: Wie ein Damoklesschwert hängt noch dieser Entscheid zum Gesetz über ihm. Sollte das Gericht entscheiden, dass in der Tat alle Kandidaten, die in den letzten zehn Jahren mit Mubarak verbandelt waren, nicht kandidieren dürfen, dann wäre das das Aus für Shafik – aber es wäre auch das Aus für Mursi, und man müßte wieder neu wählen!“

Nehmen wir einmal an, Mursi würde tatsächlich ägyptischer Präsident: Dann hätten wir einen Islamisten an der Spitze des Staates, ein mehrheitlich islamistisches Parlament. Würden die Militärs unter solchen Umständen überhaupt ihre Macht an die neue Regierung und den neuen Präsidenten übergeben?

„Gestern gab es eine sehr lange Pressekonferenz von Mursi, auf der er intensiv zurückruderte. Man könnte auch sagen: Der Wolf im Schafspelz hat viel Kreide gefressen. Er erklärte, er würde sofort als gewählter Präsident seinen Vorsitz in der Partei der Muslimbrüder abgeben, er würde ferner einen Vizepräsidenten ernennen, der natürlich kein Muslimbruder sei usw. Er will natürlich damit auf Stimmenfang gehen!
Das Schwierige ist nun, dass die Kräfte, die eigentlich mit der Revolution angefangen haben, zwischen Skylla und Charybdis stehen und dort vielleicht sogar zermalmt werden. Es ist wirklich eine schwierige Situation. Einige, auch unter den revolutionären Kräften, sagen jetzt: Mursi wäre immer noch das kleinere Übel, also wählen wir Mursi! Man hört zur Zeit alles Mögliche, und ich bin froh, dass diese Unruhen von vorgestern doch wieder abgeflacht sind und man jetzt wohl versucht, zu lavieren.
Doch auf Ihre Frage, wie das Militär die ganze Geschichte beobachtet und unter Umständen akzeptiert, kann ich nur sagen: Ich glaube, das Militär steht immer noch im wahrsten Sinne des Wortes Gewehr bei Fuß und wird versuchen, den Mann durchzusetzen, der ihm am genehmsten ist – und das wäre Shafik. Die Christen übrigens haben sicher mehrheitlich Shafik gewählt oder eben (den früheren ägyptischen Außenminister und Ex-Generalsekretär der Arabischen Liga) Amr Mussa. Jetzt hoffen sie sicherlich auf Shafik. Wir werden sehen.“

Die Christen haben jetzt auch nur die Wahl zwischen Skylla und Charybdis; die Kopten sind immerhin die größte christliche Gemeinschaft überhaupt im ganzen Nahen Osten, sind sie unter den derzeitigen Umständen in Gefahr?

„Ich glaube das nicht. Meine relativ langjährige Erfahrung in Ägypten hat doch immer gezeigt, dass man, wenn es um die Realpolitik geht und nicht nur um irgendwelche Phrasenpolitik, Wege zueinander findet. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Christen sicherer leben könnten – diese Lage, die vor der Revolution schon unangenehm war, wird sich jetzt weiter fortsetzen, vielleicht auch verschlechtern. Aber ich glaube, die internationale Staatengemeinschaft wird sehr genau hinschauen – gerade falls ein Muslimbruder zum Präsidenten gewählt werden sollte –, dass auch die Christen im Lande, diese zehn Prozent oder auch mehr, ihre Rechte behalten und dass sie gestärkt werden. Schließlich sind es auch die laizistischen Kräfte hier in Ägypten überhaupt, die immer wieder ganz stark gegen jede Form von religiöser Vergewaltigung protestieren. Ich glaube, diese Gruppe macht, auch wenn sie nur klein ist, doch deutlich ihren Mund auf und wird keinen Rückfall in eine Mubarak-Ära oder in religiöse Fanatismen unterschreiben.“

Die koptisch-orthodoxe Kirche ist derzeit führerlos; Papst Shenuda III. ist gestorben, ein Nachfolger noch nicht gewählt. Shenuda hatte der Revolution sehr skeptisch gegenübergestanden. Kann man heute sagen: Die Skepsis war berechtigt, die Revolution hat in ein Chaos geführt?

„Man kann in der Tat sagen: Es ist schlechter geworden, die Erwartungen des Volkes auf möglichst schnelle Besserungen sind enttäuscht worden. Andererseits darf man nie vergessen, dass Mubaraks Regime ein Unrechtsregime war und dass viele Menschen, darunter Christen wie Muslime, unterdrückt und mundtot gemacht worden sind. Das war einer der Hauptgründe, warum die Revolution begonnen hat.
Ich denke, man muss zum einen sehen, dass der Aufstand gegen Mubarak einen Wert in sich darstellt. Das Zweite: Diese Wahlen so wie auch die Parlamentswahlen waren demokratische Wahlen, und wenn jemand in den letzten Wahlen zum Präsidenten gesiegt hat, dann ist das die Idee der Demokratie! Immerhin ist das ein Wert an sich, das ist nicht zu unterschätzen.
Es gibt jetzt natürlich wahnsinnig große Enttäuschungen auf vielen Seiten, aber die Tatsache, dass offensichtlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist, macht froh. Man kann doch sagen: Es ist auf dem rechten Weg. Aber es werden die nächsten Tage sein, die entscheiden, in welche Richtung es geht! Tag für Tag werden wir neue Überraschungen erleben, da bin ich ganz sicher.“

Viele Muslimbrüder sind fromme Leute, aber vielleicht nicht der Aufgabe gewachsen, einen Staat zu lenken. Gehen wir einmal davon aus, der Staat Ägypten ginge tatsächlich in islamistische Hände über. Wird dann die Wirtschaft zusammenbrechen, bleibt der Tourismus aus? Welche Zukunft hat Ägypten dann?

„Allein gestern ist die Börse wegen der Unsicherheit um ein paar Prozentpunkte abgesackt; heute heißt es in den Meldungen, Ägypten versuche durch Visa-Erleichterungen Touristen aus dem Nahen Osten, Tunesien etc., und aus China hereinzuholen. Man hofft also auf Touristen aus Ländern, die normalerweise nicht so sehr an Ägypten interessiert sind; der Tourismusminister träumt von 41 Millionen Touristen im fiskalischen Jahr 2011/2012.
Diese Zahlen stammen aus meiner Sicht aus Wolkenkuckucksheim, aber wenn eine islamistische Regierung da wäre – worst case, sozusagen –, wenn der Präsident durchgreifen würde, was die touristische Infrastruktur anbelangt, wenn es keinen Alkohol mehr gäbe und man als Frau nicht mehr im Bikina an den Strand dürfe, dann würde der Tourismus natürlich deutlich zusammenbrechen.
Ich glaube allerdings: Er wird es sich nicht erlauben können. Ein Islamist wird zu irgendwelchen Kompromissen kommen müssen, wenn er Präsident werden sollte. Er kann dann das, was er im Wahlkampf angekündigt hat, nicht 1:1 umsetzen. Dazu sind andere Kräfte im Lande viel zu stark. Außerdem ist es ja immer noch die Frage, ob er überhaupt Präsident wird.“

Die obligatorische Frage in jedem Interview mit Ägypten seit über einem Jahr heißt: Gibt es einen Exodus der Kopten?

„Exodus ist ein großes Wort, das sich nach großen Mengen anhört. Ich beobachte, dass es immer wieder koptische Familien gibt, die sagen: Hat es überhaupt noch Sinn, zu bleiben? Wir haben den Mut verloren, wir gehen. Interessanterweise erstreckt sich das aber auch auf liberalere muslimische Familien, die sagen: Wir haben Verwandtschaft in Kanada, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, es wird ja doch nur immer schlimmer, und wenn jetzt die Muslimbrüder an die Macht kommen sollten, dann ginge es uns auch an den Kragen, gerade wir als liberale Muslime müssen dann noch mehr leiden als die Christen, denn die Christen haben ja eh ihre Sonderrechte.
Also, da gibt es auch einen Exodus, auf beiden Seiten. Aber ich beobachte nicht, dass er massiv zunähme. Alles ist gespannt und wartet ab. Wie wird es werden? Viele sitzen tatsächlich schon auf gepackten Koffern.“

(rv 30.05.2012 sk)








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