Lord Jonathan Sacks
war an diesem Montag beim Papst: Der 63-Jährige ist jüdischer Oberrabbiner des Commonwealth
und gehört dem britischen Oberhaus an. Für ihn war es schon die zweite Begegnung mit
Benedikt, wie er uns nach der Audienz verriet: Das erste Mal hatten sich die beiden
im Sommer letzten Jahres beim Papstbesuch in Großbritannien getroffen.
„Der
Papst sagte mir damals, er würde diese Beziehung gerne weiter vertiefen, und darum
habe ich mich zu diesem Besuch bei ihm entschlossen... Bei unserer Begegnung heute
haben wir beide unsere Sorgen über Europas Seele ausgetauscht. Europa war einmal auf
jüdisch-christliche Fundamente gebaut worden, das gilt sogar für seinen Markt. Noch
heute wundern sich die Forscher, dass China, welches bis zum 15. Jahrhundert schon
so viele bahnbrechende Erfindungen gemacht hatte, keine Marktwirtschaft entwickelt
hat, keine demokratische Gesellschaft, keine industrielle Revolution. Die meisten
Forscher sind der Ansicht: Es war das jüdisch-christliche Erbe, das in dieser Hinsicht
den Unterschied ausmachte.“
Diese Sicht der Dinge hat der Oberrabbiner
– in Großbritannien eine wichtige moralische Autorität – vor ein paar Tagen auch in
einem Leitartikel der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ ausgebreitet. Es sei kein
Geheimnis, dass er mit seiner Sorge um Europa in diesem Krisenmoment stark mit dem
Papst übereinstimme.
„Der Eindruck greift immer mehr um sich, dass in unserer
säkularisierten Kultur irgendetwas Wichtiges fehlt, wenn es nur ums Kaufen und Verkaufen
geht, aber keiner mehr danach fragt, wer wir eigentlich in unserem tiefsten Wesen
sind. Immer mehr Eltern sagen sich: Das wollen wir nicht für unsere Kinder, die sollen
etwas von einem viel älteren und weiträumigerem Erbe mitbekommen.“
Darum
gebe es im Moment in Großbritannien geradezu einen Run auf jüdische Schulen, berichtet
der Oberrabbiner; die jüdischen Gemeinden auf den Britischen Inseln fühlten sich daher
alles andere als marginalisiert. Mit Benedikt XVI. hat er natürlich auch über das
Miteinander zwischen Christen und Juden gesprochen:
„Der Papst hat das Thema
selbst aufgeworfen und wollte genau wissen, wie es in Großbritannien um das Verhältnis
der Religionen untereinander steht. Er hat mir gegenüber bekräftigt, er glaube fest
daran, dass die Gesellschaft eine spirituelle Dimension brauche.“
Jonathan
Sacks ist seit fast einem Vierteljahrhundert Oberrabbiner; er wurde in Großbritannien
auch als Autor vieler Bücher bekannt. 2013 will er sein Amt abgeben.