In Ägypten ist in
den letzten Tagen das passiert, was nach dem Sprichwort auch in einem römischen Konklave
gern geschieht: Wer als Papst hineingeht, kommt als Kardinal wieder heraus. Die zwei
Politiker jedenfalls, die als Favoriten in die erste Runde der Präsidentenwahlen am
Nil zogen – Mussa und Abdelfutuh –, landeten unter „ferner liefen“. Stattdessen dürfen
sich die Ägypter in der Stichwahl Mitte Juni zwischen dem Islamisten Mohamed Mursi
von der Muslimbruderschaft und Mubaraks letztem Premier Ahmed Schafik entscheiden.
Wie kommt dieses überraschende Ergebnis der ersten Wahlrunde zustande? Das fragten
wir an diesem Mittwoch den Seelsorger der deutschsprachigen Gemeinde von Kairo, Monsignore
Joachim Schroedel.
„Fast möchte man sagen: Das ist eben die übliche Überraschung
hier in Ägypten, es kommt immer alles anders, als man es sich vorstellt. Ganz wichtig
ist: 45 Prozent der möglichen Wähler waren bis zur Wahl noch unentschieden – und das
kam in den Umfragen natürlich nie so deutlich heraus. Was auch wichtig ist: Man wählt
Stabilität. Und da ist natürlich Ahmed Shafik ein herausragender Kandidat für die
Garantie einer Rückkehr zu gesicherten Verhältnissen. Die letzten 15 Monate waren
sehr chaotisch!“
Ja, aber Shafik hätte doch nach der Wahlordnung eigentlich
gar nicht antreten dürfen: Schließlich war er ja der letzte Ministerpräsident des
Mubarak-Regimes!
„Es gibt sogar einen Gesetzesentwurf, der allerdings im
Moment beim Gericht liegt, und am 11. Juni soll entschieden werden, ob dieses Gesetz
rechtens ist oder nicht. Das heißt: Wie ein Damoklesschwert hängt noch dieser Entscheid
zum Gesetz über ihm. Sollte das Gericht entscheiden, dass in der Tat alle Kandidaten,
die in den letzten zehn Jahren mit Mubarak verbandelt waren, nicht kandidieren dürfen,
dann wäre das das Aus für Shafik – aber es wäre auch das Aus für Mursi, und man müßte
wieder neu wählen!“
Nehmen wir einmal an, Mursi würde tatsächlich ägyptischer
Präsident: Dann hätten wir einen Islamisten an der Spitze des Staates, ein mehrheitlich
islamistisches Parlament. Würden die Militärs unter solchen Umständen überhaupt ihre
Macht an die neue Regierung und den neuen Präsidenten übergeben?
„Gestern
gab es eine sehr lange Pressekonferenz von Mursi, auf der er intensiv zurückruderte.
Man könnte auch sagen: Der Wolf im Schafspelz hat viel Kreide gefressen. Er erklärte,
er würde sofort als gewählter Präsident seinen Vorsitz in der Partei der Muslimbrüder
abgeben, er würde ferner einen Vizepräsidenten ernennen, der natürlich kein Muslimbruder
sei usw. Er will natürlich damit auf Stimmenfang gehen! Das Schwierige ist
nun, dass die Kräfte, die eigentlich mit der Revolution angefangen haben, zwischen
Skylla und Charybdis stehen und dort vielleicht sogar zermalmt werden. Es ist wirklich
eine schwierige Situation. Einige, auch unter den revolutionären Kräften, sagen jetzt:
Mursi wäre immer noch das kleinere Übel, also wählen wir Mursi! Man hört zur Zeit
alles Mögliche, und ich bin froh, dass diese Unruhen von vorgestern doch wieder abgeflacht
sind und man jetzt wohl versucht, zu lavieren. Doch auf Ihre Frage, wie
das Militär die ganze Geschichte beobachtet und unter Umständen akzeptiert, kann ich
nur sagen: Ich glaube, das Militär steht immer noch im wahrsten Sinne des Wortes Gewehr
bei Fuß und wird versuchen, den Mann durchzusetzen, der ihm am genehmsten ist – und
das wäre Shafik. Die Christen übrigens haben sicher mehrheitlich Shafik gewählt oder
eben (den früheren ägyptischen Außenminister und Ex-Generalsekretär der Arabischen
Liga) Amr Mussa. Jetzt hoffen sie sicherlich auf Shafik. Wir werden sehen.“
Die
Christen haben jetzt auch nur die Wahl zwischen Skylla und Charybdis; die Kopten sind
immerhin die größte christliche Gemeinschaft überhaupt im ganzen Nahen Osten, sind
sie unter den derzeitigen Umständen in Gefahr?
„Ich glaube das nicht. Meine
relativ langjährige Erfahrung in Ägypten hat doch immer gezeigt, dass man, wenn es
um die Realpolitik geht und nicht nur um irgendwelche Phrasenpolitik, Wege zueinander
findet. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Christen sicherer leben könnten – diese
Lage, die vor der Revolution schon unangenehm war, wird sich jetzt weiter fortsetzen,
vielleicht auch verschlechtern. Aber ich glaube, die internationale Staatengemeinschaft
wird sehr genau hinschauen – gerade falls ein Muslimbruder zum Präsidenten gewählt
werden sollte –, dass auch die Christen im Lande, diese zehn Prozent oder auch mehr,
ihre Rechte behalten und dass sie gestärkt werden. Schließlich sind es auch die laizistischen
Kräfte hier in Ägypten überhaupt, die immer wieder ganz stark gegen jede Form von
religiöser Vergewaltigung protestieren. Ich glaube, diese Gruppe macht, auch wenn
sie nur klein ist, doch deutlich ihren Mund auf und wird keinen Rückfall in eine Mubarak-Ära
oder in religiöse Fanatismen unterschreiben.“
Die koptisch-orthodoxe Kirche
ist derzeit führerlos; Papst Shenuda III. ist gestorben, ein Nachfolger noch nicht
gewählt. Shenuda hatte der Revolution sehr skeptisch gegenübergestanden. Kann man
heute sagen: Die Skepsis war berechtigt, die Revolution hat in ein Chaos geführt?
„Man
kann in der Tat sagen: Es ist schlechter geworden, die Erwartungen des Volkes auf
möglichst schnelle Besserungen sind enttäuscht worden. Andererseits darf man nie vergessen,
dass Mubaraks Regime ein Unrechtsregime war und dass viele Menschen, darunter Christen
wie Muslime, unterdrückt und mundtot gemacht worden sind. Das war einer der Hauptgründe,
warum die Revolution begonnen hat. Ich denke, man muss zum einen sehen,
dass der Aufstand gegen Mubarak einen Wert in sich darstellt. Das Zweite: Diese Wahlen
so wie auch die Parlamentswahlen waren demokratische Wahlen, und wenn jemand in den
letzten Wahlen zum Präsidenten gesiegt hat, dann ist das die Idee der Demokratie!
Immerhin ist das ein Wert an sich, das ist nicht zu unterschätzen. Es gibt
jetzt natürlich wahnsinnig große Enttäuschungen auf vielen Seiten, aber die Tatsache,
dass offensichtlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist, macht froh. Man kann
doch sagen: Es ist auf dem rechten Weg. Aber es werden die nächsten Tage sein, die
entscheiden, in welche Richtung es geht! Tag für Tag werden wir neue Überraschungen
erleben, da bin ich ganz sicher.“
Viele Muslimbrüder sind fromme Leute,
aber vielleicht nicht der Aufgabe gewachsen, einen Staat zu lenken. Gehen wir einmal
davon aus, der Staat Ägypten ginge tatsächlich in islamistische Hände über. Wird dann
die Wirtschaft zusammenbrechen, bleibt der Tourismus aus? Welche Zukunft hat Ägypten
dann?
„Allein gestern ist die Börse wegen der Unsicherheit um ein paar Prozentpunkte
abgesackt; heute heißt es in den Meldungen, Ägypten versuche durch Visa-Erleichterungen
Touristen aus dem Nahen Osten, Tunesien etc., und aus China hereinzuholen. Man hofft
also auf Touristen aus Ländern, die normalerweise nicht so sehr an Ägypten interessiert
sind; der Tourismusminister träumt von 41 Millionen Touristen im fiskalischen Jahr
2011/2012. Diese Zahlen stammen aus meiner Sicht aus Wolkenkuckucksheim,
aber wenn eine islamistische Regierung da wäre – worst case, sozusagen –, wenn der
Präsident durchgreifen würde, was die touristische Infrastruktur anbelangt, wenn es
keinen Alkohol mehr gäbe und man als Frau nicht mehr im Bikina an den Strand dürfe,
dann würde der Tourismus natürlich deutlich zusammenbrechen. Ich glaube
allerdings: Er wird es sich nicht erlauben können. Ein Islamist wird zu irgendwelchen
Kompromissen kommen müssen, wenn er Präsident werden sollte. Er kann dann das, was
er im Wahlkampf angekündigt hat, nicht 1:1 umsetzen. Dazu sind andere Kräfte im Lande
viel zu stark. Außerdem ist es ja immer noch die Frage, ob er überhaupt Präsident
wird.“
Die obligatorische Frage in jedem Interview mit Ägypten seit über
einem Jahr heißt: Gibt es einen Exodus der Kopten?
„Exodus ist ein großes
Wort, das sich nach großen Mengen anhört. Ich beobachte, dass es immer wieder koptische
Familien gibt, die sagen: Hat es überhaupt noch Sinn, zu bleiben? Wir haben den Mut
verloren, wir gehen. Interessanterweise erstreckt sich das aber auch auf liberalere
muslimische Familien, die sagen: Wir haben Verwandtschaft in Kanada, jetzt ist der
richtige Zeitpunkt, es wird ja doch nur immer schlimmer, und wenn jetzt die Muslimbrüder
an die Macht kommen sollten, dann ginge es uns auch an den Kragen, gerade wir als
liberale Muslime müssen dann noch mehr leiden als die Christen, denn die Christen
haben ja eh ihre Sonderrechte. Also, da gibt es auch einen Exodus, auf beiden
Seiten. Aber ich beobachte nicht, dass er massiv zunähme. Alles ist gespannt und wartet
ab. Wie wird es werden? Viele sitzen tatsächlich schon auf gepackten Koffern.“