Nachlese zur Papstreise: Die Neuevangelisierung und die deutsche Gesellschaft
Im Rahmen der Nachbereitung
des Deutschlandbesuches von Papst Benedikt XVI. widmet sich Radio Vatikan in der zweiten
Folge der Reihe dem Stichwort „Neuevangelisierung“. Eine Sendung von Anne Preckel.
I. Ein Staatsgast in höherer Mission Neuevangelisierung:
Neben der Ökumene hat der Papst die Stärkung des Glaubens im christlich geprägten
Deutschland – denn das ist mit Neuevangelisierung gemeint – im Vorfeld seiner Reise
als Hauptanliegen herausgestellt. Wenige Tage vor Abfahrt sagt Benedikt XVI. im „Wort
zum Sonntag“, ausgestrahlt im Ersten Deutschen Fernsehen:
„All dies ist
nicht religiöser Tourismus, und noch weniger eine Show. Worum es geht, sagt das Leitwort
dieser Tage: ‚Wo Gott ist, da ist Zukunft’. Es soll darum gehen, dass Gott wieder
in unser Blickfeld tritt, der so oft ganz abwesende Gott, dessen wir doch so sehr
bedürfen.“
Ähnlich äußert sich der Papst dann auch in seiner Ansprache
vor dem deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff im Schloss Bellevue: Er sei „in
erster Linie“ gekommen, „um den Menschen zu begegnen und über Gott zu sprechen“. Benedikt
XVI. kommt als Staatsgast, ja, will aber als „Pontifex Maximus“ – „Oberster Brückenbauer“
zwischen Menschen und Gott – wahrgenommen werden. Vielleicht versucht er in Schloss
Bellevue mit diesen Worten auch noch – ein paar Stunden vor seiner Bundestagsrede
– die allzu hohen Erwartungen zu dämpfen, die seinem Besuch in den vergangenen Wochen
entgegenschlugen: Politisch beziehe ich hier keine Stellung, so könnte man den Papst
deuten, und eine Moralpredigt über Einzelfragen werdet ihr auch nicht bekommen.
Wie
spricht Benedikt XVI. in Deutschland also über Gott? Es bedarf einer „Wiederentdeckung
von Grundwerten“, so der Papst zum Auftakt seines Deutschlandbesuches im Schloss Bellevue.
Freiheit und Solidarität kämen dank der Anwesenheit von Religion in die richtige Waage: „Die
Religion ist eine dieser Grundlagen für ein gelingendes Miteinander. ‚Wie die Religion
der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion‘. Dieses Wort des großen
Bischofs und Sozialreformers Wilhelm von Ketteler, dessen zweihundertsten Geburtstag
wir in diesem Jahr feiern, ist heute nach wie vor aktuell. Freiheit braucht die Rückbindung
an eine höhere Instanz. Dass es Werte gibt, die durch nichts und niemand manipulierbar
sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit.“ Es braucht Gott, eine
„höhere Instanz“, erinnert Papst Benedikt XVI. und meint damit auch: die moderne Gesellschaft
ist in Fragen der Moral und Wahrheit nicht kompetent, sie ist – wie die Politik –
auf geschichtliche Größen, auf Religion, Werte, Weltanschauungen, angewiesen.
II.
Die Mission: Stärkung des Glaubens Warum hält der Papst eine Stärkung des
Glaubens in Deutschland für so wichtig, ja für grundlegender als zum Beispiel strukturelle
Reformen innerhalb der Kirche? „Der Religion gegenüber erleben wir eine zunehmende
Gleichgültigkeit in der Gesellschaft, die bei ihren Entscheidungen die Wahrheitsfrage
eher als ein Hindernis ansieht und statt dessen Nützlichkeitserwägungen den Vorrang
gibt“, warnt Benedikt XVI. im Schloss Bellevue, und entwickelt damit seine fortwährende
Moderne-Kritik weiter: Relativismus, Individualismus und technische Entwicklung haben
im Denken des Papstes katastrophale Folgen. Nicht grundsätzlich, wohlgemerkt, aber
immer dann, wenn sie einer christlichen Grundlage entbehren: Beispiel Präimplantationsdiagnostik
und die Wahl zwischen angeblich „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“ Leben. Vernunft
werde zum Fluch, wenn sie vom transzendenten Grund losgelöst handele, unterstreicht
der Papst, auch mit Blick auf die düstere deutsche Geschichte. Gott ist dieser Grund
und er muss es auch bleiben.
Wo verliert Gott in Deutschland nach Ansicht des
Papstes an Wirkung? Benedikt XVI. nennt in seiner Predigt im Berliner Olympiastadion
als Beispiel eine um sich greifende Beziehungslosigkeit; der Papst sieht den Nukleus
der Gesellschaft und der katholischen Glaubensgemeinschaft, die traditionelle Familie,
auch in Deutschland in Gefahr:
„In unserer Zeit der Rastlosigkeit und Beliebigkeit,
wo so viele Menschen Orientierung und Halt verlieren, wo die Treue der Liebe in Ehe
und Freundschaft so zerbrechlich und kurzlebig geworden ist, wo wir in unserer Not
wie die Emmaus-Jünger rufen wollen …, da schenkt uns der Auferstandene eine Bleibe,
einen Ort des Lichtes, der Hoffnung und Zuversicht, der Ruhe und Geborgenheit.“
Dass
unter den Deutschen tatsächlich ein Bedarf an Sinnstiftung besteht, unterstreicht
der deutsche Bundespräsident Christian Wulff: Viele Menschen seien auf der Suche:
Angesichts „ökologischer und wirtschaftlicher Krisen“, „Unfrieden“ und „Ungerechtigkeit“
sowie „Erfahrungen persönlicher Unsicherheit und Entwurzelung“ wachse die Sehnsucht
nach Sinn, stimmt der Bundespräsident dem Papst in Bellevue zu. Wulff, der selbst
geschieden ist und in zweiter Ehe lebt, wünscht sich „Barmherzigkeit“ der Kirche im
Umgang mit „Brüchen“ in den menschlichen Lebensgeschichten, etwa bei geschiedenen
Wiederverheirateten. Die Notwendigkeit eines „anderen Umgangs“ mit diesen Gläubigen
hatte zuletzt auch Erzbischof Robert Zollitsch betont.
Neu-Evangelisierung
heißt für Benedikt XVI. auch, die Kirche in Deutschland „neu“ zu sehen, und nicht
an ihrer „äußeren Gestalt“ hängenzubleiben. Auch darauf geht er bei der großen Messe
in Berlin ein. Denn ansonsten „…erscheint die Kirche nur mehr als eine der vielen
Organisationen innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, nach deren Maßstäben und
Gesetzen dann auch die so sperrige Größe „Kirche“ zu beurteilen und zu behandeln ist“. Der
Papst erwähnt dann auch den großen Vertrauensverlust, den die Gläubigen in Deutschland
mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche erlebten: „Wenn dann auch
noch die leidvolle Erfahrung dazukommt, dass es in der Kirche gute und schlechte Fische,
Weizen und Unkraut gibt, und der Blick auf das Negative fixiert bleibt, dann erschließt
sich das große und tiefe Mysterium der Kirche nicht mehr.“
Der Papst wünscht
sich hier Glauben im grundlegendsten Sinn: Vertrauen, auch wenn der Missbrauchsskandal
die Gemüter erschütterte, auch wenn manche Strukturen der Kirche fehlerhaft sind.
Öffnet euer Herz neu dem Glauben, wieder und gerade jetzt, so könnte man Benedikts
Worte verstehen.
III Zum Begriff der „Neuevangelisierung“ Halten
wir also fest: Katholische Kirche und Glauben in Deutschland sind nach Benedikt XVI.
keine beliebigen Betätigungsfelder in der deutschen Gesellschaft. Sie bilden die wesentliche
Grundlage des demokratischen Zusammenlebens. Damit hat Benedikts Botschaft in Deutschland
letztlich auch politisches Gewicht. Und sie steht in einer Linie mit einem Hauptanliegen
dieses Papstes: Der neuen Evangelisierung. Benedikt XVI. hatte am 29. Juni 2010, am
Tag des römischen Patronatsfestes Peter und Paul, angekündigt, einen neuen Päpstlichen
Rat einzurichten, der sich um genau diese Fragen kümmert: „Auch der Mensch des
dritten Jahrtausends will ein authentisches und erfülltes Leben, braucht die Wahrheit,
die wirkliche Freiheit, die selbstlose Liebe. Auch in den Wüsten der säkularisierten
Welt hat die Seele des Menschen Durst nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“
Der
neue „Rat zur Förderung der Neuevangelisierung“ wurde danach mit dem apostolischen
Schreiben „Ubicumque et Semper“ ins Leben gerufen. Dabei sollte es wohlgemerkt nicht
um eine zweite Christianisierung gehen, sondern eine Auffrischung des Glaubens in
Ländern mit christlichen Wurzeln. Zum Thema wird im Herbst 2012 im Vatikan eine Bischofssynode
stattfinden.
Neu ist dieser Gedanke nicht – schon vor gut 25 Jahren sprach
Papst Johannes Paul II. von neuer Glaubensvermittlung in Europa; Benedikts Vorgänger
war der erste Papst, der explizit von „Neuevangelisierung“ sprach. Angesichts der
„tiefen und vielschichtigen kulturellen, politischen und ethisch-geistigen Veränderungen“,
die der europäischen Gesellschaft „eine neue Gestalt gegeben haben“, brauche es eine
„neuartige Evangelisierung“, die es verstehe, „dem heutigen Menschen die bleibende
Heilsbotschaft in überzeugender Form neu vorzulegen“, sagte Johannes Paul II. im Jahr
1986 auf einer Tagung zu Europa, wenige Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs (vgl.
Johannes Paul II., Neuevangelisierung Europas. Ansprache an die Teilnehmer des VI.
Symposiums der europäischen Bischöfe am 11.10.1985).
IV. Die neuen Bundesländer Dass
die neuen Bundesländer bei Benedikts Deutschlandbesuch besondere Aufmerksamkeit des
Papstes bekommen würden, das stand schon mit den Reisestationen auf dem Gebiet der
ehemaligen DDR – Berlin und Thüringen – fest. Die Spätfolgen von Nationalsozialismus
und Kommunismus für den christlichen Glauben seien bis heute spürbar, sagte der Papst
in Erfurt, wo er den christlichen Widerstand in der Ex-DDR würdigte:
„Die
Mehrzahl der Menschen in diesem Lande lebt mittlerweile fern vom Glauben an Christus
und von der Gemeinschaft der Kirche. Doch zeigen die letzten beiden Jahrzehnte auch
gute Erfahrungen: ein erweiterter Horizont, ein Austausch über Grenzen hinweg, eine
gläubige Zuversicht, dass Gott uns nicht im Stich lässt und uns neue Wege führt: Wo
Gott ist, da ist Zukunft.“
Dieser erweiterte Glaubenshorizont ist es auch,
den der Papst gerade auf dem Gebiet der Ex-DDR betont: Kein Glaube „im Privaten“,
sondern nicht weniger als geteilter, öffentlicher Glaube muss es sein. Für Benedikt
XVI. soll die deutsche Kirche – gerade an diesem Ort – Weltkirche sein:
„Hier
zeigt sich, wie wichtig der geistliche Austausch ist, der sich über die ganze Weltkirche
erstreckt, der aber grundlegend für das Werden der Kirche in unserem Land ist – er
bleibt grundlegend für alle Zeiten – dass wir miteinander über die Kontinente hin
glauben und voneinander glauben lernen. Wenn wir uns dem ganzen Glauben in der ganzen
Geschichte und dessen Bezeugung in der ganzen Kirche öffnen, dann hat der katholische
Glaube auch als öffentliche Kraft in Deutschland Zukunft.“
V Glaubensleben
in Deutschland: Keine „Stunde Null“ Nun könnte die Lage des Glaubens in
Deutschland – entgegen der sehr besorgten Vision des Papstes – freilich schlechter
sein. Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 62 Prozent. Ein Drittel
gehört der römisch-katholischen Kirche an, ein anderes ist evangelisch. Konfessionslos
oder andersgläubig sind – inklusive Orthodoxe und evangelische Freikirchen – ein weiteres
Drittel aller Deutschen. Zwar gab es vor allem in 2010 eine dramatische Austrittswelle
aus der katholischen Kirche, akut in Gefahr scheint das Christentum in Deutschland
aber nicht zu sein: Das zeigt unter anderem die große Beteiligung und Begeisterung
bei den Papstmessen in Berlin, Erfurt und vor allem Freiburg. Papst Benedikt hat auf
seiner Deutschlandreise dann auch lobend Bereiche genannt, die aus einer auch christlichen
Ethik heraus etwas zur deutschen Gesellschaft beitragen: Im Bundestag lobte er die
Menschenrechte als für Deutschland maßgeblich, weiter würdigte er den Einsatz der
ökologischen Bewegung, drittens ging er in Freiburg auf die hervorragende Arbeit der
Caritas, der Laien und das Ehrenamt ein.
Aber auch wenn karitative Strukturen
noch so gut funktionieren und die deutsche Kirche in ihrer Vielfalt wirkt, Benedikt
XVI. verlangt mehr: Die innere Einheit der deutschen Kirche und ihre unbedingte Einheit
mit Rom – das unterstreicht er deutlich in seiner Predigt in Freiburg:
„Die
Kirche in Deutschland wird die großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft
bestehen und Sauerteig in der Gesellschaft bleiben, wenn Priester, Gottgeweihte und
christgläubige Laien in Treue zur jeweils spezifischen Berufung in Einheit zusammenarbeiten
(…) Die Kirche in Deutschland wird für die weltweite katholische Gemeinschaft weiterhin
ein Segen sein, wenn sie treu mit den Nachfolgern des heiligen Petrus und der Apostel
verbunden bleibt (…).“
Besondere Protagonisten bei der Neuevangelisierung
sind für den Papst die angehenden Priester. Benedikt XVI. rief am 19. Juni 2009 das
Priesterjahr aus, in dem er in zahlreichen Predigten und Betrachtungen das Besondere
dieses Amtes ins Licht rückte. Der Missbrauchsskandal hat für Benedikt XVI. das Priestertum
als solches nicht in Frage gestellt – im Übrigen auch nicht den Zölibat. Denn den
versteht der Papst keinesfalls als Absage an Bindungen oder als Bindungsunfähigkeit.
Im Freiburger Priesterseminar erinnert er die angehenden Geistlichen an ihre doppelte
Identität „in Christus“ und zugleich „in der Welt“:
„Wenn sie wirklich
mit ihm sind, dann sind sie auch immer unterwegs zu den anderen, dann sind sie auf
der Suche nach dem verlorenen Schaf, dann gehen sie hin, dann müssen sie weitergeben,
was sie gefunden haben, dann müssen sie ihn bekannt machen, Gesandte werden. Und umgekehrt,
wenn sie rechte Gesandte sein wollen, dann müssen sie immer bei ihm sein.“
Und
welche Rolle sollen engagierte Katholiken und Laien bei der „Auffrischung des Glaubens
in Deutschland“, der Neuevangelisierung, spielen? Ob bei christlichen Kulturinitiativen,
Katechesen in den Pfarrgemeinden, ob bei karitativen Diensten oder dem Lebensschutz
– die Laien sollen weitermachen wie bisher, so Benedikt XVI., allerdings sollen sie
auch sie das Laienapostolat mit neuer Glaubensstärke füllen. Die Rede von Strukturreformen
ist hier sekundär, lässt sich aus den Worten des Papstes an das Zentralkomitee der
deutschen Katholiken (ZdK) in Freiburg heraushören. Benedikt beklagt darin einen „Überhang
an Strukturen gegenüber dem Geist“:
„Die eigentliche Krise der Kirche in
der westlichen Welt ist eine Krise des Glaubens. Wenn wir nicht zu einer wirklichen
Erneuerung des Glaubens finden, wird alle strukturelle Reform wirkungslos bleiben.“
Schon
früher hatte der Papst bei den deutschen Laien, das sagte er am 18. November 2006
gegenüber den deutschen Bischöfen, eine „verengende Fixierung auf die Mitarbeit in
kirchlichen Leitungsgremien, auf hauptamtliche Stellen in kirchlich finanzierten Strukturen
oder auf die Ausübung bestimmter liturgischer Funktionen“ beobachtet. Von mehr Verantwortung
der Laien in kirchlichen Ämtern, auch angesichts des um sich greifenden Priestermangels,
war auch in Freiburg jetzt mitnichten die Rede. Dem Priester das Seine, dem Laien
das Seine, so könnte man Benedikts Worte in Freiburg interpretieren. Im Vordergrund
muss - vor allen Reformfragen - die Stärkung des Glaubens in Deutschland stehen.