2012-01-10 15:51:32

Nigeria: „Die Boko Haram tun nur islamistisch“


RealAudioMP3 Stürzt die islamistische Sekte Boko Haram Nigeria in einen neuen Bürgerkrieg? Immer wieder macht die Gruppe in diesen Tagen mit Anschlägen gegen Christen von sich reden; allein am letzten Wochenende wurden in fünf nördlichen Bundesstaaten Nigerias mehr als vierzig Menschen mutmaßlich von Mitgliedern der Boko Haram umgebracht. Wenn man die Medienberichterstattung etwa in Deutschland darüber verfolgt, hat man den Eindruck, die Sekte sei sozusagen aus dem Nichts aufgetaucht.


„Aber das stimmt überhaupt nicht – die gab`s schon immer.“


Das sagt der christliche Nigerianer Dominics Akaahan. Er lebt in Frankfurt, veröffentlicht aber häufig in Nigeria Aufsätze über sozial-religiöse Bewegungen. Wie etwa über die Boko Haram:


„Also, die gab es schon in den siebziger und achtziger Jahren unter einem ganz anderen Namen; als Student in Maiduguri im Nordosten Nigerias habe ich damals auch selbst ein Attentat von Boko Haram, die damals anders hießen, erlebt.“


Maiduguri war an Weihnachten 2011 Schauplatz des bisher größten Terroranschlags der Gruppe, deren heutiger Name wörtlich übersetzt heißt „Bücher sind verboten“. Gemeint ist damit: Alle westliche Bildung ist des Teufels. Aber so islamisch das klinge, so politisch sei es in Wirklichkeit. Denn der Zorn der Boko Haram rühre in Wirklichkeit von einem nicht gehaltenen politischen Versprechen vom Ende der neunziger Jahren her, urteilt Akaahan.


„Als die Demokratie anfing, sagten die Nigerianer: Okay, jetzt soll der Westen regieren, und nach acht Jahren soll dann der Norden regieren. Und als dann die Zeit kam, in der der Norden regieren sollte, galt das auf einmal nicht mehr. Der aus dem Norden stammende Präsident starb, und der Norden wollte weiterhin regieren, aber der jetzige Präsident Goodluck Jonathan lehnte das ab und sagte: Es gibt eine solche Abmachung nicht, die ist nirgendwo niedergeschrieben. Und jetzt fühlen sich die Muslime getäuscht, weil die Christen weiter regieren und nicht die Muslime.“


Im Mai 2010 beerbte der christliche Präsident Jonathan den nur kurz und glücklos regierenden muslimischen Staatschef Umaru Yar`Adua. Bereits dessen Vorgänger war wiederum ein Christ gewesen: Olusegun Obasanjo, bis 2007 erster Präsident des demokratisch gewordenen Nigeria.


„Boko Haram gehört zu den Gruppen, die jetzt sagen: Das erlauben wir nicht, dass die Christen weiter regieren. Darum gibt es den Aufstand, den wir jetzt gerade erleben. Das ist ein inner-nigerianisches Thema!“


Akaahan widerspricht Darstellungen, die Boko Haram mit al Qaida in Verbindung bringen. Warum die Gruppe aus Nigeria so islamistisch auftritt, erklärt er sich so:


„Die suchen auf jeden Fall einen Finanzier – eine Gruppe oder Einzelne, die sie finanzieren. Darum versuchen sie, sich nach außen als ideologisch zu verkaufen, um mehr Geld oder Waffen zu bekommen. Sie tun nur so, als ginge es darum, den radikalen Islam in Nigeria einzuführen. Das stimmt gar nicht – es ist in Wirklichkeit eine rein innernigerianische Problematik und komplett politisch bezogen.“


Der Vorsitzende der Vereinigung der Christen in Nigeria (CAN), Ayo Oritsejafor, sprach in diesen Tagen davon, die Christen würden sich gegen die „religiösen und ethnischen Säuberungen“ wehren. Tatsächlich gibt es im Niger-Delta wohl auch bewaffnete christliche Gruppen, räumt Akaahan ein.


„An Waffen ist leicht heranzukommen. Wenn die Muslime jetzt gezielt Attentate auf die Christen verüben, dann werden die Christen natürlich irgendwann einmal aufstehen und sagen, jetzt werden wir uns verteidigen. Das heißt nicht, dass jeder Christ jetzt Waffen haben wird. Vor einer Woche haben Christen die Muslime aus einem Ort vertrieben: ohne Schießerei, mit Stöcken und Messern. Man wehrt sich, wie man kann, aber nicht jeder Christ in Nigeria wird jetzt zur Waffe greifen – so etwas gibt`s nicht.“


Der Erzbischof von Lagos, Anthony Olobunmi, sieht in Nigeria keinesfalls einen „Krieg der Religionen“ heraufdämmern; vielmehr spricht er, ähnlich wie Dominics Akaahan uns gegenüber, von „Machtansprüchen, wirtschaftlichen Interessen und Versuchen, den Bundesstaat Nigeria zu spalten“.


„Das geht alles ineinander über; man kann da die verschiedensten Motive ausmachen. Die Wut rührt daher, dass der Präsident die Abmachung nicht eingehalten hat; in dieser Hinsicht ist das ein politischer Konflikt – aber ich sehe das nicht als religiösen Krieg. Soweit ist es noch nicht gekommen, dass die Christen in Nigeria gegen die Muslime kämpfen. Was wir jetzt erleben, ist ein rein wirtschaftlicher und politischer Aufstand, es ist kein Krieg zwischen Muslimen und Christen. Allerdings könnte sich eine Art Kettenreaktion in Gang setzen.“


Das heißt: Es könnte jetzt auch zu einem religiös aufgeladenen Hass zwischen Nigerias Volksgruppen kommen, der sich immer weiter hochschaukelt. Präsident Jonathan warnte am Sonntagabend bei einer Rede in einer Kirche von Abuja bereits, dass die Sicherheitslage in Nigeria heute „schlimmer sei als während des Bürgerkriegs“ von 1967 bis 1970. Steht Afrikas bevölkerungsreichstem Land jetzt der Bürgerkrieg ins Haus?


„Es ist zur Zeit nichts ausgeschlossen – aber Nigeria hatte schon einmal einen Bürgerkrieg, und ein neuer Bürgerkrieg oder Aufstand im Land ist in niemandes Interesse. Man erinnert sich immer an den Biafra-Konflikt; man weiß noch genau, wie das Land gelitten hat und was wir als Nigerianer damals verloren haben.“


Und darum sehnt sich, so sagt Dominics Akaahan, ein Großteil der Bevölkerung nach einer Einigung in einem zusammenhaltenden Staat. Einer Einigung, die allerdings sicher nicht leicht herzustellen ist: Schließlich leben in Nigeria über 200 verschiedene Sprachgruppen.


„Alle hundert Kilometer versteht keiner mehr die Sprache des anderen. Das sind Muslime, das sind Christen, das sind Freikirchler – in dem Land ist alles dabei! Und um eine Einigung zu finden, muss man Versprechen respektieren: Wenn es Abmachungen gibt – ob das nun niedergeschrieben ist oder nicht – , muss man sie einfach respektieren.“


Das ist eine Spitze gegen den Präsidenten. Goodluck Jonathan steht im Moment auch noch anderweitig unter Druck: Ein Generalstreik legte am Montag große Teile Nigerias lahm, aus Protest gegen die hochschnellenden Benzinpreise.


(rv 10.01.2012 sk)








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