"Migrationen und Neuevangelisierung"Liebe Brüder und Schwestern! Jesus
Christus, den einzigen Retter der Welt, zu verkünden, ist »die wesentliche Sendung
der Kirche …, eine Aufgabe und Sendung, die die umfassenden und tiefgreifenden Veränderungen
der augenblicklichen Gesellschaft nur noch dringender machen« (Apostolisches Schreiben
14). Heute spüren wir sogar die dringende Notwendigkeit, mit neuer Kraft und in erneuerter
Weise die Evangelisierungstätigkeit zu fördern, in einer Welt, in der die Aufhebung
von Grenzen und die neuen Prozesse der Globalisierung die Personen und Völker einander
noch stärker annähern, sowohl durch die Entwicklung der Kommunikationsmittel als auch
durch die Häufigkeit und Leichtigkeit, mit denen einzelnen und Gruppen ein Ortwechsel
ermöglicht wird. In dieser neuen Situation müssen wir in jedem von uns die Begeisterung
und den Mut, die die ersten christlichen Gemeinden bewegt haben, die Neuheit des Evangeliums
furchtlos zu verkünden, neu erwecken, indem wir in unserem Herzen die Worte des hl.
Paulus widerhallen lassen: »Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, dann kann ich
mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium
nicht verkünde!« (1 Kor 9,16). Das Thema, das ich in diesem Jahr für den
Welttag des Migranten und Flüchtlings gewählt habe – »Migrationen und Neuevangelisierung«
– entsteht aus dieser Wirklichkeit heraus. Denn die gegenwärtige Stunde ruft die Kirche
auf, eine Neuevangelisierung durchzuführen, auch innerhalb des weiten und komplexen
Phänomens der menschlichen Mobilität, und die Missionstätigkeit zu verstärken, sowohl
in den Gebieten der Erstverkündigung als auch in den Ländern christlicher Tradition.
Der sel. . lädt uns ein, »uns vom Wort [zu] nähren, um im Bemühen um die Evangelisierung
›Diener des Wortes zu sein‹ …, [in einer Situation], die im Zusammenhang mit der Globalisierung
und der neuen gegenseitigen Verflechtung von Völkern und Kulturen, die sie mit sich
bringt, immer vielfältiger und anspruchsvoller wird« (Apostolisches Schreiben , 40).
Denn die innerstaatlichen und internationalen Migrationen – auf der Suche nach besseren
Lebensbedingungen oder um vor der Bedrohung durch Verfolgungen, Kriegen, Gewalt, Hunger
und Naturkatastrophen zu fliehen – haben zu einer nie dagewesenen Mischung von Personen
und Völkern geführt, mit neuen Problematiken nicht nur vom menschlichen, sondern auch
vom ethischen, religiösen und geistlichen Gesichtspunkt her. Die gegenwärtigen offensichtlichen
Folgen der Säkularisierung, das Aufkommen neuer sektiererischer Bewegungen, eine weitverbreitete
Gleichgültigkeit gegenüber dem christlichen Glauben, eine deutliche Tendenz zur Zersplitterung
machen es schwer, einen gemeinsamen Bezugspunkt ins Auge zu fassen, der dazu ermutigt,
»eine einzige Menschheitsfamilie« zu bilden, »eine einzige Familie von Brüdern und
Schwestern in Gesellschaften, die immer multiethnischer und interkultureller werden,
wo auch die Personen unterschiedlicher Religion zum Dialog geführt werden, um zu einem
friedlichen und fruchtbaren Zusammenleben zu gelangen, unter Achtung der legitimen
Unterschiede«, wie ich im vergangenen Jahr in der geschrieben habe. Unsere Zeit ist
geprägt von Versuchen, Gott und die Lehre der Kirche aus dem Horizont des Lebens zu
entfernen, während Zweifel, Skepsis und Gleichgültigkeit sich breitmachen, die sogar
jegliche gesellschaftliche und symbolische Sichtbarkeit des christlichen Glaubens
auslöschen möchten. In diesem Zusammenhang werden die Migranten, die Christus
kennengelernt und ihn angenommen haben, nicht selten dahin gebracht, ihn im eigenen
Leben als nicht mehr relevant zu betrachten, den Sinn für den Glauben zu verlieren,
sich nicht mehr als Teil der Kirche zu verstehen, und oft führen sie ein Leben, das
nicht mehr von Christus und von seinem Evangelium geprägt ist. In Völkern aufgewachsen,
die vom christlichen Glauben geprägt sind, wandern sie oft in Länder aus, in denen
die Christen in der Minderheit sind oder wo die überkommene Glaubenstradition keine
persönliche Überzeugung und kein gemeinsames Bekenntnis mehr ist, sondern zu einem
kulturellen Faktor reduziert wurde. Hier steht die Kirche vor der Herausforderung,
den Migranten zu helfen, am Glauben festzuhalten, selbst wenn der kulturelle Halt
fehlt, der in der Heimat vorhanden war, auch durch die Auffindung immer neuer pastoraler
Strategien sowie von Methoden und Sprachen für eine stets lebendige Annahme des Wortes
Gottes. In einigen Fällen handelt es sich um eine Gelegenheit zu verkünden, daß die
Menschheit in Jesus Christus des Geheimnisses Gottes und seines Lebens der Liebe teilhaftig
und auf einen Horizont der Hoffnung und des Friedens hin geöffnet wird, auch durch
den respektvollen Dialog und das konkrete Zeugnis der Solidarität. In anderen Fällen
wiederum gibt es die Möglichkeit, das eingeschlafene christliche Gewissen durch eine
erneuerte Verkündigung der Frohbotschaft und ein konsequenteres christliches Leben
zu wecken, um die Schönheit der Begegnung mit Christus wiederzuentdecken, der den
Christen zur Heiligkeit beruft, wo immer er sich befindet, auch in der Fremde. Das
gegenwärtige Migrationsphänomen ist auch eine von der Vorsehung geschenkte Gelegenheit
für die Verkündigung des Evangeliums in der heutigen Welt. Männer und Frauen aus verschiedenen
Teilen der Erde, die Jesus Christus noch nicht begegnet sind oder ihn nur bruchstückhaft
kennen, bitten in Ländern alter christlicher Tradition um Aufnahme. Ihnen gegenüber
müssen angemessene Wege gefunden werden, damit sie Jesus Christus begegnen und kennenlernen
und das unschätzbare Geschenk des Heils erfahren können, das für alle Menschen Quelle
des »Lebens in Fülle« ist (vgl. Joh 10,10). Den Migranten kommt in diesem Zusammenhang
eine wertvolle Rolle zu, denn sie können »selbst Verkündiger des Wortes Gottes und
Zeugen des auferstandenen Jesus, der Hoffnung der Welt, werden« (Apostolisches Schreiben
). Auf dem anspruchsvollen Weg der Neuevangelisierung kommt im Umfeld der Migranten
den Mitarbeitern in der Pastoral – Priestern, Ordensleuten und Laien –, deren Arbeit
immer mehr in einem pluralistischen Kontext stattfindet, eine entscheidende Rolle
zu: Ich lade sie ein, in Gemeinschaft mit ihren Ortsbischöfen und aus dem Lehramt
der Kirche schöpfend Wege des brüderlichen Miteinanders und der respektvollen Verkündigung
zu suchen und Gegensätze und Nationalismen zu überwinden. Die Kirchen der Ursprungsländer,
der Durchzugsländer und der Aufnahmeländer der Migrationsströme sollten ihrerseits
ihre Zusammenarbeit vertiefen, zum Nutzen der Aufbrechenden ebenso wie der Ankommenden
und in jedem Fall derer, die auf ihrem Weg der Begegnung mit dem erbarmenden Antlitz
Christi in der Aufnahme des Nächsten bedürfen. Zur Umsetzung einer fruchtbringenden
Pastoral der Gemeinschaft kann es nützlich sein, die traditionellen Hilfsstrukturen
für Migranten und Flüchtlinge zu erneuern und ihnen Modelle zur Seite zu stellen,
die den veränderten Situationen, in denen unterschiedliche Kulturen und Völker miteinander
leben und handeln, besser entsprechen. Die Flüchtlinge, die um Asyl bitten und
vor Verfolgung, Gewalt und lebensbedrohlichen Situationen geflohen sind, brauchen
unser Verständnis und unsere Aufnahmebereitschaft, die Achtung ihrer Menschenwürde
und ihrer Rechte, und sie müssen sich auch ihrer Pflichten bewußt sein. Ihr Leiden
ruft die einzelnen Staaten und die internationale Gemeinschaft auf, eine Haltung gegenseitiger
Annahme einzunehmen, Ängste zu überwinden und Diskriminierungen zu vermeiden sowie
für eine konkrete Umsetzung der Solidarität zu sorgen, auch durch geeignete Aufnahmestrukturen
und Umsiedlungspläne. All das beinhaltet auch die gegenseitige Hilfe zwischen den
leidgeplagten Regionen und denen, die schon jahrelang zahlreiche Menschen auf der
Flucht aufnehmen, sowie die Übernahme größerer gemeinsamer Verantwortung von seiten
der Staaten. Der Presse und den anderen Kommunikationsmitteln kommt die wichtige
Aufgabe zu, korrekt, objektiv und aufrichtig über die Situation derer zu berichten,
die gezwungen waren, ihre Heimat und ihre Angehörigen zu verlassen, und beginnen möchten,
eine neue Existenz aufzubauen. Die christlichen Gemeinden sollen den Arbeitsmigranten
und ihren Familien besondere Aufmerksamkeit entgegenbringen, durch die Begleitung
in Gebet, Solidarität und christlicher Nächstenliebe; durch die Wertschätzung dessen,
was der gegenseitigen Bereicherung dient; und durch die Unterstützung neuer politischer,
wirtschaftlicher und sozialer Projekte, die die Achtung der Würde jeder menschlichen
Person, den Schutz der Familie, den Zugang zu angemessener Unterbringung, zu Arbeit
und Hilfeleistungen fördern. Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen, Laien und
vor allem junge Männer und Frauen sollen gegenüber den vielen Schwestern und Brüdern,
die vor der Gewalt geflohen sind und neuen Lebensstilen und Integrationsschwierigkeiten
gegenüberstehen, Einfühlsamkeit zeigen und ihnen Unterstützung anbieten. Die Verkündigung
des Heils in Jesus Christus soll Quelle der Erleichterung, der Hoffnung und der »vollkommenen
Freude« sein (vgl. Joh 15,11). Abschließend möchte ich an die Situation
zahlreicher internationaler Studenten erinnern, die mit Eingliederungsproblemen, bürokratischen
Schwierigkeiten und Beschwernissen auf der Suche nach Unterkunft und Begegnungsstätten
konfrontiert sind. Die christlichen Gemeinden sollten besonders einfühlsam sein gegenüber
den vielen jungen Männern und Frauen, die aufgrund ihres jugendlichen Alters nicht
nur kulturelles Wachstum, sondern darüber hinaus auch Bezugspunkte brauchen, und die
in ihrem Herzen ein tiefes Verlangen nach der Wahrheit hegen und den Wunsch haben,
Gott zu begegnen. Insbesondere die christlich orientierten Universitäten sollen Orte
des Zeugnisses sein, von denen die Neuevangelisierung ausstrahlt. Sie sollten sich
ernsthaft darum bemühen, im akademischen Bereich zum sozialen, kulturellen und menschlichen
Fortschritt beizutragen und darüber hinaus den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern
und dem Beitrag, den die internationalen Studenten leisten können, Wertschätzung entgegenzubringen.
Wenn sie echten Zeugen des Evangeliums und Vorbildern christlichen Lebens begegnen,
wird es sie anspornen, selbst zu Handlungsträgern der Neuevangelisierung zu werden. Liebe
Freunde, bitten wir um die Fürsprache Marias, »Unsere Liebe Frau vom Weg«,
auf daß die freudige Verkündigung des Heils Jesu Christi Hoffnung bringe in die Herzen
derer, die auf den Straßen der Welt unterwegs sind. Allen sichere ich mein Gebet zu
und erteile ihnen den Apostolischen Segen. Aus dem Vatikan, am 21. September
2011BENEDICTUS PP. XVIQuelle: www.vatican.va