Italien: „Auffanglager auf Lampedusa wieder eröffnen“
Die Insel Lampedusa
muss wieder für die Notaufnahme von Flüchtlingen ausgestattet werden. Das fordert
der italienische Minister für Internationale Zusammenarbeit und Integration, Andrea
Riccardi. Der Gründer der römischen Basisgemeinschaft Sant’Egidio ist das erste Mitglied
der Regierung Monti, das sich öffentlich zum Problem der Einwanderung äußert. Lampedusa
war unter der Regierung Berlusconi als Anlaufstelle für Flüchtlinge gesperrt worden.
Damit wird die Seenotrettung derzeit vom 200 km entfernten Sizilien aus koordiniert:
Bei Notfällen können die Retter bis zu 14 Stunden verlieren; das Leben der Bootsflüchtlinge
ist damit zusätzlich gefährdet. Riccardi findet im Interview mit dem ARD-Studio Rom
klare Worte:
„Ich bin davon überzeugt, dass diese Entscheidung aufgehoben
werden muss – Lampedusa darf kein für Bootsflüchtlinge gesperrter Hafen bleiben. Ich
war vor zwei, drei Monaten dort und habe meiner Meinung klar Ausdruck gegeben. Auch
wenn Lampedusa nicht in meinem originären Zuständigkeitsbereich liegt, muss ich doch
als Minister und als Bürger Verantwortung übernehmen und Folgendes aussprechen: Lampedusa
muss (für die Aufnahme von Flüchtlingen, Red.) ausgerüstet werden. Dass Lampedusa
nicht ausgerüstet ist, ist hoch gefährlich – für die Bewohner von Lampedusa und vor
allen Dingen auch für die Einwanderer.“
Riccardi wünscht sich weiter,
dass die Einwanderungsfragen nicht nur national, sondern als europäisches Problem
behandelt werden: „Schon allein, weil sich durch die Reisefreiheit in Europa auch
die Migranten frei bewegen.“ Für Lampedusa wäre das idealerweise eine gemeinschaftliche,
und eben nicht nur italienische Betreuung der Flüchtlinge auf der Insel, unterstreicht
der Minister.
Der Staat Italien hat – anders als zum Beispiel Deutschland –
noch relativ wenig Erfahrung mit Einwanderern. Der Strom der Zuwanderer hat in den
vergangenen zwei Jahrzehnten konstant zugenommen; heute speist sich das Bruttoinlandsprodukt
des Landes zu bis zu elf Prozent aus der Arbeit der Migranten (Studie des italienischen
Vereins für Verbraucherrechte ADOC von 2011). Hinzu kommen die illegalen Einwanderer,
die unter anderem über das Mittelmeer nach Italien kommen. Riccardi wünscht sich von
Italiens Politik und Bürgern eine andere Sicht auf das Phänomen. Und er benennt auch
ganz konkrete Ansatzpunkte, wo Integration gefördert werden kann:
„Wir
müssen aus der Notsituation herauskommen, aus der heraus Italien die Immigration behandelt
hat, und in eine Phase der Integration eintreten. Einwanderung ist in Italien ja keine
vorübergehende Erscheinung. Die Immigranten werden bei uns bleiben und zwar für immer.
Das müssen die Italiener begreifen, die staatlichen Institutionen müssen das begreifen
und ihnen das begreiflich zu machen, ist die Aufgabe meines Ministeriums. Wir müssen
von den Notmaßnahmen abkommen und mit der Integration beginnen. Welches sind nun die
Orte der Integration? Allen voran natürlich die Schule, es ist das Problem der zweiten
Generation. Deshalb will ich auch die italienische Staatsbürgerschaft für die Kinder
ausländischer Bürger, die in Italien geboren werden.“
In Italien kommen
die Einwanderer aus 150 bis 160 verschiedenen Nationen, merkt Riccardi an. Das Phänomen
sei in dem Mittelmeerstaat damit wesentlich „komplexer“ als etwa in Deutschland, wo
die meisten Einwanderer Türken, Kurden und Osteuropäer sind. Ist Italien dieser Herausforderung
gewachsen? Dazu Riccardi:
„Ich glaube, dass die italienische Gesellschaft
stark ist und dass sie Aufnahmekapazitäten hat, auch die italienische Familie hat
ihre Stärke. Ich glaube nicht, dass es nur ein „Do-it-yourself“- Integrationsmodell
gibt. Sicher, es gibt zwei große Modelle in Europa: Einmal das französische, das an
die Identität des Staates glaubt, das andere ist das englische, das an die Stärke
der Gemeinschaft glaubt. In Italien gibt es diese Modelle nicht, wir sind pragmatisch.“
Das heiße aber freilich nicht, dass die auch in Italien um sich greifende
Krise jetzt auf Kosten der Migranten gehen dürfe, erinnert Riccardi und appelliert
an den Gemeinschaftssinn:
„Die Krise wiegt schwer. Auch Ausländer verlieren
schließlich ihre Arbeit, auch viele Italiener verlieren ihre Jobs . Wir müssen uns
daran gewöhnen, Opfer zu bringen – und auch die Ausländer müssen sich daran gewöhnen,
Opfer zu bringen, wobei sie doch schon viele gebracht haben. Doch ich bin zuversichtlich.
Meiner Meinung nach ist das größte Problem Italiens heute, dass der Gemeinschaftssinn
kaputt gegangen ist. Ich spreche da immer von ,der Mutter der Krise‘. Wir hatten einen
wirklich großen Gemeinschaftssinn: die italienische Familie, die Parteien, die Gewerkschaften.
Heute sind die italienische Frau und der italienische Mann bei Problemen viel einsamer,
sozusagen auf sich selbst gestellt. Das ist eine Schwäche, eine Armut.“