2012-05-02 10:10:38

Ukraine: „Europäische Union trägt Mitverantwortung“


RealAudioMP3 Die Ausrichtung der Fußballeuropameisterschaft in Polen und der Ukraine verursacht zur Zeit heftige Diskussionen. Die westliche Welt scheint sich pünktlich sechs Wochen vor Anpfiff daran zu erinnern, dass das Staatsoberhaupt der Ukraine, Viktor Janukowitsch, seit nunmehr zwei Jahren autoritäre Tendenzen an den Tag legt und politische Opponenten mit fragwürdigen Mitteln zum Schweigen bringen will. In Kiew – oder Kiju, wie die Ukrainer ihre Hauptstadt nennen – haben wir den Politikwissenschaftler Andreas Umland, seit 2010 Lektor des DAAD und Dozent an der ukrainischen Nationaluniversität „Mohyla-Akademie“ für ein Interview erreicht. Die Fragen stellte Christine Seuß.


Herr Umland, mancher Politiker plädiert für einen Boykott der Spiele, andere wollen die Spiele sogar nach Deutschland holen, wieder andere – im Übrigen auch Kirchenvertreter – sagen, dass Sport und Politik nicht zusammenhängen und es schädlich ist, die Regierung von Wiktor Janukowitsch zu sehr unter Druck zu setzen. Gibt es denn ein Patentrezept, um mit einer Regierung, die offenbar Menschenrechtsverletzungen begeht und Mitausrichter eines so wichtigen Sportereignisses wie der Fußball-Europameisterschaft ist, umzugehen?

„Ein Patentrezept gibt es natürlich nicht, aber ich hielte einen Boykott der Spiele bzw. eine Verlegung der Spiele in andere Länder für zu weitgehend; im Grunde sind ja auch die Menschenrechtsverletzungen bzw. insbesondere die Verletzungen der politischen Rechte hier schon seit zwei Jahren im Gange. Warum man das Ganze nun erst seit ein paar Tagen so hochgespielt hat, ist für mich auch etwas verwunderlich. Ich denke, eine gute Strategie wäre es, hierher zu kommen und die Spiele hier auszurichten, aber deutlich seine Meinung zu den Vorkommnissen zu sagen und die EM dazu zu nutzen, um Kritik deutlich zu machen.“

Wie erklären Sie sich, dass sich gerade in den letzten Wochen die Kritik gehäuft hat?

„Zwei Faktoren kommen zusammen, zum einen steigt das Interesse an der Ukraine in Zusammenhang mit der EM; Journalisten und Öffentlichkeit interessieren sich insgesamt mehr, und zum anderen gibt es die Konfrontation zwischen der EU und der Ukraine wegen der politischen Verfolgung von Oppositionspolitikern und wegen des Missbrauchs der Justiz durch die gegenwärtigen Machthaber. Es handelt sich bei Julia Timoschenko ja auch um eine sehr schillernde Figur, die im Westen sehr bekannt ist und dadurch jetzt auch tatsächlich diese Aufmerksamkeit erregt.“

Führende Europäische Politiker, wie zum Beispiel unser Bundespräsident Joachim Gauck, haben geplante Besuche in der Ukraine abgesagt. Heißt das, dass wir es nun offiziell mit einer geächteten Regierung zu tun haben?

„In gewisser Hinsicht haben wir es mit einer geächteten Regierung zu tun, aber diese Ächtung hätte schon früher erfolgen sollen, da die großen politischen Weichenstellungen wie die Entmachtung der Opposition, die Manipulation des Rechtsstaates, im Grunde schon seit 2010 deutlich zu sehen waren. Und nun kommt mit einiger Verspätung auch die Reaktion aus dem Westen.“


„EU trägt Mitverantwortung“

Ich denke, dass die EU doch eine gewisse Mitverantwortung für die Ereignisse in der Ukraine trägt, einerseits wegen dieser sehr verspäteten Reaktion auf die antidemokratischen Tendenzen – eine Delegation des Europaparlaments hatte sogar im Frühjahr 2010 kurz nach dem Machtantritt Janukowitschs diesem einen Besuch abgestattet, womit diese Delegation im Grunde die Machtkonzentration unterstützt hat und hier sozusagen ein Signal gegeben hat, das Janukowitsch offenbar so verstanden hat, dass es in Ordnung sei, die Macht derart in seinem Amt zu konzentrieren.
Die zweite Tatsache ist, dass die EU sich nach wie vor weigert, der Ukraine eine ausdrückliche Beitrittsperspektive zu geben und damit im Grunde gegen die Erkenntnisse früherer Demokratisierungsprozesse in Osteuropa verstößt. Die Forschung ist sich einig, dass eine Mitgliedschaftsperspektive für Länder wie Rumänien, Bulgarien, die Slowakei oder nun auch Serbien oder sogar die Türkei eine wichtige Rolle für die innenpolitischen Entwicklungen gespielt hat; ohne eine solche Perspektive kranken diese postautoritären Staaten an den Zerwürfnissen und Problemen, die man aktuell in der Ukraine beobachten kann.“

Hat die Ukraine unter diesen Voraussetzungen denn eine Chance, dennoch den Aufnahmeprozess in die Europäische Union anzustoßen?

„Zur Zeit sind es gar nicht nach einem Beitritt der Ukraine in die EU aus. Zunächst geht es gar nicht um eine Beitrittsperspektive, sondern um den Abschluss des Assoziierungsabkommens, das in den letzten Jahren verhandelt wurde und jetzt im Grunde vorliegt. Dieses Abkommen schließt ein Freihandelsabkommen mit ein, aber dieses gesamte Vertragswerk ist nun auf Eis gelegt. Und zur Zeit ist eine Unterzeichnung nicht abzusehen. Das ist sowohl für die Ukraine als auch für die EU traurig.“

Kann die Ächtung der Politik Einfluss nehmen auf die anstehenden Parlaments-Wahlen im Oktober?

„Wahrscheinlich wird das eine Diskreditierung der jetzigen Machthaber befördern und, so hoffe ich, der Opposition helfen. Allerdings sollte man nicht die Kontakte abbrechen und nicht hierher reisen, sondern vielleicht gerade im Gegenteil hierher kommen und sagen, dass es so eben nicht geht. Im Grunde könnte man sehr leicht und schnell eine Entspannung schaffen, indem man Frau Timoschenko für eine Behandlung in der Charité in Berlin ausreisen lässt, aber es gibt hier seitens der Machthaber offensichtlich eine panische Angst und tiefe Antipathie gegenüber dieser Frau. Und das ist wohl nicht mehr rational zu erklären. Wenn sich das noch weiter verhärtet, wird es wohl auch hier in der ukrainischen Gesellschaft zu brodeln beginnen, weil die Annäherung an Europa doch immer noch ein wichtiger Faktor der Legitimierung dieses Regimes gewesen ist.“

Die führenden Oppositionsparteien, die „Vaterlandspartei“ von Julia Timoschenko und die Partei des früheren Parlamentspräsidenten Arseniy Yatsenyuk, haben sich vor Kurzem auf ein Wahlbündnis geeinigt. Kann dieses Bündnis die Mehrheitsverhältnisse im Parlament entscheidend verändern?

„Das hofft man, dass die Einigkeit in der Opposition sich in genug Sitze im Parlament umsetzt, so dass es zu einer Gewichtsverschiebung kommt. Allerdings muss man sagen, dass nach der Rücknahme der Verfassungsreform von 2004 durch Janukowitsch nach seiner Wahl im Jahr 2010 nun der Präsident einen Großteil der Macht hat, so dass ein Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen zwar eine erhebliche Bedeutung hätte, aber das letzte Wort doch weiterhin bei Janukowitsch liegen würde. Momentan sieht es aber doch danach aus, dass bei regelgerechten und gerechten Wahlen die Opposition gewinnen würde.“

(rv 02.05.2012 cs)









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