An diesem Samstag
vor genau zwei Jahren brachen die Missbrauchsskandale über die katholische Kirche
in Deutschland herein. Auslöser war das Bekanntwerden eines Brief des Jesuiten Klaus
Mertes. Darin räumte der damalige Leiter des Canisiuskollegs in Berlin ein, dass sich
Jesuiten in der Vergangenheit an Schülern sexuell vergangen hätten.
Mertes
ist heute Leiter des Jesuitenkollegs St. Blasien im Schwarzwald. Stefan Kempis fragte
ihn, ob er seinen Brief „heute noch einmal so abschicken würde wie damals“.
„Ja,
selbstverständlich. Das ist für mich gar keine Frage.“
Ihr Brief von damals
hat sehr viel aufgerührt. Haben Sie nicht manchmal heimliches Verständnis für die,
die sagen „Jetzt ist doch genug aufgearbeitet, jetzt gibt es für alles ein Gremium,
eine Hotline oder eine Entschädigungsstelle, und damit wenden wir uns wieder anderen
Themen zu“?
„Ich kann dieses heimliche Verständnis natürlich auch gerne
öffentlich machen: Natürlich kann ich das verstehen, diesen Impuls. Nur gibt es zwei
Aspekte, die dabei zu berücksichtigen sind. Der erste Punkt ist: Natürlich wusste
ich zu dem Zeitpunkt, als ich den Brief losschickte, noch nicht, welche Auswirkung
er haben würde. Das war für mich aber nachträglich niemals ein Grund, irgendetwas
daran zu bereuen! Immer wenn ich mich an die Entscheidungssituation vom Januar 2010
erinnert habe, hatte ich das Gefühl, es war die richtige Entscheidung. Der zweite
Punkt ist: Die Aufklärung tut natürlich weh, und von daher ist der Impuls „es muss
auch einmal Schluss sein“ verständlich. Aber es ist eben ein Schmerz, dem man sich
stellen muss, weil die Wahrheit an sich immer eine schmerzliche Wahrheit ist! Es ist
aber zugleich ein unglaublicher Segen für unglaublich viele Menschen, dass dieses
Tabu gebrochen ist. Das ist die große Chance, die durch die Aufklärung kommt. Es ist
im Sinne der Seelsorge ein heilsamer Akt.“
Das Tabu ist gebrochen, aber
lässt sich diese neue Offenheit wirklich ständig aufrechterhalten, so wie Sie das
gegenüber der KNA wünschen: „Die Fragen sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch
müssen ein ständiges Thema in Gesellschaft und Kirche bleiben.“ Schläft das mit der
Zeit nicht wieder automatisch ein? Wie kann man das denn ständig wach halten?
„Es
geht ja nicht darum, dass die Medien es ständig wach halten müssen, sondern wir selbst
müssen es ständig wach halten! Ich bin hauptberuflich Schulleiter. Ein Schulleiter
muss immer wissen, dass es Themen wie Alkoholmissbrauch, Drogen, Gewalt gibt, die
man ständig wach halten muss - im Sinne einer Grundaufmerksamkeit. Das gilt natürlich
auch für diese Fragestellungen sexualisierter Gewalt. Es ist einfach damit zu rechnen,
dass hier ein Risiko vorliegt, und es muss eine Grundaufmerksamkeit vorliegen, die
nicht mit einer Stimmung von Hysterie oder aufbauschender Panik zu verwechseln ist.
Das ist das, was ich meine!“
Hat die deutsche Kirche aus den Missbrauchsskandalen
hinreichend gelernt?
„Zuerst einmal hat sich die Kirche erschüttern lassen.
Das ist schon einmal ein großer Wert. Die Lernprozesse, um die es da geht, sind langfristige
Lernprozesse. Das müssen sie auch sein, denn nur dann sind sie auch wirklich nachhaltig.
Ich glaube, dass die Kirche in diesem Sinne auch wirklich einiges gelernt hat: Zum
Beispiel diese Grundaufmerksamkeit, dass es beim Missbrauch nicht nur um die Missbrauchstat
geht, sondern auch um die Verantwortung der Institution für das Hinschauen und Hinhören,
wenn Opfer versuchen zu sprechen. Das ist ein Beispiel, und da hat sie viel gelernt.
Ich denke, sie hat auch hinzugelernt (das war ja auch ein schmerzlicher
Prozess), dass an der Forderung nach Entschädigung, die von Opferseite her gestellt
worden ist, auch tatsächlich etwas dran ist. Dass es hier nicht einfach nur um Rache
geht, sondern um eine Frage der Gerechtigkeit. Da ist in Deutschland viel gelaufen,
und die katholische Kirche in Deutschland hat dazu auch ein entsprechendes Modell
von Anerkennungszahlungen entwickelt, das, wie ich finde, in Deutschland einmalig
ist. Es gibt keine Institution, die einen vergleichbaren Schritt gegangen ist, um
Gerechtigkeit und damit auch Voraussetzungen für eine mögliche Versöhnung mit den
Opfern zu schaffen!
Ich glaube auch, dass viel im Bereich der Prävention
gelernt worden ist: dass es auch struktureller Maßnahmen bedarf, um diese Aufmerksamkeit,
von der ich anfangs gesprochen habe, zumindest strukturell zu sichern. Zum Beispiel
dadurch, dass es so etwas gibt wie Schülerrechte; dass Schüler auch über ihre Rechte
informiert werden; dass es so etwas gibt wie Ombusstellen; dass diese Adressen bekannt
sind und immer wieder bekannt gemacht werden, usw.. Das sind alles wichtige Dinge,
die aus dem Skandal herausgekommen sind und wo in der Kirche auch viel gelernt worden
ist.“
Was hat die Kirche womöglich aus ihrer Sicht noch nicht gelernt?
„Mich
bewegt und bedrückt am tiefsten die Frage der Prävention - unter der Rücksicht, wo
wir noch tiefer an unsere Strukturen und auch an spirituelle Fragen herangehen müssen.
Das sind vor allem Fragen, die den Umgang mit geistlicher Macht betreffen, und zwar
nicht nur durch diejenigen, die sie inne haben, sondern auch durch diejenigen, die
sie anerkennen. Das ist ein gesamtkirchliches Thema! Um es ein bisschen zugespitzt
zu formulieren: Klerikalismus ist nicht nur ein Problem der Kleriker. Das andere Thema
ist natürlich das Hinhören auf Aussagen von Opfern, die die katholische Sexuallehre
unter dem Aspekt sehen, wie diese mit ihrem Missbrauch zusammenhängt und auch mit
ihrem Schweigen. Viele Missbrauchsopfer teilen mir mit, dass das Leiden für sie auch
noch einmal einen spezifischen Geschmack hatte, der katholischer Art war. Das hängt
mit den großen Schuld- und Schamgefühlen zusammen, die mit dem Missbrauch gekommen
sind und die es ihnen auch schwer gemacht haben, zu sprechen. Da ist dann die Frage,
wie wir in der Sexualpädagogik so über diese Themen sprechen können, dass Jugendliche
nicht selbst ein Tabu daraus machen, wenn ihnen so etwas passiert.“
Wie
ist Ihr theologischer Blick auf den Missbrauchsskandal? Wie lesen Sie das Evangelium
mit dieser Erfahrung im Hinterkopf?
„Ich entdecke in der Missbrauchsthematik
mehrere Themen. Das eine ist diese Erfahrung, dass man dadurch, dass man etwas aufdeckt,
spaltet, ohne die Intention dazu zu haben. Das ist auch eine Erfahrung, die Jesus
im Evangelium macht: Durch das Evangelium spaltet er. „Ich bin nicht gekommen, um
Frieden zu bringen, sondern Schwert“, sagt er dazu, also: Spaltung. Nicht weil er
die Intention hat zu spalten, sondern weil die Botschaft des Evangeliums seine Entscheidung
herausfordert und diese dann auch zu einer Spaltung führen kann.
Das
ist ein Beispiel. Die andere Frage ist: Aus der Forderung der Opfer nach Entschädigung
habe ich die Sühne-Theologie des Alten und des Neuen Testamentes und deren tiefen
Sinn ganz neu entdecken dürfen. Nicht nur in der Frage nach der Versöhnung des Menschen
mit Gott, sondern auch in der Frage nach der Versöhnung der Menschen untereinander.
Dass es immer auch so etwas geben muss wie einen Prozess, in dem beide Seiten aktiv
sind. Was ich übrigens auch als eine sehr katholische Position empfinde: zu sagen,
das zur Versöhnung mit Gott auch ein Beitrag des Sünders gehört. Das ist ein hoch
theologisches Thema.
Das dritte Thema, das mich auch sehr, sehr beschäftigt
hat, ist zu entdecken, was der Vertrauensmissbrauch von Kindern biographisch bei Menschen
auslöst. Nämlich, dass sie nur noch unter größten Schwierigkeiten vertrauen können
oder gar nicht mehr vertrauen können. Wenn man aber misstraut, dann traut man dem
Gegenüber ganz schlimme Dinge zu; das kann bis zum Hass führen. So hatte ich auch
viel mit Hassgefühlen von Opfern gegenüber der Kirche oder gegenüber mir, als Repräsentanten
der Kirche, zu tun.
Vom Evangelium her ist mir bewusst geworden, was
diese Gewaltlosigkeit bedeutet - nämlich die andere Wange hinhalten. Das heißt, auf
den Hass, der einem entgegenschlägt, nicht mit moralischer Verurteilung zu reagieren,
sondern dadurch, dass man ihn gewaltfrei aushält, um den Kreislauf zu unterbrechen,
der dazu führt, dass Gewalt, die man erlebt, immer wieder zurückgegeben wird und es
zu einem Gewaltkreislauf kommt. Der tiefe Sinn der Bergpredigt und des Gewaltverbotes
der Bergpredigt ist mir dadurch noch einmal ganz neu klar geworden. Gerade in der
Begegnung mit dem Opfern.“