„Vatileaks“ stellt Justiz des Papstes vor Herausforderungen
Normalerweise hat es die Justiz des Vatikanstaates mit Handtaschendieben oder Trickbetrügern
zu tun. Als souveräner Staat unterhält er ein eigenes Gerichtswesen, mit Justizapparat,
Beamten und Arrestzellen. Für schwerwiegendere Delikte ist er freilich nicht ausgestattet.
Und der angebliche Geheimnisverrat, dessentwegen jetzt gegen den Päpstlichen Kammerdiener
Paolo Gabriele ermittelt wird, bringt die Justiz des Zwergstaates an Kapazitätsgrenzen.
Nach der vatikanischen Prozessordnung ist zunächst der «Promotore di giustizia»,
Nicola Picardi, gefragt. Wie ein Staatsanwalt hat er nach der Verhaftung Gabrieles
am Mittwochabend die Vorermittlung geleitet, hat den Verdächtigen befragt, der sich
bereits zwei Anwälte genommen hat, und Beweise gesichert. Nach Abschluss dieser ersten
Phase hat Untersuchungsrichter Piero Antonio Bonnet die formalen Ermittlungen eingeleitet.
Der muss schließlich entscheiden, ob der Verdächtige freigelassen oder ein Verfahren
eröffnet wird.
Präsident des Tribunals der Ersten Instanz ist derzeit Giuseppe
Dalla Torre del Tempio di Sanguinetto. Im Berufungsfall steht darüber ein Appellationsgericht,
das Jose Maria Serrano Ruiz leitet. Oberste Instanz ist das Kassationsgericht, dem
drei Kardinäle vorstehen: Raymond Leo Burke - er ist zugleich Präfekt des Obersten
Kirchengerichts der Signatur. Dann der französische Kurienkardinal Jean-Louis Tauran
sowie der erfahrene Diplomat Paolo Sardi.
Die Frage ist, ob und wann und in
welchem Maße die italienische Justiz eingeschaltet wird. Dabei spielen Überlegungen
zu einer möglichen Amtshilfe, aber auch zur Transparenz des aufsehenerregenden Falls
eine Rolle. Der verdächtigte Kammerherr selbst hat die vatikanische und die italienische
Staatsbürgerschaft. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf Taten, die
im Vatikan erfolgten, in die aber auch Personen in Italien involviert sind: etwa der
Buchautor Gianluigi Nuzzi, der das Material verbreitet und daran verdient hat. Noch
zu Wochenbeginn hatte der Vatikan in einem Kommunique gefordert, dass alle beteiligten
Personen - der Dieb, der Auftraggeber, der Hehler, aber auch der am Geheimnisverrat
Verdienende - gerichtlich belangt werden sollten.
Präzedenzfälle gibt es praktisch
nicht. Das Papstattentat erfolgte 1981 auf dem Petersplatz, für den laut Lateran-Vertag
die italienischen Behörden zuständig sind. Ali Agca kam vor die italienische Justiz.
Im Doppelmord am Schweizergarde-Kommandanten Alois Estermann und seiner Frau sowie
dem Selbstmord von Vizekorporal Cedric Tornay stellte sich die Frage nach einer Haftstrafe
nicht, da der Täter aus dem Leben geschieden war. Damals verfasste Picard einen langen
Bericht. Auch der Ungar Lazlo Toth, der 1972 Michelangelos Pieta im Petersdom mit
einem Hammer schwer beschädigte, wurde sofort der italienischen Justiz überstellt.
In einem weniger spektakulären Vorgang wurden die vatikanischen Haftzellen freilich
doch einmal benutzt: Als in den 1970er Jahren italienische Techniker aus dem Papstappartement
von Paul VI. einige Gedenkmünzen mitgehen ließen.
Unklar scheint bislang,
ob und in welchem Umfang der bisherige Hauptverdächtige an dem Geheimnisverrat beteiligt
war und mit wem er zusammenarbeitete. Und noch serwirrender scheint die Frage, aus
welchem Grund der dreifache Familienvater sich auf eine solche Tat einließ, ob Geld
eine Rolle spielte oder ob er erpressbar war. Die von Nuzzi im Buch genannte Version,
die Quelle habe aus Gewissensgründen und aus Ärger über die Scheinheiligkeit und die
Diskrepanz zwischen vatikanischen Fakten und der Wiedergabe in den Medien gehandelt,
passt nicht recht zum Persönlichkeitsprofil.
Im Vatikan hofft man, dass Picardi
und Bonnet rasch Licht in die Tat bringen und das Ausmaß des Geheimnisverrats und
mögliche Hintermänner ausmachen. Denkbar wäre, dass Gabriele im Fall einer Verurteilung
die Strafe in einem italienischen Gefängnis absitzt. Vielleicht stellt man ihn aber
auch im Vatikan unter Hausarrest.