2012-02-03 12:56:29

Aktenzeichen: Irina Gruschewaja – Frau Europa 2011


RealAudioMP3 Knapp 180 Gäste erhoben sich mit lang anhaltendem Beifall für Irina Gruschewaja. Mit ihrer Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“, die sie 1989 gemeinsam mit ihrem Mann gründete, hat die Ukrainerin wahrhaft Großes geleistet. Die Bürgerinitiative organisiert Auslandsreisen für Kinder aus verstrahlten Gebieten und hat seitdem mehr als 500.000 Tschernobyl-Kindern Erholungs- und Gesundungsreisen nach Westeuropa ermöglicht. Am 24. November wurde die „Frau Europas 2011“ in Berlin geehrt. Wer ist Irina Gruschewaja?

Gruschewaja wurde 1948 in Simferopol in der heutigen Ukraine geboren. Sie studierte Germanistik an der Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen Minsk, wo sie 1982 den Doktortitel erhielt und als Dozentin arbeitete. Im Jahr 1989 war sie Mitbegründerin des Bürgerkomitees „Den Kindern von Tschernobyl“, das im von der Katastrophe von Tschernobyl am stärksten betroffenen Weißrussland auf die Folgen des Unglücks aufmerksam machte und Genesungs- und Erholungsreisen für Kinder nach Deutschland und andere Staaten Westeuropas organisierte.

1997/98 verbrachte Gruschewaja im politischen Exil in Deutschland. Heute lebt und arbeitet sie erneut in Berlin. Gruschewaja ist mit dem weißrussischen Philosophen und Oppositionspolitiker Gennadij Gruschewoi verheiratet. 2008 wurde Gruschewaja für ihr Projekt Malinowka, eine Beratungsstelle gegen den internationalen Frauenhandel und gegen Gewalt an Frauen mit dem Shalom-Preis der Universität Eichstätt ausgezeichnet.
Für ihr Engagement im Rahmen der Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ erhielt Gruschewaja nun den "Preis Frauen Europas - Deutschland" 2011. Diese Auszeichnung wurde vom Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland (EBD) zum 20. Mal verliehen.

Wir blicken zurück:

Vor 25 Jahren – am 26. April 1986 – explodierte im ukrainischen Tschernobyl ein Atomreaktor. Das benachbarte Belarus war am stärksten vom radioaktiven Fall-out betroffen. Nur wusste das dort niemand. Erst als 1989 in der Sowjetunion die politische Wende begann, erkannte die Germanistik-Professorin Irina Gruschewaja die Politik des Totschweigens in ihrem eigenen Staat und wachte auf – bis heute ist ihr Motto: „Nur wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht“. Gemeinsam mit ihrem Mann gründete Gruschewaja 1989 die erste Bürgerinitiative in Belarus „Den Kindern von Tschernobyl“. Das Paar bewies Mut und Durchhaltevermögen: Ohne rechtlichen Background – Initiativen oder Vereine waren unbekannt und unerhört im damals noch sowjetischen Belarus –, ohne Büroräume oder Geld organisierte das Paar Auslandsreisen für Kinder aus verstrahlten Gebieten. Seither konnten mehr als eine halbe Million Tschernobyl-Kinder – Erst-Opfer und Spätfolge-Opfer – auf Erholungs- und Gesundungsreisen nach Westeuropa kommen. Auch nach Deutschland.
Durch Gruschewajas unermüdlichen tatkräftigen Einsatz – von der konkreten Reise-Organisation über Vortragsreisen bis hin zum Kontakte-knüpfen und Türen-Öffnen – machen sich heute in Deutschland hunderte zivilgesellschaftliche Tschernobyl-Initiativen stark für die Kinder (und mittlerweile Kindeskinder) der Atom-Katastrophe: Sie haben sich zusammengeschlossen zur Bundesarbeitsgemeinschaft „Den Kindern von Tschernobyl". Die besondere Kraft der deutschen Tschernobyl-Initiativen liegt in ihrer Vielfalt und ihrer Arbeit an der unmittelbaren Basis – den Bürgern.


Die von Gruschewaja initiierte belarussisch-deutsche Brücke im Namen der Menschlichkeit hilft schon lange nicht mehr nur den Tschernobyl-Kindern; sie hat sich zu einem beispiellosen Bildungs- und Begegnungswerk in Belarus entwickelt, das viele Initiativen bietet, unter anderem Jugendfestivals, eine Beratungsstelle für Frauen und Mädchen; ein Club für alte Menschen, die aus ihrer Heimat bei Tschernobyl in gesichtslose Plattenbauten in Minsk umgepflanzt wurden, Diabetesschulen für Kinder und Jugendliche, Behinderten-Selbsthilfegruppen, Konferenzen, Friedensarbeit am Versöhnungsgedanken infolge der Weltkriegs-Gräuel.

Diese Projekte in ganz Belarus „bringen Hoffnung in mein Land – das Land der Hoffnungslosigkeit", so Gruschewaja, denn „im Gegensatz zum Optimismus ist Hoffnung nicht die Erwartung, dass es gut ausgeht, sondern das Engagement in Gewissheit, dass es Sinn hat, egal wie es ausgeht” (Vaclav Havel). Gruschewajas Projekte sind auch Ausdruck des zivilen Ungehorsams und Widerstandes geworden, denn hier wird soziales Engagement frei und ohne Einmischung des Staates gelebt. Betroffene werden zu Engagierten, Opfer werden zu Akteuren – und die Helfer werden zu Partnern.

Dieses Bollwerk ungekannten bürgerschaftlichen Engagements mit der potenten Unterstützung der deutschen Zivilgesellschaft war und ist dem belarussischen Staat ein Dorn im Auge. Schikanen begleiten die Hilfsinitiativen seit Anbeginn und zwangen die Aktivistin und ihren Mann auch schon einmal ins Exil nach Deutschland (1997-1998). Soziales und bürgerschaftliches Engagement gilt in Belarus bis heute insgeheim als staatsfeindlich – noch dazu rund um die Tschernobyl-Thematik, die immer noch weitgehend negiert wird.

Irina Gruschewaja lebt seit drei Jahren aus Sicherheitsgründen in Berlin. Von hier aus setzt sie ihre Arbeit für und in Belarus fort, pflegt Kontakte mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern dort und in West-Europa und organisiert weiterhin Projekte, die in Belarus nach wie vor hart am Rande der Legalität durchgeführt werden.

Gruschewaja setzt sich unermüdlich dafür ein, dass Tschernobyl nicht vergessen wird und auch nicht einfach „Geschichte“ ist, dass auch in Deutschland die atomare Gefahr nicht verschwiegen und bagatellisiert wird, dass freies Engagement gestärkt wird, denn gerade in Diktaturen ist es von Ausrottung bedroht, dass auf der Brücke Belarus-Europa Menschen gemeinsam gegen das Unrecht kämpfen. Ihre Maxime lautet: „Die Zukunft der Welt liegt in der zivilgesellschaftlichen, humanitären Zusammenarbeit, in der Kooperation freier Menschen.“ Die Hoffnung darauf gibt Irina Gruschewaja nicht auf.

Laudatorin der „Frau Europas 2011“ war die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Die Ehrenpräsidentin der EBD würdigte Gruschewajas Kampf gegen das Schweigen über die Tschernobyl-Katastrophe in Belarus als vorbildlich auch für Demokratien, in denen die öffentliche Diskussion unbequemer Themen gern auf später verschoben werde. Unermüdlich und mit großer Ehrenhaftigkeit habe sich Gruschewaja dafür eingesetzt, dass in und über Belarus hinaus geredet statt geschwiegen wurde – und damit den Nährboden für Veränderung gesät: „Wenn wir nicht mehr miteinander reden, haben wir keine Chance mehr, etwas zu verändern!“ Um den „Preis Frauen Europas – Deutschland“ für die Zukunft zu sichern, rief Süssmuth die Mitgliedsorganisationen der EBD dazu auf, sich in Zukunft für den Preis einzusetzen.

In ihrer Rede bat Irina Gruschewaja, Menschlichkeit und soziales Miteinander als Basis des Zusammenlebens nicht zu vergessen. Man dürfe nie müde werden, Mensch zu sein – auch wenn und grade weil die Geschichte immer wieder gezeigt habe, „wie leicht es ist, den Menschen aus uns auszutreiben.“ Für das Menschsein sei die internationale Zivilgesellschaft im Einsatz – ihre Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ sei deshalb kein Hilfswerk, sondern vielmehr ein Menschenwerk. Dessen soziales Engagement mache verdächtig: 2008 erließ Belarus ein Dekret, nach dem kein Kind mehr in Ausland reisen dürfe. Nur auf Druck der Partner in Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern sei das Reisen für Kinder ein Jahr später wieder möglich geworden. Die Tschernobyl-Bewegung habe dies nachhaltig geschwächt, erst die Katastrophe von Fukushima habe alle wieder wachgerüttelt. „Wir dürfen uns nicht beruhigen“, beschwor Gruschewaja das Publikum, einen weiteren Super-GAU vertrage die Menschheit nicht. Dank der Kinderreisen – 500.000 sind in den vergangenen 21 Jahren nach Deutschland gereist – wüssten nun Millionen Menschen, was es bedeutet, Opfer zu sein und was es bedeutet, Mut zu haben.


Rede der Preisträgerin

„Ich bedanke mich für das Verständnis, dass dieser emotionale Sturm, den ich erlebe, von Ihnen getragen wird. Es ist nicht einfach, heute hier im Rampenlicht zu stehen. Ich habe schon viele Male im Rampenlicht gestanden, aber damals fiel es mir viel leichter, weil es um mein Anliegen ging, meine Arbeit. Darum, dass die Menschen verstehen, warum wir uns aufgemacht haben, warum wir losgezogen sind, Brücken zu bauen – das war wirklich leichter.

Und wenn ich jetzt in diesen Saal sehe, sehe ich so viele vertraute Gesichter, und ich grüße Sie alle so herzlich! Vor allem meine Kinder, die nur zu gut wissen, was es bedeutet, wenn die Eltern in den Krieg ziehen, sei es auch ein unsichtbarer. Der Krieg des Tschernobyl-Atoms. Ich grüße von hier auch meinen Mann, der zu Hause ist und mitdenkt und -fühlt, genauso wie meine Mitarbeiterinnen im kleinen Büro, die gerade dabei sind, den Jugendkongress im Dezember vorzubereiten – illegal, wie in den letzten drei Jahren, aber sie geben nicht auf. Ich grüße meine Kollegen aus der linguistischen Universität, die heute leider nicht mehr in unseren Reihen sind, weil das Verbot des Staates sich auch auf sie erstreckt hat. Die Hochschullehrer aus der linguistischen Universität haben praktisch die ganze Tschernobyl-Bewegung mit aufgebaut haben, indem sie dafür gesorgt haben, dass wir weltweit, in 23 Ländern, nicht nur unsere Kinder unterbringen, sondern auch unser Engagement teilen und sehr viel lernen konnten von den Menschen, die in den Demokratien leben. Ich begrüße meine Mitstreiter, die Frauen aus der Organisation terre des femmes und aus dem Ökumenischen Forum Christlicher Frauen Europas, mit denen wir unzählige Projekte in Belarus aufbauen konnten, die Ideen ausgetauscht haben – wir haben von einander so viel gelernt!

Ich begrüße auch meine Freunde, die mich in der Zeit meines Lebens hier unterstützt und emotional aufgebaut haben, auch meine neue Kolleginnen, weil ich jetzt das Glück habe, seit zwei Jahren in der Best-Sabel-Hochschule zu arbeiten und Russisch zu unterrichten – nicht mehr Deutsch, wie ich es damals bei mir zu Hause gemacht habe –, und auch meine Studentinnen, die hier im Saal sind. Für mich ist das alles die Gemeinschaft der Bürger Europas. Und die Vertreter von dem Verein, wo ich mir seit zehn Jahren den Zweiten Vorsitz teile mit der Herrn Rösler, die sind auch da, und wir sind alle Bürger Europas. Ich bedanke mich sehr für diese Auszeichnung, weil das uns und mir zeigt: Unsere Tschernobyl-Kinder sind europäische Menschen, sie sind auch Bürger Europas, wenn auch nicht zur Europäischen Union gehörig. Aber dieser Zaun, der zwischen Polen und Belarus steht, ist wie der Eiserner Vorhang zu der Zeit von Stalin: Dieser Zaun trennt uns, und lange Zeit haben wir gedacht, er würde uns einfach abschotten. Das ist aber nicht passiert, weil wir so viele Kinder als Freunde, als Brückenbauer, geschickt haben mit der Botschaft: „Ich will leben! Ich will dazugehören!“

Burkhardt Homeyer, der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft „Den Kindern von Tschernobyl“, die sich seit 20 Jahren international für die Kinder engagiert, sagte immer: „Wir sind nie fertig, wir sind werdende Menschen.“ Und ich bedanke mich ganz herzlich, dass Du mir so viele Male den Rücken gestärkt hast, dass ich immer wieder aufstehen und unser Werk fortsetzen konnte. Ich fühle mich als werdender Mensch, und ich wünsche mir, dass Sie alle dieses Gefühl in sich entdecken, dass wir nie müde werden, Mensch zu sein. An dieser Stelle bedanke ich mich sehr bei der lieben Rita Süssmuth, Sie haben mir [mit in Ihrer Laudatio] aus dem Herzen gesprochen, denn dieses Thema treibt mich seit Langen um: Wie viel Mensch ist in uns, wann beginnt der Mensch in uns, und wann endet er? Die Geschichte hat gezeigt, dass es sehr leicht ist, den Menschen aus uns auszutreiben.

Wenn die deutschen Familien unsere Kinder in ihren Dörfern besuchen, dann werden viele Geschichten erzählt. Bei einer dieser Erzählungen war ich dabei, und die Geschichte hat mich erschüttert, weil ich verstanden habe, dass die Frage des Menschwerdens das A und O ist in Europa, in Belarus: Ein faschistischer Soldat war irgendwann im Laufe des Zweiten Weltkrieges in einem Konvoi, mit dem die Faschisten die Menschen aus dem heute sehr stark verstrahlten Gebiet Dobrusch ins Massengrab trieben. Da waren Mütter mit kleinen Kindern, da waren auch Männer dabei, und eine junge Frau mit zwei Kindern, eins an der Hand, zwei Jahre alt, und das zweite sieben Monate alt – das war der Mensch, der uns die Geschichte erzählte. Vielleicht hatte dieser junge Soldat zu Hause eine Schwester, auf jeden Fall hat er der Mutter ein Zeichen gegeben, sie solle zurückbleiben, und dann hat er über ihre Köpfe hinweg geschossen. Die drei lagen im Straßengraben, und die beiden Kinder haben nicht geschrien. Die haben gehandelt, als hätten sie verstanden: Das wird ihnen das Leben retten. In diesem Augenblick erhob sich dieser Soldat zu einem Menschen, weil er in sich den Menschen entdeckt hatte. Das war für ihn sicher nicht ungefährlich.

Das ist ein Bild, das sehr viele Facetten hat, denn in vielen der weit entlegenen Dörfern, wo die Deutschen, die zu uns gekommen sind, die Tschernobyl-Kinder besuchen, sind die Wunden des Krieges nicht vergessen worden. Aber: Dass auch Deutsche gekommen sind, die den Frieden gebracht haben, die die Sorge um unsere Kinder gebracht haben – das ist die internationale Zivilgesellschaft im Einsatz. Das ist die Größe dieses Werkes, das wir alle zusammen aufbauen konnten. „Hilfswerk“ will ich es gar nicht nennen: Das ist kein Hilfswerk, es ist ein Werk der Menschen, die ihr Menschsein erkannt habe. Die zuerst durch die Angst erschüttert wurden hier im Westen durch Tschernobyl, die gesagt haben: Was wird sein? Was können wir essen? – viel früher als wir es im verstrahlten Belarus gewusst haben. Zuerst war die treibende Kraft Angst. Aber dann war es die Sorge um die Menschen, die unmittelbar diesen Schlag abbekommen haben (heißt es Schlag, oder heißt es einfach Belastung? Die Wissenschaftler haben sehr viele Wörter dazu erfunden, um uns zu vertrösten und um uns auch zu Beweismaterial zu machen. Sie haben uns gesagt: Nein, es ist noch nicht bewiesen worden, wie gefährlich Tschernobyl ist). Aber: Nach einer absolut expandierenden Aktion der Hilfe, der Zusammenarbeit, des Wachwerdens der Bürger kam die Zeit – in Deutschland ist der „Ausstieg aus dem Ausstieg“ dafür exemplarisch –, wo Tschernobyl plötzlich kein Thema mehr war. Für Belarus galt das schon lange, weil Lukaschenko bereits im Jahr 2000 erklärte: „Mit Tschernobyl sind wir fertig.“ Und wir mit unserem Engagement, das wir immer politisch verstanden hatten, wenn es auch um Hilfe ging – wir meinten, unser soziales Engagement ist Ausdruck des Ungehorsams, weil in einem paternalistischen Staat, der alles kontrolliert, kein Engagement genehmigt und jedes Engagement den Glauben an die Allmacht des Staates untergräbt – wir dachten, es ist aus, und wir werden ins Archiv abgeschoben mit unserem Engagement, das politische Folgen hätte haben sollen.

Wir wollten den Politikern unsere Zukunft nicht überlassen. Wir wollten aktive Menschen bleiben, aber wir kann man aktiv bleiben, wenn man auch arbeiten soll? Viele Vorstandsmitglieder von uns sind in dieser Zeit gestorben – 16 tolle Frauen und Männer, die Leiter von verschiedenen Programmen in den Ländern –, sehr viele sind eingeschüchtert worden, wieder andere sind durch das radikale Vorgehen im Gefängnis gelandet. 2004 wurde der erste Versuch unternommen, die Kinderreisen zu verbieten, und wir sagten: „Das erinnert uns an den biblischen Herodes, der die Kinder schlachten lässt, damit sie ihm nicht den prophezeiten Tod bereiten.“ Damit konnten wir das Verbot abwenden, wir konnten die Kinder weiter verschicken, und wir konnten unsere Brücken weiter bauen.


Aber die Tschernobyl-Bewegung wurde gespalten, weil sehr viele Menschen nur die Opfer sehen wollten und nicht die Menschen, die wach geworden waren und im Kleinen etwas bewirkten, und an sich selbst zu glauben begannen: dass sie etwas bewirkten, dass sie sich einbildeten, dass sie auf die die Politik einwirken, dass sie sie verändern können. So etwas kann man sich anmaßen? Haben wir.

2008, am 13. Oktober, das Dekret 555: Kein Kind darf mehr reisen. Der Hohn der Geschichte: Am selben Tag entscheiden Europarat und Europäisches Parlament, dass Lukaschenko mit seinen Helfershelfern nach Europa einreisen kann. Die Schreie der Kinder, die im darauffolgenden Sommer 2009 hinter dem Zaun geblieben sind, wurden kaum gehört. Wir haben nicht aufgegeben: Die Bundesarbeitsgemeinschaft, die Initiativen in der Schweiz – ich grüße meine Schweizer Freundinnen und Freunde, die angereist sind –, in Holland, in Schottland, in Norwegen haben versucht zu kämpfen, haben ihre Politiker regelrecht geschüttelt. Wir haben es geschafft: Die Kinder konnten ein Jahr später wieder ins Ausland zu ihren Freunden fahren. Aber natürlich gab es Verluste, weil viele Initiativen vor Ort, die ein Jahr ausgesetzt hatten, ihr Engagement oft nicht mehr fortsetzen konnten.

Die Geschichte der „Kinder von Tschernobyl“ gegen die Atomkraft wäre vielleicht schon im Archiv gelandet – doch dann kam der furchtbare Schock und ein neues, schrecklicher Ereignis, das uns alle wieder wachgerüttelt hat: Fukushima. Und mit Fukushima kam wieder Kraft, die Resignation musste zurückweichen. Wir haben uns wieder zusammengefunden, haben an den Kundgebungen teilgenommen, haben neue Menschen getroffen und engagiert, weil – und das ist eine wichtige Erkenntnis – wir nicht mehr verkraften können: Die Menschheit kann kein Tschernobyl und kein Fukushima mehr verkraften.

Es ist ein sehr, sehr schwerer Weg, den wir alle gehen. Wir dürfen uns nicht beruhigen! Durch unsere Aktivitäten ist bei abertausenden Menschen ein neues Bewusstsein entstanden. Wenn wir eine halbe Million Kinder wir in die Welt geschickt haben mit der Botschaft: „Tschernobyl ist gefährlich. Das „friedliche Atom“ ist nicht friedlich,“ dann gehören dazu auch diejenigen, die die Kinder aufgenommen haben, die Eltern, auch die Umgebung – das sind Millionen Menschen, die aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, betroffen zu sein, und was es bedeutet, dagegen zu kämpfen. Und auch diese Menschen zähle ich dazu. Und ich bedanke mich sehr, dass dieser Preis uns gefunden hat in Deutschland, wo wir noch Kraft haben, Mut und Hoffnung.

Meine vielen Referate, Reden, Vorträge habe ich genannt „Die Hoffnung im Land der Hoffnungslosigkeit“. Ich kann nichts weiter sagen als: Die Hoffnung in der Welt der Hoffnungslosigkeit – wenn wir die Welt aus der Perspektive der Gewalt und der Ungerechtigkeit betrachten –, die Hoffnung sind wir! Und die Hoffnung ist im Gegensatz zum Optimismus nicht die Gewissheit, dass alles gut ausgeht, sondern das Engagement in der Gewissheit, dass es sich lohnt, egal wie es ausgeht. Diese Worte von Václav Havel müssen uns beflügeln und ermutigen. Sie müssen in uns den Menschen unterstützen, der wach geworden ist, und der sich nicht abgibt mit dem, was ist.

Vielen Dank!


Übergeben wurde der Preis von Irina Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein, Präsidentin des Preises und selbst Preisträgerin von 1994, die einen weiteren Bogen zur Bedeutung des Preises für das heutige Europa spannte. „Europa hat sich verändert. Die Auszeichnung zeigt, dass wir jeden Tag uns bewusst sein müssen, dass wir uns das alles erobert haben“, gab sie den anwesenden Gästen mit auf den Weg.

Der „Preis Frauen Europas – Deutschland“ feierte Ende 2011 sein 20-jähriges Jubiläum: Seit 1991 verleiht das Netzwerk EBD die Auszeichnung an Frauen, die sich durch ihr ehrenamtliches gesellschaftliches Engagement für das Zusammenwachsen und die Festigung eines vereinten Europas einsetzen. Preisträgerinnen waren untere anderen Necla Kelek (2008), Gesine Schwan (2005), Dagmar Schipanski (2000) oder Monika Hauser (1995), Inge Bell, Lea Ackermann und viele andere.

(rv 05.02.2012 ap)








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