Stürzt die islamistische
Sekte Boko Haram Nigeria in einen neuen Bürgerkrieg? Immer wieder macht die Gruppe
in diesen Tagen mit Anschlägen gegen Christen von sich reden; allein am letzten Wochenende
wurden in fünf nördlichen Bundesstaaten Nigerias mehr als vierzig Menschen mutmaßlich
von Mitgliedern der Boko Haram umgebracht. Wenn man die Medienberichterstattung etwa
in Deutschland darüber verfolgt, hat man den Eindruck, die Sekte sei sozusagen aus
dem Nichts aufgetaucht.
„Aber das stimmt überhaupt nicht – die gab`s
schon immer.“
Das sagt der christliche Nigerianer Dominics Akaahan.
Er lebt in Frankfurt, veröffentlicht aber häufig in Nigeria Aufsätze über sozial-religiöse
Bewegungen. Wie etwa über die Boko Haram:
„Also, die gab es schon in
den siebziger und achtziger Jahren unter einem ganz anderen Namen; als Student in
Maiduguri im Nordosten Nigerias habe ich damals auch selbst ein Attentat von Boko
Haram, die damals anders hießen, erlebt.“
Maiduguri war an Weihnachten
2011 Schauplatz des bisher größten Terroranschlags der Gruppe, deren heutiger Name
wörtlich übersetzt heißt „Bücher sind verboten“. Gemeint ist damit: Alle westliche
Bildung ist des Teufels. Aber so islamisch das klinge, so politisch sei es in Wirklichkeit.
Denn der Zorn der Boko Haram rühre in Wirklichkeit von einem nicht gehaltenen politischen
Versprechen vom Ende der neunziger Jahren her, urteilt Akaahan.
„Als
die Demokratie anfing, sagten die Nigerianer: Okay, jetzt soll der Westen regieren,
und nach acht Jahren soll dann der Norden regieren. Und als dann die Zeit kam, in
der der Norden regieren sollte, galt das auf einmal nicht mehr. Der aus dem Norden
stammende Präsident starb, und der Norden wollte weiterhin regieren, aber der jetzige
Präsident Goodluck Jonathan lehnte das ab und sagte: Es gibt eine solche Abmachung
nicht, die ist nirgendwo niedergeschrieben. Und jetzt fühlen sich die Muslime getäuscht,
weil die Christen weiter regieren und nicht die Muslime.“
Im Mai 2010
beerbte der christliche Präsident Jonathan den nur kurz und glücklos regierenden muslimischen
Staatschef Umaru Yar`Adua. Bereits dessen Vorgänger war wiederum ein Christ gewesen:
Olusegun Obasanjo, bis 2007 erster Präsident des demokratisch gewordenen Nigeria.
„Boko Haram gehört zu den Gruppen, die jetzt sagen: Das erlauben wir nicht,
dass die Christen weiter regieren. Darum gibt es den Aufstand, den wir jetzt gerade
erleben. Das ist ein inner-nigerianisches Thema!“
Akaahan widerspricht
Darstellungen, die Boko Haram mit al Qaida in Verbindung bringen. Warum die Gruppe
aus Nigeria so islamistisch auftritt, erklärt er sich so:
„Die suchen
auf jeden Fall einen Finanzier – eine Gruppe oder Einzelne, die sie finanzieren. Darum
versuchen sie, sich nach außen als ideologisch zu verkaufen, um mehr Geld oder Waffen
zu bekommen. Sie tun nur so, als ginge es darum, den radikalen Islam in Nigeria einzuführen.
Das stimmt gar nicht – es ist in Wirklichkeit eine rein innernigerianische Problematik
und komplett politisch bezogen.“
Der Vorsitzende der Vereinigung der
Christen in Nigeria (CAN), Ayo Oritsejafor, sprach in diesen Tagen davon, die Christen
würden sich gegen die „religiösen und ethnischen Säuberungen“ wehren. Tatsächlich
gibt es im Niger-Delta wohl auch bewaffnete christliche Gruppen, räumt Akaahan ein.
„An Waffen ist leicht heranzukommen. Wenn die Muslime jetzt gezielt
Attentate auf die Christen verüben, dann werden die Christen natürlich irgendwann
einmal aufstehen und sagen, jetzt werden wir uns verteidigen. Das heißt nicht, dass
jeder Christ jetzt Waffen haben wird. Vor einer Woche haben Christen die Muslime aus
einem Ort vertrieben: ohne Schießerei, mit Stöcken und Messern. Man wehrt sich, wie
man kann, aber nicht jeder Christ in Nigeria wird jetzt zur Waffe greifen – so etwas
gibt`s nicht.“
Der Erzbischof von Lagos, Anthony Olobunmi, sieht in
Nigeria keinesfalls einen „Krieg der Religionen“ heraufdämmern; vielmehr spricht er,
ähnlich wie Dominics Akaahan uns gegenüber, von „Machtansprüchen, wirtschaftlichen
Interessen und Versuchen, den Bundesstaat Nigeria zu spalten“.
„Das
geht alles ineinander über; man kann da die verschiedensten Motive ausmachen. Die
Wut rührt daher, dass der Präsident die Abmachung nicht eingehalten hat; in dieser
Hinsicht ist das ein politischer Konflikt – aber ich sehe das nicht als religiösen
Krieg. Soweit ist es noch nicht gekommen, dass die Christen in Nigeria gegen die Muslime
kämpfen. Was wir jetzt erleben, ist ein rein wirtschaftlicher und politischer Aufstand,
es ist kein Krieg zwischen Muslimen und Christen. Allerdings könnte sich eine Art
Kettenreaktion in Gang setzen.“
Das heißt: Es könnte jetzt auch zu
einem religiös aufgeladenen Hass zwischen Nigerias Volksgruppen kommen, der sich immer
weiter hochschaukelt. Präsident Jonathan warnte am Sonntagabend bei einer Rede in
einer Kirche von Abuja bereits, dass die Sicherheitslage in Nigeria heute „schlimmer
sei als während des Bürgerkriegs“ von 1967 bis 1970. Steht Afrikas bevölkerungsreichstem
Land jetzt der Bürgerkrieg ins Haus?
„Es ist zur Zeit nichts ausgeschlossen
– aber Nigeria hatte schon einmal einen Bürgerkrieg, und ein neuer Bürgerkrieg oder
Aufstand im Land ist in niemandes Interesse. Man erinnert sich immer an den Biafra-Konflikt;
man weiß noch genau, wie das Land gelitten hat und was wir als Nigerianer damals verloren
haben.“
Und darum sehnt sich, so sagt Dominics Akaahan, ein Großteil
der Bevölkerung nach einer Einigung in einem zusammenhaltenden Staat. Einer Einigung,
die allerdings sicher nicht leicht herzustellen ist: Schließlich leben in Nigeria
über 200 verschiedene Sprachgruppen.
„Alle hundert Kilometer versteht
keiner mehr die Sprache des anderen. Das sind Muslime, das sind Christen, das sind
Freikirchler – in dem Land ist alles dabei! Und um eine Einigung zu finden, muss man
Versprechen respektieren: Wenn es Abmachungen gibt – ob das nun niedergeschrieben
ist oder nicht – , muss man sie einfach respektieren.“
Das ist eine
Spitze gegen den Präsidenten. Goodluck Jonathan steht im Moment auch noch anderweitig
unter Druck: Ein Generalstreik legte am Montag große Teile Nigerias lahm, aus Protest
gegen die hochschnellenden Benzinpreise.