„Ein Journalist hat
Mahatma Ghandi einmal gefragt, was er von der westlichen Zivilisation halte. Und Ghandi
hat geantwortet: Das wäre eine schöne Idee! Nun, die Unabhängigkeit Lateinamerikas
wäre auch so eine ‚schöne Idee’, sie wurde nur noch nicht umgesetzt.“
Eduardo
Galleano, Philosoph und Schriftsteller aus Uruguay, ist skeptisch, was diese Unabhängigkeit
Lateinamerikas angeht. 200 Jahre lang sind die Staaten jetzt eigenständig, 2010 haben
Chile und Bolivien mit den Feierlichkeiten begonnen, bis 2023 werden sie sich ausdehnen,
je nachdem, wann ein Land seine Unabhängigkeit erklärt hat.
Ein Grund für die
Reise des Papstes nach Lateinamerika ist diese Zeit der Feiern, El Bicentenario. So
wird er in León eine Messe in einem Park feiern, der eigens für die Jubiläumsfeiern
angelegt wurde. Es wird ihm um Hoffnung und um Zuversicht gehen, was die Entwicklung
der Länder angeht, die er besucht: Hoffnung in der Auseinandersetzung mit dem Drogenkrieg
in Mexiko, Zuversicht beim Wandel in Kuba. Aber auch die übrigen lateinamerikanischen
Länder sind gemeint.
Ein Blick zurück in die Geschichte: Die in den Kolonien
geborenen Nachkommen der spanischen und portugiesischen Eroberer wurden zunehmend
unzufrieden mit der Regierung durch die Europäer. Thomas Fischer, Professor für die
Geschichte Lateinamerikas an der Universität Eichstätt:
„Seid den 1760er Jahren
war die spanische Krone darum bemüht, ihre Kolonien effizienter zu führen und sie
wirtschaftlich und auch hinsichtlich des Selbstverständnisses das Mutterland – die
„Madre Patria“ – zu binden. Bei den Kreolen kam hinzu, dass ihnen der Aufstieg bis
in die Spitzenposten der Gesellschaft verwehrt war. Ausschlaggebend dafür, dass es
ab 1808 tatsächlich zur Eskalation kam, war dann der Einfall der napoleonischen Truppen
in Spanien und Portugal. Das führte in Lateinamerika zu einem Herrschaftsvakuum und
zu einen Legitimationsdefizit.“
Ein schwaches Spanien und das Selbstbewusstsein
der Kolonien stehen am Beginn der Unabhängigkeit. Bis zu zwei Jahrzehnte Bürgerkrieg
folgten, die neuen Staaten entstanden und durchliefen ihre nicht einfache Geschichte
mit den Caudillos und Militärherrschern, mit Oligarchen und Aufständen. Aber es war
auch eine Geschichte, in der sich eine eigene Kultur und Identität bilden konnte.
Unabhängigkeit – das bedeutet auch, dass sich die Länder heute nicht mehr über ihren
ehemaligen Status als Kolonie identifizieren. Das ist einer der Gründe, weswegen der
Papst zu den Feiern über den Atlantik fliegt.
Lange Zeit hatte es geheißen,
dass die Kirche dieser Unabhängigkeit im Wege stehe. Gerade in Mexiko war diese antikirchliche
Einstellung Teil des bürgerlichen Bewusstseins, die Kirchenverfolgungen sind noch
nicht lange vorbei. Erst vor einigen Wochen ist die Religionsfreiheit Teil der Verfassung
Mexikos geworden. Auch das ist Teil der Geschichte der Unabhängigkeit. Ein mühsamer
Weg, auch für die Kirche.
Die Herausforderungen der Gegenwart sind neuer Art.
In einer zunehmend multipolaren Welt, in der nicht mehr allein Europa und die USA
den Ton vorgeben, werden die Länder des Südens zunehmend eigenständiger. Gerade Brasilien
und auch Chile sind Beispiele für wirtschaftliche Schwellenländer, andere Staaten
tun sich da aber noch etwas schwerer. Aber die Tendenz ist eindeutig. Zur wirtschaftlichen
Entwicklung gesellt sich auch die kultur und das Selbstbewusstsein, gesellt sich die
identität der Ureinwohner und das Verständnis der eigenen Rolle in der Welt. Noch
einmal der Philosoph Eduardo Galleano:
„Ich glaube, dass auf diesem Kontinent
zur Zeit wichtige Dinge geschehen. Es ist wie eine Art Wiedergeburt in einigen Lateinamerikanischen
Ländern, die ein Bewusstsein für ihre Würde entwickeln, das verloren schien. Oder
zumindest betäubt. Und das jetzt mit großer Kraft erwacht.“