Eine halbe Million
Menschen sind in Syrien derzeit auf der Flucht, zwischen 90.000 und 100.000 Syrer,
darunter zahlreiche Familien mit kleinen Kindern, sind in das benachbarte Jordanien
geflohen. Das geht aus Schätzungen des UNHCR und Berichten des Internationalen Jesuitenflüchtlingsdienstes
hervor.
„Ein großes Problem ist, dass die Hilfsorganisationen keine ausländischen
Mitarbeiter ins Land bringen können, weil sie keine Visa bekommen. Das heißt, dass
ihre Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt ist. Es gibt im Land ein Paar Hilfsorganisationen,
doch sind zivilgesellschaftliche Strukturen, zu denen ja auch Nichtregierungsorganisationen
und Hilfsorganisationen gehören, aufgrund des politischen Systems nicht stark ausgeprägt.“
Judith
Behnen von der deutschen Jesuitenmission ist in den vergangenen Tagen mit dem Leiter
des Internationalen Jesuitenflüchtlingsdienstes, Pater Peter Balleis SJ, durch Syrien
und Jordanien gereist. Während große internationale Hilfsorganisationen immer noch
enorme Schwierigkeiten haben, in Syrien humanitäre Hilfe zu leisten, setzt der Jesuitenflüchtlingsdienst
auf lokale Netzwerke und Nachbarschaftshilfe, die von Jesuiten vor Ort koordiniert
werden, erzählt sie im Interview mit Radio Vatikan:
„Die Jesuiten können
in Homs, Aleppo und Damaskus zusammen mit der Caritas und der lokalen Kirche auf einem
bestimmten Level Hilfe leisten, zum einen weil die Strukturen für die irakischen Flüchtlinge
schon bestehen und zum anderen, weil es viele freiwillige junge Leute gibt, Christen
und Muslime, die Nachbarschaftshilfe leisten. Das Ganze funktioniert aber nur über
persönliche Kontakte und die lokale Kirche vor Ort, es gibt keine großangelegten Hilfsapparate.
Das ist im Moment wirklich nicht möglich.“
Der Internationale Jesuitenflüchtlingsdienst
kümmert sich seit 2008 in Syrien und Jordanien um irakische Flüchtlinge. Diese bestehenden
Hilfsstrukturen würden jetzt für die syrischen Flüchtlinge genutzt, darunter Christen
wie Muslime. Ob Lebensmittel, Kochutensilien, Matratzen oder Miethilfen, mit schon
ein Paar Euro könne den Menschen geholfen werden, berichtet Behnen. Dabei profitierten
die Flüchtlinge auch von der Unterstützung der irakischen Flüchtlinge, die bisher
nicht in ihr Land zurückkehren konnten. Ein Prinzip jesuitischer Hilfsarbeit: die
Mobilisierung von Flüchtlingen für Flüchtlinge. Dazu Behnen:
„Dieses Prinzip
hat große Solidarität zur Folge und schafft Vertrauen. Ich war mit einer älteren Frau
aus dem Irak in Jordanien unterwegs, die sagte: ,Das ist genau das, was wir damals
erlebten, als wir 2003 oder 2007 aus dem Irak gekommen sind. Seht zu, dass ihr nicht
zu lange im Provisorium lebt, schickt eure Kinder sofort in dies Schule, gebt den
Traum auf, nach zwei Wochen sofort wieder nach Hause zu kommen, das ist nicht realistisch.’“
Viele
der Flüchtlinge haben schon eine regelrechte Odyssee quer durch das Land hinter sich.
Neben Unsicherheit, Obdachlosigkeit und Verarmung hätten zahlreiche Menschen, vor
allem Kinder, mit psychischen Folgen der Gewalt zu kämpfen.
„Die kommen
aus Städten wie Homs, also Orten, die bombardiert werden und wo Familien vor der Gewalt
fliehen müssen. Wir haben viele getroffen, die schon mehrfach weitergezogen sind.
Eine Familie aus Homs war erst in einem Dorf in Zelten untergebracht, sie hatten nur
noch ihr Auto, sind dann weiter nach Damaskus gezogen. Es gibt Flüchtlinge, die schon
die zweite, dritte Station hinter sich haben, weil sie Schutz gesucht haben an Orten,
die dann zu Schauplätzen kämpferischer Handlungen wurden. Viele der Kinder sind traumatisiert
und haben Alpträume, die Eltern lassen sie nicht mehr aus dem Haus.“ Was wünscht
sich die syrische Bevölkerung mit Blick auf die politische Zukunft ihres Landes? Der
Friedensplan der Vereinten Nationen steht auf wackeligen Füßen, ebenso scheint die
vereinbarte Waffenruhe immer wieder gebrochen zu werden. Nach zahlreichen Gesprächen
mit Kirchenleuten, Christen und Muslimen in Syrien – Behnen war in Aleppo, in Damaskus
und in den jordanischen Grenzgebieten unterwegs – kommt sie zu folgendem Schluss:
„Also
es ist ganz klar: Es gibt auf christlicher Seite beide politische Positionen und es
ist eindeutig kein Religionskonflikt, das geht quer durch. Ich glaube, dass es in
dem Konflikt ganz unterschiedliche Interessen gibt, auch politische, dass es eigentlich
schon ein regionaler Konflikt ist, weil die Nachbarländer und die Internationale Gemeinschaft
mit unterschiedlichen Interessen darauf einwirken. Für die Jesuiten vor Ort ist völlig
klar, dass es ihnen selbst nicht um Politik, sondern um humanitäre Hilfe geht. Das
Leiden jedes Einzelnen zählt, egal auf welcher Seite er steht.“
Das Problem
sei freilich, dass die Grenze der Gewalt „von beiden Seiten“ überschritten worden
sei:
„Beide Seiten haben Grenzen überschritten, wenn man sich anhört, welche
Gräueltaten verübt wurden. Dadurch ist eine politische und friedliche Lösung zu finden,
man hat das Gefühl, so viele Erinnerungen, so viel Wut, Frustration und Anspannung
ist aufgeladen, an der Oberfläche – vor allem in den Zentren der großen Städte – scheint
das Leben normal weiterzugehen, doch es droht immer die Gefahr, dass es doch eskaliert.
Viele haben uns gesagt: ,Wir glauben nicht, dass Kofi Annans Friedensplan aufgeht,
sondern denken, es wird weiter eskalieren.’“
Das ganze Interview mit
Judith Behnen hören Sie durch Anklicken des Lautsprechersymbols oben links: Die Mitarbeiterin
der Jesuitenmission hat auf ihrer Reise auch zahlreiche Meinungen der syrischen Bevölkerung
zur politischen Lage in Syrien eingefangen. Diese Berichte hören Sie im zweiten Teil
des Interviews.