2012-05-24 11:42:23

Italien: „Auffanglager auf Lampedusa wieder eröffnen“


RealAudioMP3 Die Insel Lampedusa muss wieder für die Notaufnahme von Flüchtlingen ausgestattet werden. Das fordert der italienische Minister für Internationale Zusammenarbeit und Integration, Andrea Riccardi. Der Gründer der römischen Basisgemeinschaft Sant’Egidio ist das erste Mitglied der Regierung Monti, das sich öffentlich zum Problem der Einwanderung äußert. Lampedusa war unter der Regierung Berlusconi als Anlaufstelle für Flüchtlinge gesperrt worden. Damit wird die Seenotrettung derzeit vom 200 km entfernten Sizilien aus koordiniert: Bei Notfällen können die Retter bis zu 14 Stunden verlieren; das Leben der Bootsflüchtlinge ist damit zusätzlich gefährdet. Riccardi findet im Interview mit dem ARD-Studio Rom klare Worte:

„Ich bin davon überzeugt, dass diese Entscheidung aufgehoben werden muss – Lampedusa darf kein für Bootsflüchtlinge gesperrter Hafen bleiben. Ich war vor zwei, drei Monaten dort und habe meiner Meinung klar Ausdruck gegeben. Auch wenn Lampedusa nicht in meinem originären Zuständigkeitsbereich liegt, muss ich doch als Minister und als Bürger Verantwortung übernehmen und Folgendes aussprechen: Lampedusa muss (für die Aufnahme von Flüchtlingen, Red.) ausgerüstet werden. Dass Lampedusa nicht ausgerüstet ist, ist hoch gefährlich – für die Bewohner von Lampedusa und vor allen Dingen auch für die Einwanderer.“

Riccardi wünscht sich weiter, dass die Einwanderungsfragen nicht nur national, sondern als europäisches Problem behandelt werden: „Schon allein, weil sich durch die Reisefreiheit in Europa auch die Migranten frei bewegen.“ Für Lampedusa wäre das idealerweise eine gemeinschaftliche, und eben nicht nur italienische Betreuung der Flüchtlinge auf der Insel, unterstreicht der Minister.

Der Staat Italien hat – anders als zum Beispiel Deutschland – noch relativ wenig Erfahrung mit Einwanderern. Der Strom der Zuwanderer hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten konstant zugenommen; heute speist sich das Bruttoinlandsprodukt des Landes zu bis zu elf Prozent aus der Arbeit der Migranten (Studie des italienischen Vereins für Verbraucherrechte ADOC von 2011). Hinzu kommen die illegalen Einwanderer, die unter anderem über das Mittelmeer nach Italien kommen. Riccardi wünscht sich von Italiens Politik und Bürgern eine andere Sicht auf das Phänomen. Und er benennt auch ganz konkrete Ansatzpunkte, wo Integration gefördert werden kann:

„Wir müssen aus der Notsituation herauskommen, aus der heraus Italien die Immigration behandelt hat, und in eine Phase der Integration eintreten. Einwanderung ist in Italien ja keine vorübergehende Erscheinung. Die Immigranten werden bei uns bleiben und zwar für immer. Das müssen die Italiener begreifen, die staatlichen Institutionen müssen das begreifen und ihnen das begreiflich zu machen, ist die Aufgabe meines Ministeriums. Wir müssen von den Notmaßnahmen abkommen und mit der Integration beginnen. Welches sind nun die Orte der Integration? Allen voran natürlich die Schule, es ist das Problem der zweiten Generation. Deshalb will ich auch die italienische Staatsbürgerschaft für die Kinder ausländischer Bürger, die in Italien geboren werden.“

In Italien kommen die Einwanderer aus 150 bis 160 verschiedenen Nationen, merkt Riccardi an. Das Phänomen sei in dem Mittelmeerstaat damit wesentlich „komplexer“ als etwa in Deutschland, wo die meisten Einwanderer Türken, Kurden und Osteuropäer sind. Ist Italien dieser Herausforderung gewachsen? Dazu Riccardi:

„Ich glaube, dass die italienische Gesellschaft stark ist und dass sie Aufnahmekapazitäten hat, auch die italienische Familie hat ihre Stärke. Ich glaube nicht, dass es nur ein „Do-it-yourself“- Integrationsmodell gibt. Sicher, es gibt zwei große Modelle in Europa: Einmal das französische, das an die Identität des Staates glaubt, das andere ist das englische, das an die Stärke der Gemeinschaft glaubt. In Italien gibt es diese Modelle nicht, wir sind pragmatisch.“

Das heiße aber freilich nicht, dass die auch in Italien um sich greifende Krise jetzt auf Kosten der Migranten gehen dürfe, erinnert Riccardi und appelliert an den Gemeinschaftssinn:

„Die Krise wiegt schwer. Auch Ausländer verlieren schließlich ihre Arbeit, auch viele Italiener verlieren ihre Jobs . Wir müssen uns daran gewöhnen, Opfer zu bringen – und auch die Ausländer müssen sich daran gewöhnen, Opfer zu bringen, wobei sie doch schon viele gebracht haben. Doch ich bin zuversichtlich. Meiner Meinung nach ist das größte Problem Italiens heute, dass der Gemeinschaftssinn kaputt gegangen ist. Ich spreche da immer von ,der Mutter der Krise‘. Wir hatten einen wirklich großen Gemeinschaftssinn: die italienische Familie, die Parteien, die Gewerkschaften. Heute sind die italienische Frau und der italienische Mann bei Problemen viel einsamer, sozusagen auf sich selbst gestellt. Das ist eine Schwäche, eine Armut.“

(ard/rv/afp 24.05.2012 pr)







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