Der Blutrache in den
nordalbanischen Bergen hat eine kleine Gemeinschaft von Schweizer Schwestern den Kampf
angesagt. Was mittelalterlich klingt, ist in Nordalbanien immer noch weit verbreitet:
Als Schwester Christina von der Spirituellen Weggemeinschaft, Oberin eines Klosters
in Skodar, 1999 nach Albanien kam, wurde sie schon bald mit Anwohnern konfrontiert,
die von Blutrache betroffen waren. Die engagierte Ordensfrau war in diesen Tagen in
Rom; Christine Seuss hat mit ihr gesprochen.
Kanun heißt das antike albanische
Gesetz, dessen weitläufiges soziales Regelwerk für bestimmte Ehrverletzungen die Blutrache
vorsieht: Der Entehrte kann sich nicht nur, nein muss sich sogar mit einem Ehrenmord
rächen, um seine oder die Seele eines seiner Vorfahren zu erlösen. Blutrache ist heutzutage
natürlich auch in Albanien von Gesetz her verboten, sie wird aber vor allem in Nordalbanien
immer noch praktiziert. Schwester Christina will Kinder und ihre Familien aus dem
Sog solcher Vorstellungen entziehen, die dem christlichen Verständnis widersprechen:
„Opfer von Blutrache zu sein heißt: Die Menschen unterliegen dem Gesetz
der Berge und sind gleichzeitig Opfer dieses Gesetzes. ,Sie unterliegen dem Blut‘,
sie sollen also getötet werden für eine Tat, die irgendjemand aus der Sippe getan
hat. Diese Jugendlichen haben sich durch den Kontakt und die Arbeit mit uns entschieden,
dieses alte Gesetz zu durchbrechen und sich auch dazu zu äußern, dass sie unschuldige
Opfer sind. Sie haben dem Kanun voll abgesagt und wollen nach dem christlichen Gesetz
leben – sie sind alle Katholiken.“
Christlich leben heißt in diesem Fall
vor allem, dem Prinzip der Vergebung im eigenen Leben Platz zu geben, aus dem Kreislauf
der Rache auszusteigen. Die meisten Menschen in der Region wünschten sich genau dies,
fänden aber allein nicht die Kraft für einen Ausstieg. Hier setzt die Arbeit der Schwestern
an:
„An dieses Muss, an den Zwang ranzukommen, das ist das Ziel: dass sie
es nicht mehr müssen. Ich, der getötet werden soll, bin Opfer des Kanuns, und der
Rächer auch. Wenn sie das begreifen, dass sie Opfer sind von einer Idee, wäre das
der Weg, dass sie nicht länger Opfer sein wollen. Und das haben die Jugendlichen hier
getan, sie ,outen‘ sich, das ist ein Riesenschritt. Die Opfer selbst müssen diesen
Schritt tun, wir müssen nur helfen, dass sie ihn tun.“
Sr. Christina geht
es um einen Bewusstseinswandel: Bei ihrer Arbeit bezieht sie auch die Familien der
Jugendlichen mit ein, die sie zu Gesprächskreisen ins Kloster einlädt. Nach der Station
in Rom fährt sie mit ihrer Gruppe Schützlinge – alles jugendliche „Kanun-Aussteiger“
– quer durch Deutschland, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Mit dabei ist die
junge Albanerin Pranwera; sie sagte gegenüber Radio Vatikan:
„Ich bin zwar
nicht direkt von der Blutrache betroffen, aber mein Onkel mütterlicherseits, so dass
ich miterlebt habe, was es heißt, in so einer Situation zu leben. Man kann kaum in
Worte fassen, wie schwierig das ist… Wir machen diese Reise, um der Welt zu zeigen,
dass dieses Phänomen existiert!“
Papst Benedikt empfing die jungen Albaner
und Albanerinnen am vergangenen Mittwoch in Audienz.Schwester Christina ist
froh über die Entwicklung, die die jungen Menschen in den vergangenen Jahren gemacht
haben. Sie sieht in ihrer „Befreiung durch den Glauben“ auch positive Zeichen für
die Zukunft der katholischen Kirche in Albanien:
„Diese jungen Menschen
glauben jetzt auch nicht mehr daran, dass die Seele nur befreit ist, wenn sie gerächt
ist. Es geht mir darum, dass die Menschen verstehen, wie sehr sie gebunden sind durch
dieses Gesetz. Dass sie verstehen, dass eigentlich unser Glaube die Befreiung ist.
Und das ist die Chance der Kirche. Blutrache ist nicht einfach nur Strafvollzug, sondern
das ist ,Wiederherstellung der Ehre‘, das ist ein Mythos und Ahnenkult. ,Die Seele
wird erst erlöst, wenn sie gerächt ist‘ – das ist eine tiefe Verirrung der menschlichen
Seele. Und wenn wir authentisch mit unserer Botschaft sind, dass man das Blut des
anderen nicht mehr zum Rächen braucht, weil wir an das Opfer Christi glauben, der
alles gesühnt hat, dann sind wir einen Schritt weiter! Das ist unsere Botschaft, die
wir wenigen Schwestern ganz klein mit unserem Leben dem Kanun entgegen setzen.“
Auf
dem schwierigen Weg, die Jugendlichen dazu zu ermuntern, selbst über ihr Leben zu
entscheiden, sei der Glaube auch für sie selbst von entscheidender Bedeutung, fügt
Schwester Christina an. So war auch die Begegnung mit Papst Benedikt XVI. für sie
eine echte „Kraftquelle“:
„Für mich war es, als würde ich das ganze albanische
Volk, das von diesem Phänomen betroffen ist, einfach zu Füßen des Heiligen Vaters,
der der Vertreter von Christus ist, liegen. Meine Empfindung war, dass ich es auch
Gott übergebe, da noch viele Wunder geschehen müssen, die aber auch geschehen werden.“