Norwegen: „Ein Schlag ins Gesicht der Angehörigen“
In Norwegen hat der
Prozess gegen den Massenmörder Breivik unter großer medialer Anteilnahme begonnen.
Im domradio.de-Interview analysiert der Kriminalpsychologe und Traumaexperte Christian
Lüdke die Bedeutung für die Hinterbliebenen, den Auftritt des Attentäters und die
Rolle der Medien.
„Der Prozess bedeutet für die Angehörigen zweierlei: Zum
einen bekommt dieses traumatische Ereignis endlich einen Abschluss; sie können mit
einer Verurteilung beginnen, ihren inneren Seelenfrieden wiederzufinden und das Ganze
zu verarbeiten. Auf der anderen Seite bedeutet dieser Prozess für die Angehörigen
auch eine absolute Zumutung, indem man dem Täter dort die Gelegenheit gibt, sich zu
präsentieren und selber zu inszenieren. Damit werden viele der Angehörigen erneut
zum Opfer gemacht. Das ist ein Schlag in ihr Gesicht.“
Wichtig ist der
Prozess - aber auch hart. Hart durch die Art der Inszenierung des Täters. Gestern
hob er gleich den Arm zum provozierenden Gruß. Was geht da in den Angehörigen vor?
„Für die Opfer ist das eine absolute Verhöhnung, eine Entwürdigung.
Es ist absolut respektlos, so aufzutreten; im Grunde genommen sich selber als Narzisst
im Vordergrund zu sehen. Breivik, der ein antisozialer Täter ist und keine Gefühle
kennt, kennt nur sich selbst. Für die Opfer ist das besonders schlimm, den Täter so
zu erleben.“
Eine falsche Prozessführung?
„Die
Prozessführung erfolgt vor dem Hintergrund juristischer Gegebenheiten. Allerdings
sollte man hier in erster Linie auch die Bedürfnisse der Opfer schützen, d.h. man
sollte ihnen Vieles ersparen, Einiges sollten sich die Richter und Staatsanwälte alleine
anhören. Und man sollte dem Täter möglichst wenig Spielraum geben; ihm keine Bühne
verschaffen, auf der er sich dann mit seinen krankhaften Vorstellungen und Phantasien
weiter präsentieren kann.“
Es gibt Überlegungen, dass Opfer und Angehörige
noch einmal zur Insel fahren und sich dort ihren Ängsten stellen. Was halten Sie von
dieser Idee?
„Für viele Angehörige ist es wichtig, dass sie noch mal an
den Ort fahren, wo ihre Kinder die letzten Minuten und Sekunden ihres Lebens verbracht
haben. Die Eltern wollen ihnen dadurch noch mal sehr nahe sein, sie wollen es miterleben
und mitspüren. Für viele Angehörige und Eltern ist es das Einzige, was sie noch für
ihre Kinder tun können; sie sind es ihnen schuldig, diesen Ort aufzusuchen - und dann
auch diesen Ort durchzustehen.“
Andererseits hört man, dass viele einfach
nur vergessen wollen, es gibt wohl im Internet auf verschiedenen Seiten eine Art "Terrorknopf".
Wenn man auf den klickt, dann verschwinden alle Nachrichten rund um das Thema. Ist
das eine gute Methode?
„Es ist für manche Betroffene wichtig,
erst mal ganz viel Ruhe und Abstand zu bekommen, keine Nachrichten dazu mehr zu hören
und zu lesen, weil der Schmerz einfach zu tief sitzt. Eltern, die ihre Kinder dort
verloren haben, haben das Schlimmste erlebt, was Eltern passieren kann. Denn es werden
zwei Lebensgesetze gebrochen: Die Kinder sterben vor den Eltern, und die Kinder sterben
eines nicht natürlichen Todes. Eltern, die so etwas erleben, sind im Grunde genommen
untröstlich Von daher kann es manchmal wichtig sein, wirklich alle Informationen
auszublenden, um nicht immer weiter und noch tiefer in diesen Schmerz hineinzugeraten.“
Viele
kritisieren das zu hohe mediale Interesse, auch jetzt an dem Prozess. Wie schätzen
Sie das ein, hilft das den Opfern und Angehörigen, oder macht es alles noch viel schwerer
zu ertragen?
„Die mediale Berichterstattung ist wichtig, um Hintergründe
aufzuklären, auch um vielleicht einen Beitrag zu leisten, solche grauenvollen Taten
zukünftig zu verhindern. Allerdings sollte in der Berichterstattung nicht nur der
Täter im Vordergrund stehen, sondern die Interessen der Opfer sollten gewahrt werden;
es sollte in vielen Bereichen einfach auch sachlich erfolgen. Vieles, was die Opfer
erneut kränken könnte oder sie weiter schmerzhaft treffen würde, sollte man ausblenden.“