Die Koran-Verteilaktion
bringt einmal mehr das Verhältnis zwischen Islam und deutscher Gesellschaft auf den
Plan. Mehr nur als die Absicht der Salafisten werden mit Sätzen wie „der Islam gehört
nicht zu Deutschland“ grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Nicht zuletzt auch die nach
dem Verständnis von Schrift und Offenbarung, im Islam wie im Christentum. Was sagt
man jemandem, der in einer Fußgängerzone einen Koran mit der Aufforderung „Lies!“
verteilt? Was ist das, der Koran, jenseits der Vorurteile unserer Kultur? Und warum
diese Aktion Politik und Gesellschaft so nervös? Ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler
und katholischen Theologen Pater Felix Körner, Dozent an der päpstlichen Universität
Gregoriana in Rom.
„Die Mehrheit der Menschen, die hier das erste mal mit
dem Koran in Berührung kommt, entdeckt damit eine neue Welt, entdeckt, dass es hier
viele Diskussionsmöglichkeiten gibt und dass es ungeheuer anregend ist, sich mit dem
Koran auseinander zu setzen. Insofern ist die Aktion „Lies!“ erst einmal nicht gefährlich,
sondern bereichernd.“
Aber was ist das Verunsichernde am Koran, es sind
ja nicht nur die Salafisten, die ihn verteilen?
„Zweierlei. Verunsichernd
daran ist, dass mit so viel Begeisterung eine andere Religion, die auch mit einer
anderen Kulturprägung daherkommt, und plötzlich so deutlich, mit so viel Energie –
und offenbar auch mit viel Geld – begegnet. Was darüber hinaus verunsichernd
sein kann, ist Folgendes: Bis auf die erste Sure, die ein Gebet ist, sprechen alle
anderen Texte im Koran mit dem Anspruch, hier kommt Gott selbst zu Wort und redet
Dich an. Diese Unmittelbarkeit gibt es auf der Seite der christlichen Bibel nicht.
Die christliche Bibel sagt immer, dass hier ein bestimmter Autor erzählt, hier schreibt
der Apostel Paulus, hier schreibt Lukas die Jesusgeschichte an Theophilus und so weiter.
Dieser Anspruch, dass Gott höchstpersönlich und unvermittelt spricht, der stellt dem,
der das eigentlich nicht als Wort Gottes anerkennen will, die Frage, wie wehre ich
mich gegen diesen Impuls, der mit dem Anspruch kommt, dass mich hier Gott anredet.“
Bei
der Aktion geht es ja nicht nur um das Verteilte – den Koran – sondern auch um die
Verteiler, die Salafisten. Was für eine Theologie steckt da dahinter?
„Die
Salafia macht etwas typisch modernes, auch wenn Sie sich auf das Mittelalter beziehen.
Die sagen, dass unsere Zeit Produkt einer Verfallserscheinung ist und dass wir unsere
Identität verloren haben. Um wieder echt „Wir“ sein zu können, müssen wir heute zurückgreifen
auf die Altvorderen, auf die ersten Vorbilder, und die heißen auf Arabisch die „Salaf“.
Die
Rückkehr zu den Ursprüngen ist notwendigerweise immer eine Fiktion, denn ich kann
ja nicht zurück in der Zeit. Das gibt es im Christentum mit dem Sprechen über das
Urchristentum auch. Warum macht uns diese Fiktion so nervös?
„Wer sagt,
dass eine Bewegung aus dem siebten Jahrhundert nach Christus genau das getan hat,
was wir heute tun müssen, der geht natürlich mit einer gewissen Blindheit vor. Der
sieht die heutigen Herausforderungen an Religion, an Weltanschauung, an Lebensordnung
nicht als konstruktive Fragen und interessante Herausforderungen, sondern als etwas,
was ich nur damit beantworten kann, dass ich mich davor verschließe und über 1.000
Jahre zurück greife. Die Auseinandersetzungsfreudigkeit ist bei solchen
Rückgriffversuchen natürlich gering bis nicht vorhanden.“