Martin Walser ist
einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Deutschlands. Geboren wurde
er 1927 in Wasserburg am Bodensee. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und
einer Tätigkeit als Journalist feierte Walser bereits 1957 mit seinem ersten Roman
‘Ehen in Philippsburg’ einen großen Erfolg. Seither macht er sich einen Namen als
ein unermüdlicher Schriftsteller, ein literarischer Seismograph, dessen Produktivität
im Alter noch zu steigen scheint. Kurz vor seinem 85. Geburtstag hat er einen seiner
leidenschaftlichsten Romane vorgelegt. ‚Muttersohn’ – eine Art Jesusbuch. Ein
Lebens-, ein Liebes- und ein Glaubensbuch. Ein Buch über die Transzendenz, über religiöse
Themen, über die letzten Dinge. Alles fließt, wie am Ufer eines Stromes, an dem Leser
vorbei, ohne Halt. Auf die Fragen folgen immer neue Antworten, hin bis zum Jenseits.
Herr
Walser, Jenseits, das ist ein großes, geheimnisvolles Wort.
„Ja, da haben
Sie den Roman ganz erschöpfend umrissen. Aber natürlich ist das ihre Bildung, die
Sie so sprechen lässt. Andere reagieren auf den Roman ganz anders. Manchen sagt der
Roman überhaupt nichts, weil sie mit alldem, was da erzählt wird, nichts mehr zu tun
haben. Für mich ist es ein Roman einer erlösteren Stimmung, verglichen mit meinen
früheren Romanen, die immer die gesellschaftlichen Probleme im Mittelpunkt hatten.“
Bedeutende
Künstler lieben in der Regel keine Vergleiche: dennoch - liege ich falsch - wenn ich
Ihr jüngstes Werk - filmisch gesprochen - etwa in die Welt eines Federico Fellini,
literarisch in der Dramaturgie eines Faust, einer Walpurgisnacht, einer griechischen
Tragödie-Komödie, eines dostojewskijschen ‚Idioten’, und religiös betrachtet in der
Bibel ansiedle?
„Das sind alles große europäische Daten, die Sie da nennen,
und mit denen hat man, ohne dass man es weiß, einfach zu tun. Das muss alles in einem
Menschen, der möglichst nicht fragmentarisch, sondern ganz leben will, vorkommen.“
Percy,
die Hauptfigur in dem Roman ‘Muttersohn’ wird offensichtlich als Jesus-Figur dargestellt.
Eine Gestalt, die das Hauptgebot der Liebe vorlebt. Eine Jesus-Figur, die am Ende
dem Hass zum Opfer fällt. Gemeint ist die Nächstenliebe, das höchste Gebot der Christenheit.
‚Das
stimmt so bei mir nicht, denn bei mir heißt es ja nicht Nächstenliebe, sondern Liebe.
Wenn zwischen dem Gebot der Nächstenliebe und dem Gebot der Liebe ein Unterschied
wäre, dann wäre dieser Unterschied bei mir vorhanden.’
In Ihrem neuen Roman
wird die Frage nach dem Glauben etwa so umschrieben: der Glaube ist nicht festhaltbar,
man kann den Glauben nicht an - oder ausschalten wie ein Licht. Der Glaube ist eine
Bewegung und nicht ein Zustand. Ich weiß, Herr Walser, dass Sie religiös durchaus
interessiert sind: Wie groß aber ist die Glaubensbereitschaft bei Martin Walser?
‚Von
einer Glaubenbereitschaft würde ich persönlich nicht viel halten, sondern mehr von
einem Glaubensbedürfnis. Das kommt daher, dass uns etwas fehlt. Meine Botschaft ist:
man kann nicht darüber sprechen, ob es Gott gibt oder nicht Gott gibt, aber man kann
darüber sprechen, dass er fehlt.’
Im ewigen Konflikt zwischen Ratio und
Glauben entscheidet sich Martin Walser für?
‚Den Glauben. Wir glauben viel
mehr, als wir wissen. Diesen Satz kann jeder an seiner eigenen Biografie überprüfen.
Ich glaube, er wird dann auch zu dem Urteil kommen: wir sind viel, viel mehr glaubensabhängig
als wissensabhängig. Wissen haben wir immer von einem anderen, Glauben haben wir aus
uns selbst. Mein Percy sagt, der Glaube ist die Handschrift der Seele.“
Wenn
man den Glauben mit dem Verstand beweisen will, kommen viele Menschen in Bedrängnis.
Fides et ratio begegnen sich wie Wasser und Feuer. Die Kirche sagt: Für den Glauben
bedarf es der Gnade Gottes und verweist auf die Offenbarung. Die Wissenschaft auf
die Vernunft. Muss der Glaube also – wie es sprichwörtlich heißt – blind sein? Muss
der Mensch demnach seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens beugen?
„Ich
könnte da keinem Menschen etwas vorschreiben. Wenn er glaubt, dass er seinen Verstand
dem Glauben beugen muss, dann soll er das eben tun. Bei mir? Erstens, glauben kann
man nur, wenn man muss. Glauben kann man nur aus Not, glauben kann man nur, weil einem
etwas fehlt. Dann allerdings macht der Glaube die Welt schöner, als sie ist. Ganz
wichtig für mich: glauben ist eine Begabung. Glauben können ist eine Begabung.“
Vieles
dreht sich auf dieser Welt auf das Großsein, Reichsein, mächtig sein, gewaltig sein…Ist
das der ewige Irrweg der Menschheit?
„Das muss die Menschheit, wenn es
sie gibt, selber einsehen. Ich kann über die Menschheit nicht urteilen. Ich ahne nur,
dass jeder Weg selber zu etwas führt, was er gar nicht wollen kann.“
Wie
meinen Sie das?
„Ich selbst wusste nie, wohin ein Weg führt. Ich habe immer
so reagiert, wie ich musste. Und dadurch kommt ein Weg zustande, den man nicht planen
kann, und den man hinnehmen muss, wie er uns gegeben ist“.
In unserem letzten
Gespräch, das ich mit Ihnen zum Anlass Ihres 80. Geburtstages führen durfte, haben
Sie die oberschwäbische Volksdichterin Maria Menz als Ihre geistliche Meisterin bezeichnet:
was hat Sie an dieser Frau so fasziniert, was religiös so sehr angesprochen?
„Ihre
vorgelebte Religiosität. Sie hat keine Sekunde eine Gewissheit gehabt, sie hat Gott
ununterbrochen angesprochen und auf eine Antwort gewartet. Sie hat nie aufgehört in
dieser Richtung nach oben zu sprechen und das war eben ein Bedürfnis, das war ihre
Not. Und das hat sie sprachlich so unglaublich schön und überzeugend getan. Ich habe
nie etwas gleichartiges erlebt. Wenn einem eine solche Frau begegnet, dann kann man
froh sein und ich war froh, dass ich ihr begegnete“.
Sind Sie mit zunehmenden
Alter religiöser geworden?
„Wenn das so wäre, dann ist es meine ganze Bewusstseins-Textur,
- und die ist vielfältig und widerspruchsvoll und Gott sei Dank immer noch bedürftig
und lebendig - und ich kann nicht mit Ja oder Nein auf diese Frage antworten“.
Rom ist mein Jenseits, nicht mein Jenseits ist Rom: was bedeutet dieser
Satz so aus dem Konzept Ihres Romans genommen?
„Ja, das ist ein wichtiger
Satz. Der Glaube macht die Welt schöner, als sie ist. Und Rom ist dafür das konkreteste
Beispiel auf dieser Welt. Alles was schön ist, durch den Glauben, das überzeugt Feinlein
(neben Percy die zweite Hauptperson in ‘Muttersohn) von der Glaubensnotwendigkeit.
Das gibt es den Satz, ‚dass wir die Fähigkeit haben, etwas schön zu finden’. Das ist
– glaube ich – die Fähigkeit, die uns zum Glauben bringt.’“
Caravaggio und
Rom: beides verarbeiten Sie in Ihrem neuen Roman. Da ist die Rede von einer ‚Glaubenskraft’,
die ein Caravaggio-Gemälde in der Basilika Sant’Agostino ausstrahlt. Demnach ist der
Glaube eine Seelenarbeit, eine Kraft, eine Fähigkeit?
„Ja ganz sicher.
Eine Fähigkeit ganz sicher. So angesteckt werden von einem schönen Bild, von einer
schönen Musik, So angesteckt, so motiviert werden, das ist das, was wir unserer Schönheitstradition
und Glaubenstradition zu verdanken haben. Und das ist das Positivste was es gibt.
Man muss sich das nur eine Sekunde vorstellen, was in Europa fehlen würde, wenn dieses
Bedürfnis, sich nach oben zu richten, fehlen würde. Das ist die Offenbarung, das ist
das Geheimnis, wie Kirkegaard sagt. Ich sage: Dass wir etwas schön finden können,
heißt – dass wir Transzendenz praktizieren können“.
Karl Barth – der große
Theologe – gehört zu Ihren Vorbildern, ebenso wie der Hl. Augustinus, der Philosoph
Kirkegaard, der Dichter Hölderlin, das Genie Friedrich Nietzsche – was verbindet diese
großen Geister der weltweiten Kultur?
„Dass sie die Frage nicht erlöschen
ließen: Wie sind wir gerechtfertigt oder wie sind wir nicht gerechtfertigt? Von Augustinus,
von Nietzsche bis Karl Barth. Hölderlin hat das nicht so formuliert, aber seine Gedichte,
in denen Gott vorkommt, sagen es unmittelbar. In der weltlichen Kultur Europas ist
die Frage – wie wir gerechtfertigt sein können – erloschen oder reduziert oder verkommen
in der Frage, wer recht hat und wer hat nicht recht?. Das glaubt man ja nicht, wie
Nietzsche und Karl Barth miteinander verwandt sind.“
Wo finden Sie in der
Bibel den schönsten Satz, die bedeutendste Stelle?
„Das Weihnachtsevangelium
ist die schönste Geschichte, die je von Menschen geschrieben wurde. Das ist die Geschichte,
die ich als Kind schon erlebt habe und seither nie mehr aufgehört habe, sie zu erleben.
Das nenne ich auch Literatur. Das ist sehr wichtig. Ich habe durch Studium und Lesen
erkannt, dass es eine Zeit gab, in der es keinen Unterschied gab zwischen Religion
und Literatur. Das war einfach eins. Die Psalmen, sind einfach eins. Und ich sage,
mir ist die Genesis wichtiger und lieber, als der Urknall. Und ich wünschte mir, dass
diese beiden auseinander laufenden Geisteskräfte der Menschen wieder näher zusammenkämen.“
Ihr
4. großer Roman ‚Ein liebender Mann’ erzählt vom alten Goethe und dessen Liebe zu
einer jungen Frau. Er ist 73, sie 19 : Ulrike von Levetzow. Als er abgewiesen wird,
schrieb er die ‚Marienbader Elegie’, eines der schönsten Liebesgedichte der deutschen
Sprache. Braucht die Liebe den Schmerz, um groß zu sein?
„Aus kultureller
Erfahrung kann man sagen: es gibt ganz wenige Werke, die von glücklich verlaufender
Liebe handeln. Das beantwortet Ihre Frage. Wenn eine Liebe sich ihrer selbst bewusst
werden will, dann meistens dadurch, dass sie unglücklich ist.“
Unter welchem
Weltschmerz haben Sie am meisten gelitten?
„Wenn Sie vor dem Wort Schmerz
das Wort Welt weglassen, dann kann ich sagen: der Schmerz nimmt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
ein anderes Gesicht an. Eine andere innere Frequenz an. Der Schmerz mit dreißig ist
ein anderer als mit achtzig. Insofern kann man schon sagen, das Leben ist eine Schmerzgeschichte.
Und ohne jeweils einen aktuellen Schmerz wäre man gar nicht bemerkbar geworden? Auch
sich selbst nicht bemerkbar geworden. Ich will es total banalisieren und es ganz ernst
meinen: ‚Mir tut etwas weh - also bin ich’.“
Worin bestand Ihr großes inneres,
vielleicht selbst für Martin Walser, nur schwer beschreibbares Freuden-Erlebnis?
„Es
gibt solche, die sind sicherlich ganz äußerlich und trotzdem sehr wichtig. Also, wenn
ich daran denke, dass ich mit dreißig Jahren den Herman-Hesse-Preis bekommen habe.
Ich war gerade sehr krank gewesen und hatte kein Geld usw. Und den 10.000 Markscheck
habe ich meiner Mutter überreicht und geschenkt, nur um ihr zu beweisen, dass man
als Schriftsteller auch Geld verdienen kann. Und der Augenblick, indem ich ihr das
gegeben habe, und gesehen habe, wie erstaunt sie war, das war einer der großen Freude-Momente
in meinem Leben.“
Denken Sie beim Schreiben an die Gunst Ihrer Leserschaft?
„Nein,
nein nein. Die kenne ich nicht und die will ich auch nicht kennen. Die lerne ich erst
kennen, wenn sie Leser sind. Und dazu muss ich aber schreiben, ohne an sie zu denken.
Mein Percy sagt es so: jeder ist sich selbst der Nächste. Und wenn ich über mich spreche,
dann bin ich mit denen zusammen, die sich auch die Nächsten sind. Dann haben wir zusammen
eine große Gemeinsamkeit. Und sind keine Einzelgänger.“
Sie werden 85. Wie
weit in die Zukunft reichen Ihre Buchpläne, wie weit Ihre Träume?
„Ja,
meine Buchpläne reichen ganz sicher über mich hinaus. Ich muss eben sorgfältig leben,
dass ich noch drei oder vier dieser Buchpläne realisieren kann. Allein in diesem Jahr
erscheinen drei Titel: im März diese Schrift über die ‚Rechtfertigung, eine Versuchung?’,
dann erscheinen aus meinen Tagebüchern alle Stellen, die mit Ausland zu tun haben,
das heißt: ‚Meine Lebensreisen’ und im September erscheint für mich ein ganz wichtiger
Roman mit dem Titel: ‚Das 13. Kapitel’.“
Unser letztes Gespräch vor fünf
Jahren haben Sie mit einem Gedicht von Ihnen abgeschlossen: ‚Ich bin an den Sonntag
gebunden, wie an eine Melodie, ich habe keine andere gefunden, ich glaube nicht, aber
ich knie’. Sind Sie innerlich bei diesem Vierzeiler geblieben?
„Ja dieser
Vierzeiler ist eben eine kleine Dekoration eines Lebenszustandes. Sie haben vorher
Karl Barth erwähnt, der sagt man darf nie an einem Punkt halt machen und zufrieden
sagen: so bin ich, damit habe ich es erreicht. Man darf eben keinen Zustand erreichen,
auch wenn man ihn - wie Sie in mir dankenswerter Weise nahelegen - schon einmal formuliert
hat. Man kann nicht bei diesem Zustand bleiben, das habe ich – wenn ich es je verlernt
haben sollte, jetzt wieder durch Karl Barth gelernt: er ist ein Bewegungs-Genie, der
niemals in seiner Glaubensnot an irgend einen Punkt kommt, wo er sagt: das ist es,
das ist es, jetzt habe ich es erreicht. - Das ist das einzige, wenn ich es so pathetisch
sagen darf, das das Leben lebenswert macht“.