Türkei: „Wir brauchen neue Verfassung – und andere Mentalität“
Auch der Ökumenische
Patriarch Bartholomaios I. von Istanbul wurde kürzlich von einem Parlamentsausschuß
in Ankara angehört, um seine Meinung zu einer neuen Verfassung zu sagen. Die Christen
in der Türkei knüpfen viele Hoffnungen an dieses Projekt der regierenden AKP-Partei:
Sie wollen dadurch den Aufstieg zu Bürgern erster Klasse schaffen, um auf Augenhöhe
mit der muslimischen Mehrheit der Türken zu kommen. Cengiz Aktar lehrt Politikwissenschaften
an der Bahcesehir-Universität von Istanbul; er sagte uns in einem Interview:
„Das
Problem der türkischen Republik war von ihrer Gründung 1923 an, dass sie die nicht-muslimischen
Minderheiten in der Regel als etwas Ausländisches angesehen hat. Diese Minderheiten
hatten nie die Chance, zum Status türkischer Bürger Zugang zu bekommen. Die Debatte
über eine neue türkische Verfassung, die wirklich zivil und nicht – wie früher – von
den Militärs inspiriert sein soll, wird also u.a. von der Frage bestimmt: Wie kann
man die Minderheiten zu vollwertigen türkischen Bürgern machen? Ich glaube, die Parlamentarier
hören die Vertreter von nicht-muslimischen Minderheiten vor allem aus diesem Grund
an. Von den Minderheiten ist zahlenmäßig nicht mehr viel übrig – aber immer noch genug,
um ihr Recht auf volle Staatsbürgerschaft einzufordern.“
Die derzeit
gültige Verfassung der Türkei stammt aus dem Jahr 1980, dem Jahr eines Militärputsches
in Ankara. Es ist vor allem AKP-Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, der – mit
einer satten Mehrheit im Parlament – für eine neue Verfassung eintritt. Sie soll in
gewisser Weise sein Vermächtnis sein, denn für eine vierte Amtszeit als Premier will
Erdoğan nach eigenen Angaben nicht mehr antreten.
„Wir haben ein System
geerbt, das vom Vertrag von Lausanne 1923 auf die Beine gestellt worden ist. Dieser
Vertrag entspricht aber nicht mehr der Wirklichkeit von heute, er ist überholt. Vor
allem in dem Punkt, dass die Minderheiten – die übrigens nicht im einzelnen aufgezählt
werden – als „Gemeinschaften für sich“ anerkannt werden. Damit schließt er sie de
facto von der Staatsbürgerschaft aus. Das führt zum Beispiel dazu, dass die Angehörigen
der Minderheiten zwar Steuern zahlen, dass aber die Schulen, die sie unterhalten,
keine öffentlichen Fördermittel bekommen! Das ist eine dieser ganz konkreten Fragen,
die die neue Verfassung klären muss. Sie muss dafür sorgen, dass türkische Bürger
armenischer oder griechischer Herkunft genau gleich behandelt werden wie türkische
Bürger türkischer Herkunft.“
Bisher kämpfen Christen in der Türkei
in ihrem Alltag mit einer Vielzahl von Problemen, die ihnen immer wieder vor Augen
führen, dass sie im Land eher Bürger zweiter Klasse sind. Professor Aktar:
„Es
gibt konkrete Probleme jeder Art. Schulbücher zum Beispiel. Das Unterhalten der Schulen,
aber auch der Kultstätten, der Friedhöfe usw. Es ist heute sehr schwer, in der Türkei
eine neue Kirche zu bauen. Damit sich die Angehörigen von Minderheiten wirklich in
der Türkei zu Hause fühlen können, brauchen sie volle Staatsbürgerschaft. Aber um
den Wechsel zu schaffen, braucht man nicht nur den neuen Verfassungstext, sondern
auch einen Mentalitätenwechsel – das wird also eine Weile dauern.“