Menschen in der Zeit: Rita Süssmuth im Gespräch mit Aldo Parmeggiani
Professor Dr. Rita
Süssmuth hat auf sehr eindrückliche Weise die Politik in Deutschland über Jahrzehnte
mit gestaltet und mit bestimmt. Zehn Jahre lang – von 1988 bis 1998 – war sie Präsidentin
des deutschen Bundestages, davor Bundesfamilien – und Gesundheitsministerin. Daneben
ist die überzeugte Christin ordentliche Professorin, Präsidentin des Volkshochschulverbandes
und war langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken. Rita Süssmuth
feiert in diesen Tagen ihren 75. Geburtstag.
Frau Professor Süssmuth, sie
galten lange Zeit in Deutschland als die ‚beliebteste Politikerin’. Einer Umfrage
zu folge waren Sie jene Politikerin, der die meisten Befragten ‚ohne Bedenken’ ihr
Auto anvertrauen würden. Wie würden Sie selbst Ihre ‚Andersartigkeit’, Ihre öffentliche
Popularität in kurze Worte fassen?
„Ich bin angetreten mit bestimmten Vorstellungen:
wie die Rolle der Frau künftig verändert werden müsste, was sie tun müssen gegen Ausgrenzung
von Menschen, was sie tun müssen in der Frage Schutz des Lebens. Dafür habe ich mich
eingesetzt – vielleicht manchmal auch zu hartnäckig – aber ohne Hartnäckigkeit geht
es nicht.“
Wer viel Anerkennung hat, erntet meistens auch Kritik. Bisweilen
sind Sie durch ungewöhnliche Auftritte auch auf Widerstand gestoßen. War das bewusste
Provokation, politische Ambition oder einfach Zivilcourage?
„Ich bin meiner
Überzeugung gefolgt, manchmal nach langem Nachdenken darüber – wagst Du’s oder Wagst
Du’s nicht – ich bin manchmal auch gescheitert dabei, aber ich finde schon wichtig,
dass die Überzeugungen stärker sind als die Ängste oder Opportunitäten“.
Was
erwarten sich die meisten Menschen eigentlich von einer Bundestagspräsidentin in erster
Linie? In nenne einmal: Orientierung, beispielhafte Lebensführung, glaubhafte Positionierung?
„Sie
handelt danach, was sie sagt; Das ist das, was Sie glaubhafte Positionierung nennen.
Ich denke zum anderen, wichtig sind die Umgangsformen. Wenn wir vom Parlament sprechen,
dann lebt unsere Demokratie zugleich von Freiheiten, aber auch von Regeln, die von
allen einzuhalten sind. Das sind so wichtige Umgangsregeln, die im Parlament praktiziert
werden müssen, Es gibt manchmal Verbalangriffe, die sind schlimmer als körperliche
Auseinandersetzungen.’
Und damit sind wir bei der Moral angekommen: Moral
und Politik, passt das zusammen? Eine häufige Frage.
„Diese Frage irritiert
mich: ich kann mir keine Politik ohne Moral vorstellen! Selbst Macchiavelli wusste
sehr wohl um diesen Zusammenhang“.
Was ist das Wichtigste in der Politik?
Was muss in der Politik im Mittelpunkt stehen?
„Also für mich muss im Mittelpunkt
stehen, der Mensch mit seiner Umgebung. Mit seinen kognitiven, seinen verstandeskräftigen,
seinen emotionalen und seinen sozialen Kräften. Und wir in der Politik haben es zu
tun mit dem Zusammenleben der Menschen. Da geht es um die Frage: wie fair geht es
zu, wie gerecht geht es zu. In welcher Weise werden die grundlegenden Menschenrechte
geachtet.“
Ein neues Buch von Ihnen, es wird im kommenden März erscheinen,
mit dem Titel: ‚Das Gift des Politischen’. Das klingt wie ein Krimi….
„Das
ist kein Krimi, das ist nicht die Thematik meines Buches. Die Politik hat nach wie
vor hohe Attraktivität. Wenn ich von mir selbst spreche, weil ich etwas verändern
möchte. Und bei diesem Verändern ist es ganz wichtig, mit welchen Mitteln ich das
tue. Was ich den Menschen sage über unsere Situation. Das Problem in unserer Republik
ist in den letzten zwei Jahrzehnten gewesen, dass wir immer mehr versprochen haben,
als wir halten konnten. Das ist Gift. Dass wir die Frage von Freiheiten, von Rechten
und Pflichten nicht mehr ernst genug genommen haben. Es hat sich so ein Demokratieverständnis
entwickelt: ich habe Rechte aber Pflichten habe ich eigentlich nicht. Das ist Gift!“
Sie
sind eine engagierte Katholikin und weisen sich auch immer als solche aus: was heißt
katholisch sein, heute?
„Ja, ich bin engagiert und der Glaube bedeutet
mir sehr viel. Aber vor das Katholische kommt für mich das Christliche, Katholisch
sein heißt für mich, offen sein für die Menschen. Das ist kein regionaler Glaube,
das hängt mit den Botschaften unserer Schöpfungsgeschichte und der Rolle des Menschen
in der Welt zusammen. Das heißt, dass wir gebunden und verbunden sind mit dem was
ich Transzendenz nenne, Wir wissen: wir sind nicht allein gelassen. Und wir sollten
andere nicht allein lassen. Wir sind zuständig für alle Menschen. Nicht nur für die
Katholiken. Und keiner soll verloren gehen. Die Liebesbotschaft und die Erlösungsbotschaft:
das ist für mich der Inhalt dessen, was mich bewegt und Vertrauen zu den Menschen
zu haben, bei allem Wissen um unsere Schwächen“.
Wo ist die katholische
Kirche für Sie ein wirkliches, echtes Beispiel, wo ist sie es nicht?
„Also
am stärksten ist sie für mich Beispiel in der Caritas. In der Liebe, der sich uns
Gott offenbart hat und die wir in dem Maße, wie wir Menschen es vermögen, weitergeben.
Wo Menschen für Menschen eintreten, da ist sie beispielhaft. Sie ist beispielhaft,
wenn es um die Freiheit der Menschen geht, ich würde mir wünschen, sie würde diese
Freiheit auf der einen Seite noch konsequenter zulassen. Denn wir sind ein Leben lang
Suchende. Unser Papst Benedikt XVI. hat als Theologe nie vertreten, dass wir d i
e Wahrheit erkennen, sondern das sind Annäherungsschritte. Es ist mir wichtig, dass
die katholische Kirche – auch sie hat ihre Schwächen – denken Sie an die Missbrauchsfälle
- keinen Menschen aufgibt, auch wenn er nicht mehr in ihrem Sinne katholisch ist.“
Vor
zehn Jahren haben Sie sich aus der aktiven Politik zurückgezogen, sich aber vermehrt
in den Bereichen Zuwanderung, Integration eingesetzt. Sie sind eine ausgewiesene Expertin
in Zuwanderungsfragen. Wie lauten Ihre Lösungskonzepte? Ist die Sorge vor Überfremdung
begründet oder nicht?
„Was mir ganz wichtig ist: Einbeziehung der Menschen,
nicht Ausgrenzung. Ob der Frauen, der Behinderten, der Fremden, der Aids-Infizierten,
das ist der rote Faden, das Kontinuum in meiner Politik gewesen, und ist es auch heute
noch. Ich bin wirklich von der Frauenpolitik zur Migrationspolitik gekommen, weil
ich festgestellt habe, bei der Ausgrenzung der Frauen galten ähnliche Merkmale, wie
bei der Ausgrenzung der Migranten. Hauptfrage ist die Sorge vor Überfremdung begründet?
Da möchte ich Ihnen sagen: das verstehe ich als Christ überhaupt nicht, dass wir diese
Sorge vor Überfremdung haben. Ob wir uns nun an die biblischen alt- oder auch neutestamentarischen
Stellen besinnen, da geht es doch darum; dass kein Mensch uns fremd sein sollte, sondern
dass wir aufgefordert sind: Nimm Dich des Menschen an. Überfremdung passiert dann,
wenn wir selbst als Christen keine Position mehr haben. Und uns nicht einlassen auf
den anderen. Deshalb halte ich den Dialog unter Christen genauso wichtig, wie den
Dialog mit Menschen aus nicht christlichen Religionen“.
Im Umgang mit dem
Schutz des ungeborenen Lebens – ein Paradigma der katholischen Kirche – ist es in
Deutschland immer wieder zu Kontroversen gekommen. Sie haben darin eine liberale Haltung
eingenommen.
„Ja, ich habe eine Haltung eingenommen, die auch abweicht
von der römischen Position. Ich habe Schwierigkeiten damit, dass man das liberal nennt.
Wenn liberal verstanden wird – also man kann so oder anders machen, man kann Leben
erhalten und man kann Leben töten – dann habe ich nicht eine liberale Haltung eingenommen,
sondern eine Haltung wo ich mich gefragt habe: wie können wir den Schutz des Lebens
wirksamer durchsetzen? Das heißt – ich kann dies auch mit den Worten von Kardinal
Lehmann sagen – das geht nur mit den Betroffenen und nicht gegen sie. Da betone ich
noch einmal, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, dass wir nicht relativieren,
was nicht zu relativieren ist. Lebensschutz ist Lebensschutz. Und zwar das Leben von
Anfang an. Klarheit in den grundlegenden Prinzipien. Aber das andere ist auch die
Liebe zum Menschen, die Zuwendung in der Not. Wieder das Christliche: Lass niemand
allein, niemand darf verloren gehen. Man kann mich kritisieren, aber ich möchte Ihnen
sagen: die letzte Entscheidung muss diejenige treffen, die das Kind austrägt. Dabei
kann es sein, dass sie eine falsche Entscheidung trifft. Aber, sie zu zwingen, das
Kind auszutragen, gegen ihren Willen, kann genau so falsch sein. Um des Kindes und
der Mutter Willen. Insofern haben wir nach Möglichkeiten gesucht, beide Gesichtspunkte,
den Schutz und die verantwortliche Entscheidung, zusammenzuführen. Aber das ist letztlich
ein nicht lösbarer Konflikt“.
Wie schätzen Sie das bisherige Pontifikat
von Papst Benedikt XVI im allgemeinen ein?
„Ich möchte einfach sagen: mein
Papstverständnis ist das Verständnis des guten Hirten, der sich kümmert, der aber
auch Leitlinien angibt, der diese Gemeinschaft zusammenhält. Der nicht spaltet, sondern
verbindet. Ich bewerte sehr positiv die Bereitschaft Benedikt XVI. zum Dialog, seine
Aufrufe zu Frieden, Friedensfähigkeit zu entwickeln, Ich wünsche mir, dass dieser
Papst noch mehr die Menschen spüren lässt: wir wissen nur bedingt etwas, wir begeben
uns in Gottes Schutz, manchmal zweifelnd, manchmal in dem Gefühl der Geborgenheit
und Sicherheit, aber Gott muss an uns erfahren, wie sehr wir versagen, aber er braucht
auch uns Menschen – um es mit dem Theologen Metz zu sagen – das ist ein wechselseitiges
Verhältnis und wir sind dabei Lernende und Irrende wie auch mitunter uns auf dem rechten
Weg befinden“.
Sind Glaube und Vernunft Gegensätze oder Herausforderungen,
die sich ergänzen?
„Als erstes nennen ich: sie sind Herausforderungen.
Sie schließen sich nicht aus, im Gegenteil. Aber es gibt für den Glauben Grenzen der
Vernunft, wo ich mich entweder auf die Glaubensebene hinbewege oder nicht. Da werden
die Gegensätze deutlich. Denn der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist nicht beweisbar,
sondern da gibt es eine Evidenz die nur in der Tiefe unserer Überzeugung liegen kann.
Da spüren wir dann auch die Gegensätze, die Grenzen der Vernunft, ohne dass die Vernunft
sagen kann: das ist ausgeschlossen, dass da noch etwas sein kann. Der Glaube bleibt
auch ein Fragender der neuen Vergewisserung, die manchmal auch verloren gehen kann“.
Was
würden Sie als den Kern der christlichen Botschaft bezeichnen?
„Der Kern
der christlichen Botschaft – das sagt ja der Theologe Ratzinger selbst, ist die Liebesbotschaft.
Und mit der Liebesbotschaft verbunden, die Erlösungsbotschaft. Da möchte ich auf eine
Paradoxie eingehend, die offenbar überzeugten Gläubigen anderer Religionen sehr zu
schaffen macht: Wie könnt ihr Christen einen Gekreuzigten zu euern Gott erheben? Die
Paradoxie – ich sage das mal mit Erasmus - ist das Kreuz, das ist die Kernbotschaft
– auch zugleich ein sich Einlassen, nicht Herablassen, auf die extremsten existentiellen
Situationen eines Menschen und andererseits in dieser Schwäche sich eine Stärke offenbart,
die uns immer wieder neu im Glauben bewusst wird. Das nenne ich Paradoxie, weil man
denkt, jemand der schwach ist kann nicht stark sein. Doch, das erleben wir an Menschen
mit oft tiefer Krankheit, aussichtsloser Situation. Und von daher diese Liebes- und
Erlösungsbotschaft ist für mich der Kern des Christlichen“.
Welche Gestalten
würden Sie im Bezug auf Ihre Lebensphilosophie nennen?
„Da nenne ich Ihnen
als erstes Thomas Morus. Das ist ein Stück meiner Lebensphilosophie, auch ein Mensch,
der sehr gerungen hat mit seinem Leben. Der vita activa und der vita kontemplativa,
einlassend sich engagierend auch im Alltag der Politik. Ich nennen Ihnen zum anderen
Persönlichkeiten wie Franziskus. Jetzt werden Sie sagen: das sind ja nicht mehr Lebende,
aber Tote können sehr lebendig sein. Und der afrikanische Kämpfer für Rassismus, Nelson
Mandela, der ist für mich ein Lebensbeispiel.“
Was bereitet Ihnen heute
am meisten Sorgen?
„Die immer größer werdende Kluft zwischen Menschen verschiedener
sozialer Lagen, verschiedener Lebensalters . Wir sind wieder stärker bei Ausgrenzung
als bei Einbindung. Mich bedrückt , wenn ich in der arabischen Revolution erfahren
muss, dass das Leben der Menschen dort so aussichtslos von Armut bestimmt ist. Und
wir darüber kaum sprechen…. Wir haben uns so sehr an Wohlstand gewöhnt, dass wir
anderei sträflich vernachlässigt haben. Und unserer Jugend zum Teil Steine statt Brot
angeboten haben“.
Was geben Sie von Ihren beruflichen und menschlichen Erfahrungen
der Jugend weiter?
„Ich gebe nicht nur meine Erfahrung weiter, sondern,
- das ist wunderbar beim Älterwerden – Erfahrung mit Jugendlichen von denen ich viel
mitnehme und in meinem Denken und Handeln beachte. Das ist eine wechselseitige Begegnung.
Wir geben nicht einfach nur an die Jugend weiter, sondern die Jugend auch an uns“.