In Tunesien, in Marokko
und allem Anschein nach auch in Ägypten bringen die ersten Wahlen seit dem Start des
arabischen Frühlings islamistische Parteien an die Macht. Grund zur Panik? Nicht unbedingt,
wenn man Olivier Roy Glauben schenkt: Der Professor am Europäischen Hochschulinstitut
von Florenz ist einer der renommiertesten Islamkenner unserer Zeit. Er sagt im Gespräch
mit Radio Vatikan:
„Die Islamisten sind durch die dreißig Jahre verändert
worden, in denen sie teils in der Opposition waren, teils auf komplizierte Art und
Weise doch an der Macht beteiligt wurden. Sie passen sich so, wie sie heute sind,
in ein parlamentarisches System ein: manchmal richtiggehend triumphal wie in Marokko,
manchmal doch etwas zögerlich wie in Ägypten. Es sind auf jeden Fall nicht mehr die
Islamisten von vor dreißig oder vierzig Jahren. Es geht ihnen nicht mehr um eine islamische
Revolution wie im Iran, es geht ihnen auch nicht mehr um einen islamischen Staat oder
um die zwangsweise Durchsetzung der Scharia. Natürlich sind sie auch keine Liberalen
geworden; eher kann man von konservativen rechten Parteien sprechen, wenn es ums Soziale
geht, und von Liberalen, wenn es um die Wirtschaft geht. Nationalisten, die stark
die kulturell-religiöse Identität betonen. Aber jedenfalls Parteien, die das Prinzip
von Demokratie, Mehrparteiensystem und Verfassung akzeptiert haben.“
Aber
haben sie das wirklich? Oder waren das bislang nur Lippenbekenntnisse, die jetzt,
einmal an der Macht, von ihnen einkassiert werden? Roy:
„Nein – hier gehts
nicht um Ehrlichkeit oder Verstellung bei den Islamisten. Ihnen ist einfach klar,
dass sie von alleine nie an die Macht gekommen wären: Nicht sie, sondern andere haben
die Revolution gemacht. Die Islamisten besetzen also einen politischen Platz, den
sie nicht selbst eröffnet haben – ohne dass sie die Armee auf ihrer Seite hätten,
ohne eigene Miliz oder Polizei, ohne absolute Mehrheit im Parlament. Natürlich werden
sie sich darum bemühen, ihre Macht auszuweiten und in den Gesetzen soviele islamische
Punkte unterzubringen wie nur möglich; aber sie werden eingeengt von dem politischen
Spielraum, den der arabische Frühling geschaffen hat.“
Wie Christdemokraten Irgendwie
erinnern die Islamisten am Nil und in Nordafrika den Islamkenner Roy an die Christdemokraten,
wie es sie in mehreren europäischen Ländern gibt, etwa in Deutschland. „Eine Christdemokratie
aber, die noch nicht völlig die Konsequenzen aus der de-fakto-Säkularisierung im politischen
Raum gezogen hat. Ich spreche nicht von der Gesellschaft, sondern vom politischen
Raum. Auch in der islamischen Welt scheiden sich derzeit immer deutlicher die Sphären
zwischen dem rein Politischen und dem Religiösen.“
Besonders fortgeschritten
sind aus der Sicht von Olivier Roy die Islamisten in Tunesien, Marokko und auch Jordanien:
Hier könne man schon von richtiggehenden „Parteien im positiven Sinne des Wortes“
sprechen.
„Die ägyptischen Muslimbrüder allerdings sind noch etwas hin-
und hergerissen zwischen der Dimension der Bruderschaft, der man sozusagen mit Leib
und Seele angehört, und der politischen Dimension, wo man lediglich Anhänger einer
politischen Richtung ist. Die Muslimbrüder sind heute schon diejenigen, die mit dem
größten Zögern in den demokratischen Raum hineingehen.“