Martin Walser: Muttersohn.
Rowohlt Verlag. Eine Besprechung von Stefan von Kempis
Auch Martin Walser ist
jetzt in die Jahre gekommen: in die Jahre, in denen große Autoren „allmählich komisch“
werden. Oder „g`spässig“, wie Walser das einmal nennt. In diesem Alter schrieb Thomas
Mann seinen Schwank „Felix Krull“ und Goethe „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Und Walser?
Er schreibt „Muttersohn“, eine tänzerische, die Genres wild mischende Jesus-Parabel,
die in ihrer Unbeschwertheit auch stark an Eichendorffs „Taugenichts“ erinnert. Walsers
Jesus heißt Percy (Kurzform von Parcival) und ist Pfleger in einem Psychiatrischen
Krankenhaus. Er glaubt – und viele Rezensenten haben sich auf diesen Punkt geradezu
gestürzt – ohne Beteiligung eines Mannes gezeugt worden zu sein, eine von zahlreichen
Anspielungen auf den Jesus der Evangelien. Der immer freundliche, zu spontanen Predigten
aufgelegte Percy führt in deprimierender Umgebung eine Leichtigkeit des Glaubens vor,
die fast bei Papst Benedikt entlehnt scheint: „Offenbar gibt es Menschen, die können
nur mit Gleichungen leben, die aufgehen“, sagt er einmal in einer Talkshow. „Glauben,
das ist eine Gleichung, die nie aufgeht. Manchmal möchte ich laut aufschreien aus
nichts als Glaubensübermut.“ Im Glauben erfahre er, wer er sei, so Percy: „Es gibt
keine zwei Menschen, die dasselbe glauben. Jeder hat nur seinen Glauben. Der Glaube,
das ist die Handschrift der Seele.“ Percy hat immer Zeit – für jeden. Er geht gerne
barfuß, und er dutzt grundsätzlich jeden. Einer Interviewerin, die das Duzen nervt,
sagt er: „Dann verbiet es mir halt.“ Sein Motto: „Dem Leben zuliebe“. Zu einer Schlafsack-Therapie,
die er erfunden hat (keine Angst, nichts Verfängliches), gehört das stundenlange Herumwandern
mit dem Patienten, wobei große Texte der christlichen Mystik aufgesagt werden. Wunder
wirkt Percy nicht, aber alle, mit denen er zu tun hat, fühlen sich wie verwandelt.
Am Schluß des – ja, was eigentlich? Schwanks? Romans? – wird dieser Candide des 21.
Jahrhunderts etwas unvermittelt von einer Motorradbande ermordet. Martin Walser
amüsiert sich sicher königlich über die Ratlosigkeit von Lesern und Rezensenten, die
bisher anderes von ihm gewohnt waren. Doch wer sich auf diesen „Muttersohn“ erst einmal
einläßt, der wird geradezu verzaubert. Was Walser hier leistet, ist ein vergnügtes
Plädoyer für die Menschen, die es sonst selten in die Literatur schaffen: Menschen
auf dem Land, die „g`spässig“ werden, die auf Wallfahrt gehen, die Reliquien stehlen.
Ernste Töne fehlen nicht, aber der bleibende Eindruck ist die Leichtigkeit. Nun
sollte man sich hüten, es mit dem Jesus-Percy-Parallelismus zu übertreiben. Der Pfleger
aus Scherblingen hält, anders als der Nazarener, keine Vorstellung vom Leben nach
dem Tod bereit und verzichtet gänzlich auf Drohreden. Die „Jünger“, die er um sich
sammelt, sind allesamt „g`spässige“ Patienten, und das Verhältnis zu seinem Mentor
(dem Leiter des Krankenhauses, der ihm Latein beibringt) läßt sich nicht auf die Beziehung
Jesu zu Johannes dem Täufer übertragen. Und dennoch: Walser skizziert hier ganz offensichtlich
eine Jesus-Figur, die das Hauptgebot der Liebe predigt und vorlebt. Eine Jesus-Figur,
die am Ende dem Hass zum Opfer fällt, in einem hinterlassenen Gedicht aber von „einer
Portion Unsterblichkeit“ spricht: „Die Zeit / hab ich eingesperrt in eine Streichholzschachtel“.
„Morgenröte“ sei Percy gewesen, „ein reines Lichtversprechen“, so predigt ein Pfarrer
auf seiner Beerdigung; „Fürst der Freundlichkeit“ nennt sich Percy selber, und so
empfindet es auch der Leser. Ein unverhofftes, ein zauberhaftes Buch.