Nigeria: "Alle haben erkannt, dass es ohne Dialog nicht geht"
Die islamistische
Terror-Sekte Boko Haram versetzt ganz Nigeria in Angst und Schrecken. Zu Weihnachten
gab es eine verheerende Anschlagsserie vor allem gegen christliche Kirchen, bei Attacken
gegen Polizeistationen Anfang des Jahres kamen allein am 20. Januar in Kano mehr als
180 meist unbeteiligte Menschen um. Und letzte Woche ein neuerlicher Anschlag auf
eine Polizeistation, bei dem vier Beamte starben. Toni Görtz ist Länderreferent des
katholischen Hilfswerks missio und ist kürzlich von einer Reise ins Krisengebiet zurück
gekommen. Wir haben ihn gebeten, uns von seinen Erfahrungen zu berichten.
„Ich
bin zweieinhalb Wochen kreuz und quer durch Nordnigeria gereist, und ich muss sagen,
das Land ist in einer Schockstarre. Gerade in Kano, das war etwa einen Monat nach
den schweren Anschlägen vom 20. Januar, war die Stadt eine völlig andere, als ich
sie von früheren Reisen her kannte; die wenigen Autos die unterwegs waren, stauten
sich dann vor Polizei- und Militärkontrollen, wo Uniformierte mit Maschinenpistole
im Anschlag standen und jedes Fahrzeug kontrollierten.“
Was bedeutet Ihrer
Meinung nach die Anschlagsserie einer so militanten islamistischen Gruppierung wie
Boko Haram für das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in den betroffenen
Gebieten?
„Also es ist ja in den westlichen Medien immer wieder berichtet
worden, dass angeblich Boko Haram eine Christenverfolgung betreibe, und dass es darum
ging, Christen zu treffen. Da muss man einfach sagen, das ist falsch. Kenner
schätzen, dass drei Viertel der getöteten Menschen durch Boko Haram Muslime sind.
Das heißt, ein Viertel sind Christen, das ist eine Minderheit. In der Regel sind es
keine gezielten Anschläge gegen Christen, von einigen wenigen Ausnahmen wie zum Besipiel
dieses Attentat zu Weihnachten in Maddala bei Abuja abgesehen, wo Christen das direkte
Ziel waren.“
Wie reagiert denn die Bevölkerung denn auf diese Art von
konfessionsuebergreifender Bedrohung?
„Was man in der Praxis feststellt,
ist zum Besispiel in Kano, dass wenn Christen sich zum Gottesdienst treffen, dass
dann sehr häufig Muslime vor der Kirche den Sicherheitsdienst mitmachen. Also die
Leute werden kontrolliert, Autos werden kontrolliert, dass keine Bomben versteckt
sind, Menschen werden abgetastet und mit Metalldedektoren untersucht, das machen sehr
häufig vor christlichen Gottesdiensten dann Muslime und freitags umgedreht kommen
Christen und helfen den Muslimen, ihre Moscheen während des Gebetes zu sichern.“
Diese
spontanen Solidaritätsbezeugungen können wohl kurzfristig etwas Sicherheit vermitteln,
aber kann das Problem denn Ihrer Ansicht nach langfristig gelöst werden?
„Das
ist eine fast wunderbare Bewegung, dass beide Seiten erkannt haben, dass es einen
Ausweg nicht gibt außer über den Dialog. Ohne Dialog ist kein Ausweg möglich, wenn
das Land weiter gespalten wird in zwei Teile, wo man sagt, Christen und Muslime sollen
voneinander getrennt werden, dann werden sich die Spannungen nur verschärfen, eine
Lösung ist nur über den Dialog möglich, und da sind sich sowohl die muslimischen Führer,
als auch die christlichen Führer, einig. Eine endgültige Lösung dieses Boko Haram
Problems, dieses Terrorproblems, wird es nur geben, wenn es eine gesamtgesellschftliche
Lösung gibt.“
Können Sie uns etwas zur Geschichte der Unruhen erzählen,
die ja gerne als Gegensatz zwischen Christen und Muslimen bezeichnet werden?
„Es
gibt ja in Nigeria seit 15 bis 20 Jahre schon immer wieder Unruhen, wo angeblich Christen
und Muslime gegeneinander gekämpft haben. Und jetzt könnte man noch hingehen und zwei
verschiedene Konfliktlinien voneinander unterscheiden, nämlich auf der einen Seite
die früheren Konflikte, wo Ackerbauern, die Christen und Schwarzafrikaner sind, sich
gewehrt haben gegen Muslime, die mit ihren Viehherden von Norden her gekommen und
in Felder eingefallen sind, und dadurch hat es immer wieder zwischen den beiden Gruppen
Konflikte gegeben , und die Ackerbauern waren immer Christen, und die Viehhirten
waren immer Muslime, und daraus ist früher schon ein Krieg zwischen Christen und Muslimen
gemacht worden, was auch ein Unsinn ist, da ging es um diese wirtschaftlichen Gegnsätze
aber nicht um Religion.“
Auf der anderen Seite sehen Sie die aktuellen
Konflikte, die hauptsächlich Boko Haram zugerechnet werden. Wie kommt es dazu, dass
Boko Haram derart militant agiert?
„Wenn man schon in die Geschichte schaut
dieser Bewegung, die wird oft Sekte genannt, und Boko Haram ist auch als Sekte entstanden,
2002, damals, um den Islam zu reinigen. Das heißt, Boko Haram vom Ursprung her ist
eine Bewegung, die konservativ ist, im Islam beheimatet ist, und die einen konservativen
Islam schaffen wollte. Dann ist Folgendes passiert im Laufe der Zeit, dass 2009 der
Führer dieser Sekte, Jussuf mit Namen, verhaftet worden ist. Und was leider in Nigeria
relativ häufig passiert ist, dass Verhaftete bei der Polizei nicht menschengerecht
behandelt werden, Jussuf ist gefoltert und umgebracht worden bei der Polizei,undseitdem ist die frühere Sekte Boko Haram zur Terrororganisation mutiert,
die jetzt auf Rache und Vergeltung drängt. Boko Haram richtet sich jetzt, und wenn
man sich die Anschlagsziele anschaut, ist das sehr eindeutig, vor allen Dingen gegen
die Staatsgewalt.“
Fachleute sind davon überzeugt, dass Al-Kaida die Sekte
mittlerweile unterwandert habe, um sie für ihre politischen Ziele einzuspannen. Wie
sieht es aber mit der Unterstützung von Boko Haram in der Bevölkerung aus?
„Anfänglich
war die Rede davon, dass es relativ viele Sympathisanten gebe für Boko Haram, und
das ist auch verständlich; ich habe eben davon gesprochen, wie Gefangene auf Polizeistationen
behandelt werden, in Nigeria geschieht sehr vieles was nicht legal ist, wenn man eine
Uniform trägt, was völlig gegen die Menschenrechte und gegen die Menschenwürde verstößt.
Das heißt, Geld regiert in Nigeria, und nicht Recht. Und unter diesem Aspekt kann
man gut nachvollziehen, dass viele Menschen zunächst Sympathien hatten für Boko Haram,
einfach weil es gegen diese korrupte Staatsgewalt ging und immer noch geht. Gleichzeitig
merken aber die Menschen inzwischen, dass durch dieses wahllos Bomben und dieses Verbreiten
von Terror die Lebensgrundlage der ganzen Nation entzogen wird, und dass Nigeria so
mit Sicherheit nicht zu Frieden und zu Wohlstand kommen kann. Ich habe den
Eindruck, dass die Unterstützer stiller werden, und dass Al-Kaida als Terrororganisation
mehr alleine dasteht, als das noch vor einigen Monaten der Fall war.“
Die
Bischöfe sprechen ja schon seit langem diese Problematik an, und machen mangelnde
Bildungsqualität, Korruption und Gewalt im Land für die zunehmende Extremisierung
verantworlich. Was können Sie uns dazu berichten?
„Das wird von den Bischöfen
seit Jahren immer wieder in Interviews, Zeitungsartikeln, Hirtenbriefen, und bei jeder
sich bietenden Gelegenheit angeklagt, und die Bischöfe nehmen da kein Blatt vor den
Mund, auch wenn sie sich damit möglicherweise selbst in Lebensgefahr bringen, und
die Arbeit der Kirche versucht ja auch, an vielen Stellen da einen Ausgleich zu schaffen,
nur das was der Staat versäumt und was er an vorhandenen Geldmitteln – Nigeria ist
kein armes Land - vergeudet, oder nur wenigen zugute kommen lässt, das kann die katholische
Kirche natürlich nicht landesweit in einem Staat für 160 Millionen ersetzen.“
Erst
kürzlich kam es in Nigeria zu großen Kundgebungen, die Demonstranten protestierten
gegen die unverschämte Benzinpreiserhöhungen durch die Regierung. Die Machthaber mussten
sich vor laufenden Kameras dafür entschuldigen. Was hat dieser Erfolg in den Nigerianern
ausgelöst?
„Diese Erfahrung, dass Demonstrationen der Nigerianer, aller
Nigerianer, unabhängig von Volkszusammengehörigkeit oder Religionszugehörigkeit, dass
das etwas bewirken kann - diese Erfahrung macht große Hoffnung, dass auch in Zukunft
da etwas passieren kann, was auch Boko Haram in die Schranken weist, wo eben dann
auch gesamtgesellschaftlich demonstriert werden kann im wahrsten Sinne des Wortes:
Wir wollen diesen Terror nicht.“