2012-02-19 07:45:34

Menschen in der Zeit - Martin Walser wird 85


RealAudioMP3 Martin Walser ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Deutschlands. Geboren wurde er 1927 in Wasserburg am Bodensee. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und einer Tätigkeit als Journalist feierte Walser bereits 1957 mit seinem ersten Roman ‘Ehen in Philippsburg’ einen großen Erfolg. Seither macht er sich einen Namen als ein unermüdlicher Schriftsteller, ein literarischer Seismograph, dessen Produktivität im Alter noch zu steigen scheint. Kurz vor seinem 85. Geburtstag hat er einen seiner leidenschaftlichsten Romane vorgelegt.
‚Muttersohn’ – eine Art Jesusbuch. Ein Lebens-, ein Liebes- und ein Glaubensbuch. Ein Buch über die Transzendenz, über religiöse Themen, über die letzten Dinge. Alles fließt, wie am Ufer eines Stromes, an dem Leser vorbei, ohne Halt. Auf die Fragen folgen immer neue Antworten, hin bis zum Jenseits.

Herr Walser, Jenseits, das ist ein großes, geheimnisvolles Wort.

„Ja, da haben Sie den Roman ganz erschöpfend umrissen. Aber natürlich ist das ihre Bildung, die Sie so sprechen lässt. Andere reagieren auf den Roman ganz anders. Manchen sagt der Roman überhaupt nichts, weil sie mit alldem, was da erzählt wird, nichts mehr zu tun haben. Für mich ist es ein Roman einer erlösteren Stimmung, verglichen mit meinen früheren Romanen, die immer die gesellschaftlichen Probleme im Mittelpunkt hatten.“

Bedeutende Künstler lieben in der Regel keine Vergleiche: dennoch - liege ich falsch - wenn ich Ihr jüngstes Werk - filmisch gesprochen - etwa in die Welt eines Federico Fellini, literarisch in der Dramaturgie eines Faust, einer Walpurgisnacht, einer griechischen Tragödie-Komödie, eines dostojewskijschen ‚Idioten’, und religiös betrachtet in der Bibel ansiedle?

„Das sind alles große europäische Daten, die Sie da nennen, und mit denen hat man, ohne dass man es weiß, einfach zu tun. Das muss alles in einem Menschen, der möglichst nicht fragmentarisch, sondern ganz leben will, vorkommen.“

Percy, die Hauptfigur in dem Roman ‘Muttersohn’ wird offensichtlich als Jesus-Figur dargestellt. Eine Gestalt, die das Hauptgebot der Liebe vorlebt. Eine Jesus-Figur, die am Ende dem Hass zum Opfer fällt. Gemeint ist die Nächstenliebe, das höchste Gebot der Christenheit.

‚Das stimmt so bei mir nicht, denn bei mir heißt es ja nicht Nächstenliebe, sondern Liebe. Wenn zwischen dem Gebot der Nächstenliebe und dem Gebot der Liebe ein Unterschied wäre, dann wäre dieser Unterschied bei mir vorhanden.’

In Ihrem neuen Roman wird die Frage nach dem Glauben etwa so umschrieben: der Glaube ist nicht festhaltbar, man kann den Glauben nicht an - oder ausschalten wie ein Licht. Der Glaube ist eine Bewegung und nicht ein Zustand. Ich weiß, Herr Walser, dass Sie religiös durchaus interessiert sind: Wie groß aber ist die Glaubensbereitschaft bei Martin Walser?

‚Von einer Glaubenbereitschaft würde ich persönlich nicht viel halten, sondern mehr von einem Glaubensbedürfnis. Das kommt daher, dass uns etwas fehlt. Meine Botschaft ist: man kann nicht darüber sprechen, ob es Gott gibt oder nicht Gott gibt, aber man kann darüber sprechen, dass er fehlt.’

Im ewigen Konflikt zwischen Ratio und Glauben entscheidet sich Martin Walser für?

‚Den Glauben. Wir glauben viel mehr, als wir wissen. Diesen Satz kann jeder an seiner eigenen Biografie überprüfen. Ich glaube, er wird dann auch zu dem Urteil kommen: wir sind viel, viel mehr glaubensabhängig als wissensabhängig. Wissen haben wir immer von einem anderen, Glauben haben wir aus uns selbst. Mein Percy sagt, der Glaube ist die Handschrift der Seele.“

Wenn man den Glauben mit dem Verstand beweisen will, kommen viele Menschen in Bedrängnis. Fides et ratio begegnen sich wie Wasser und Feuer. Die Kirche sagt: Für den Glauben bedarf es der Gnade Gottes und verweist auf die Offenbarung. Die Wissenschaft auf die Vernunft. Muss der Glaube also – wie es sprichwörtlich heißt – blind sein? Muss der Mensch demnach seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens beugen?

„Ich könnte da keinem Menschen etwas vorschreiben. Wenn er glaubt, dass er seinen Verstand dem Glauben beugen muss, dann soll er das eben tun. Bei mir? Erstens, glauben kann man nur, wenn man muss. Glauben kann man nur aus Not, glauben kann man nur, weil einem etwas fehlt. Dann allerdings macht der Glaube die Welt schöner, als sie ist. Ganz wichtig für mich: glauben ist eine Begabung. Glauben können ist eine Begabung.“

Vieles dreht sich auf dieser Welt auf das Großsein, Reichsein, mächtig sein, gewaltig sein…Ist das der ewige Irrweg der Menschheit?

„Das muss die Menschheit, wenn es sie gibt, selber einsehen. Ich kann über die Menschheit nicht urteilen. Ich ahne nur, dass jeder Weg selber zu etwas führt, was er gar nicht wollen kann.“

Wie meinen Sie das?

„Ich selbst wusste nie, wohin ein Weg führt. Ich habe immer so reagiert, wie ich musste. Und dadurch kommt ein Weg zustande, den man nicht planen kann, und den man hinnehmen muss, wie er uns gegeben ist“.

In unserem letzten Gespräch, das ich mit Ihnen zum Anlass Ihres 80. Geburtstages führen durfte, haben Sie die oberschwäbische Volksdichterin Maria Menz als Ihre geistliche Meisterin bezeichnet: was hat Sie an dieser Frau so fasziniert, was religiös so sehr angesprochen?

„Ihre vorgelebte Religiosität. Sie hat keine Sekunde eine Gewissheit gehabt, sie hat Gott ununterbrochen angesprochen und auf eine Antwort gewartet. Sie hat nie aufgehört in dieser Richtung nach oben zu sprechen und das war eben ein Bedürfnis, das war ihre Not. Und das hat sie sprachlich so unglaublich schön und überzeugend getan. Ich habe nie etwas gleichartiges erlebt. Wenn einem eine solche Frau begegnet, dann kann man froh sein und ich war froh, dass ich ihr begegnete“.

Sind Sie mit zunehmenden Alter religiöser geworden?

„Wenn das so wäre, dann ist es meine ganze Bewusstseins-Textur, - und die ist vielfältig und widerspruchsvoll und Gott sei Dank immer noch bedürftig und lebendig - und ich kann nicht mit Ja oder Nein auf diese Frage antworten“.


Rom ist mein Jenseits, nicht mein Jenseits ist Rom: was bedeutet dieser Satz so aus dem Konzept Ihres Romans genommen?

„Ja, das ist ein wichtiger Satz. Der Glaube macht die Welt schöner, als sie ist. Und Rom ist dafür das konkreteste Beispiel auf dieser Welt. Alles was schön ist, durch den Glauben, das überzeugt Feinlein (neben Percy die zweite Hauptperson in ‘Muttersohn) von der Glaubensnotwendigkeit. Das gibt es den Satz, ‚dass wir die Fähigkeit haben, etwas schön zu finden’. Das ist – glaube ich – die Fähigkeit, die uns zum Glauben bringt.’“

Caravaggio und Rom: beides verarbeiten Sie in Ihrem neuen Roman. Da ist die Rede von einer ‚Glaubenskraft’, die ein Caravaggio-Gemälde in der Basilika Sant’Agostino ausstrahlt. Demnach ist der Glaube eine Seelenarbeit, eine Kraft, eine Fähigkeit?

„Ja ganz sicher. Eine Fähigkeit ganz sicher. So angesteckt werden von einem schönen Bild, von einer schönen Musik, So angesteckt, so motiviert werden, das ist das, was wir unserer Schönheitstradition und Glaubenstradition zu verdanken haben. Und das ist das Positivste was es gibt. Man muss sich das nur eine Sekunde vorstellen, was in Europa fehlen würde, wenn dieses Bedürfnis, sich nach oben zu richten, fehlen würde. Das ist die Offenbarung, das ist das Geheimnis, wie Kirkegaard sagt. Ich sage: Dass wir etwas schön finden können, heißt – dass wir Transzendenz praktizieren können“.

Karl Barth – der große Theologe – gehört zu Ihren Vorbildern, ebenso wie der Hl. Augustinus, der Philosoph Kirkegaard, der Dichter Hölderlin, das Genie Friedrich Nietzsche – was verbindet diese großen Geister der weltweiten Kultur?

„Dass sie die Frage nicht erlöschen ließen: Wie sind wir gerechtfertigt oder wie sind wir nicht gerechtfertigt? Von Augustinus, von Nietzsche bis Karl Barth. Hölderlin hat das nicht so formuliert, aber seine Gedichte, in denen Gott vorkommt, sagen es unmittelbar. In der weltlichen Kultur Europas ist die Frage – wie wir gerechtfertigt sein können – erloschen oder reduziert oder verkommen in der Frage, wer recht hat und wer hat nicht recht?. Das glaubt man ja nicht, wie Nietzsche und Karl Barth miteinander verwandt sind.“

Wo finden Sie in der Bibel den schönsten Satz, die bedeutendste Stelle?

„Das Weihnachtsevangelium ist die schönste Geschichte, die je von Menschen geschrieben wurde. Das ist die Geschichte, die ich als Kind schon erlebt habe und seither nie mehr aufgehört habe, sie zu erleben. Das nenne ich auch Literatur. Das ist sehr wichtig. Ich habe durch Studium und Lesen erkannt, dass es eine Zeit gab, in der es keinen Unterschied gab zwischen Religion und Literatur. Das war einfach eins. Die Psalmen, sind einfach eins. Und ich sage, mir ist die Genesis wichtiger und lieber, als der Urknall. Und ich wünschte mir, dass diese beiden auseinander laufenden Geisteskräfte der Menschen wieder näher zusammenkämen.“

Ihr 4. großer Roman ‚Ein liebender Mann’ erzählt vom alten Goethe und dessen Liebe zu einer jungen Frau. Er ist 73, sie 19 : Ulrike von Levetzow. Als er abgewiesen wird, schrieb er die ‚Marienbader Elegie’, eines der schönsten Liebesgedichte der deutschen Sprache. Braucht die Liebe den Schmerz, um groß zu sein?

„Aus kultureller Erfahrung kann man sagen: es gibt ganz wenige Werke, die von glücklich verlaufender Liebe handeln. Das beantwortet Ihre Frage. Wenn eine Liebe sich ihrer selbst bewusst werden will, dann meistens dadurch, dass sie unglücklich ist.“

Unter welchem Weltschmerz haben Sie am meisten gelitten?

„Wenn Sie vor dem Wort Schmerz das Wort Welt weglassen, dann kann ich sagen: der Schmerz nimmt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ein anderes Gesicht an. Eine andere innere Frequenz an. Der Schmerz mit dreißig ist ein anderer als mit achtzig. Insofern kann man schon sagen, das Leben ist eine Schmerzgeschichte. Und ohne jeweils einen aktuellen Schmerz wäre man gar nicht bemerkbar geworden? Auch sich selbst nicht bemerkbar geworden. Ich will es total banalisieren und es ganz ernst meinen: ‚Mir tut etwas weh - also bin ich’.“

Worin bestand Ihr großes inneres, vielleicht selbst für Martin Walser, nur schwer
beschreibbares Freuden-Erlebnis?

„Es gibt solche, die sind sicherlich ganz äußerlich und trotzdem sehr wichtig. Also, wenn ich daran denke, dass ich mit dreißig Jahren den Herman-Hesse-Preis bekommen habe. Ich war gerade sehr krank gewesen und hatte kein Geld usw. Und den 10.000 Markscheck habe ich meiner Mutter überreicht und geschenkt, nur um ihr zu beweisen, dass man als Schriftsteller auch Geld verdienen kann. Und der Augenblick, indem ich ihr das gegeben habe, und gesehen habe, wie erstaunt sie war, das war einer der großen Freude-Momente in meinem Leben.“

Denken Sie beim Schreiben an die Gunst Ihrer Leserschaft?

„Nein, nein nein. Die kenne ich nicht und die will ich auch nicht kennen. Die lerne ich erst kennen, wenn sie Leser sind. Und dazu muss ich aber schreiben, ohne an sie zu denken. Mein Percy sagt es so: jeder ist sich selbst der Nächste. Und wenn ich über mich spreche, dann bin ich mit denen zusammen, die sich auch die Nächsten sind. Dann haben wir zusammen eine große Gemeinsamkeit. Und sind keine Einzelgänger.“

Sie werden 85. Wie weit in die Zukunft reichen Ihre Buchpläne, wie weit Ihre Träume?

„Ja, meine Buchpläne reichen ganz sicher über mich hinaus. Ich muss eben sorgfältig leben, dass ich noch drei oder vier dieser Buchpläne realisieren kann. Allein in diesem Jahr erscheinen drei Titel: im März diese Schrift über die ‚Rechtfertigung, eine Versuchung?’, dann erscheinen aus meinen Tagebüchern alle Stellen, die mit Ausland zu tun haben, das heißt: ‚Meine Lebensreisen’ und im September erscheint für mich ein ganz wichtiger Roman mit dem Titel: ‚Das 13. Kapitel’.“

Unser letztes Gespräch vor fünf Jahren haben Sie mit einem Gedicht von Ihnen abgeschlossen: ‚Ich bin an den Sonntag gebunden, wie an eine Melodie, ich habe keine andere gefunden, ich glaube nicht, aber ich knie’. Sind Sie innerlich bei diesem Vierzeiler geblieben?

„Ja dieser Vierzeiler ist eben eine kleine Dekoration eines Lebenszustandes. Sie haben vorher Karl Barth erwähnt, der sagt man darf nie an einem Punkt halt machen und zufrieden sagen: so bin ich, damit habe ich es erreicht. Man darf eben keinen Zustand erreichen, auch wenn man ihn - wie Sie in mir dankenswerter Weise nahelegen - schon einmal formuliert hat. Man kann nicht bei diesem Zustand bleiben, das habe ich – wenn ich es je verlernt haben sollte, jetzt wieder durch Karl Barth gelernt: er ist ein Bewegungs-Genie, der niemals in seiner Glaubensnot an irgend einen Punkt kommt, wo er sagt: das ist es, das ist es, jetzt habe ich es erreicht. - Das ist das einzige, wenn ich es so pathetisch sagen darf, das das Leben lebenswert macht“.

(19.02.2012 ap)








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