Mit besonderer Spannung
ist am ersten Tag der Reise die erste Rede eines Papstes vor dem deutschen Bundestag
erwartet worden. Schon im Vorfeld hatte es hitzige Diskussionen darüber gegeben, was
denn ein Kirchenoberhaupt im Parlament zu suchen hätte. Rund hundert Abgeordnete von
SPD, Grünen und Linker boykottierten den Papst, der auf Einladung von Bundestagspräsidenten
Norbert Lammert ins hohe Haus gekommen war. Die Rede Benedikts hat dann schließlich
alle überrascht: Der Papst hielt ein flammendes Plädoyer für Recht und Gerechtigkeit
in einer Gesellschaft, die die Würde der Natur und des Menschen achtet. Gedanklicher
Ausgangspunkt ist die Bibelerzählung aus dem ersten Buch der Könige von König Salomon,
der sich von Gott ein hörendes Herz wünscht, um sein Volk regieren und das Gute vom
Bösen unterscheiden zu können.
„Die Bibel will uns mit dieser Erzählung
sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muss. Sein letzter Maßstab
und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht
materieller Gewinn sein. Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung
für Friede schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt
die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der
Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet.
Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des
Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein
Staat noch anderes als eine große Räuberbande“, hat der heilige Augustinus einmal
gesagt.“
Gerade in Deutschland hat in sich vor einigen Jahrzehnten gezeigt,
wie schnell aus Unrecht Recht werden kann. Dieser Gefahr müssen sich Politiker stets
bewusst bleiben, so der Papst.
„Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung,
dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht
von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und
dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde – zu einer sehr gut organisierten
Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte.
Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende
Aufgabe des Politikers.“
Aus der Vergangenheit lässt sich lernen, und auch
heute bedrohen neue Gefahren die Würde des Menschen, Stichwort Gentechnik, P.I.D.
und Atomkraft. Alles Themen, die die deutsche Politik heute beschäftigen, und bei
denen die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu trennen, aufs neue gefordert ist:
„In
einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht
vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt
zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und
Menschen vom Menschsein ausschließen.“
Wenn man über Recht und Unrecht
spricht, kommt man unweigerlich auf eine der ersten Fragen Platons aus der antiken
griechischen Philosophie zurück: Was ist das Gute? Für den Papst bleibt sie eine entscheidende
Frage, die sich Politiker auch heute stellen müssen. Das demokratische Prinzip, die
Mehrheit entscheiden zu lassen, ist gerade in den Grundfragen des Rechts, in denen
es um die Würde des Menschen geht, nicht ausreichend, so der Papst. Gerade im Dritten
Reich hätten Widerstandskämpfer gegen geltendes Recht verstoßen, da sie es als Unrecht
erkannt und so dem Recht und der ganzen Menschheit einen Dienst erwiesen haben. Im
Vergleich ist die Unterscheidbarkeit zwischen Recht und Unrecht heute deutlich schwieriger
geworden, warnte der Papst:
„Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen
Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft
recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in Bezug auf die grundlegenden
anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute
keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so
der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten,
und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel
schwieriger geworden.“
Benedikt XVI. verweist auf die Ursprünge der Rechtsordnungen
und darauf, dass diese fast immer religiös begründet worden sind. Im Unterschied zu
anderen großen Religionen habe das Christentum aber nie vorgegeben, dass die Rechtsordnung
von Gott offenbart worden sei. Vielmehr seien Natur und Vernunft, die in der schöpferischen
Vernunft Gottes gründen, als die wahren Rechtsquellen zu sehen. Darauf stützen sich
schließlich auch die Menschenrechte und das deutsche Grundgesetz.
Das Verständnis
dieser beiden Grundbegriffe Natur und Vernunft habe sich aber im letzten halben Jahrhundert
dramatisch verändert, so Benedikt. Das Naturrecht werde abgelehnt, Natur nur mehr
rein funktional als Zusammenspiel von Ursache und Wirkung verstanden. Mit der gefährlichen
Folge, dass alles, was nicht unter wissenschaftlichen Aspekten erklärt werden kann,
ausgeblendet werden müsse und nicht mehr – im strengen Sinne – Teil der Vernunft sei.
Eine Tendenz, die sich heute immer stärker zeige, so der Papst:
„Wo die
alleinige Herrschaft der positivistischen Vernunft gilt – und das ist in unserem öffentlichen
Bewusstsein weithin der Fall –, da sind die klassischen Erkenntnisquellen für Ethos
und Recht außer Kraft gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht
und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen
eine wesentliche Absicht dieser Rede ist.“
Diese grundsätzlichen Veränderungen
im Verständnis von Natur und Vernunft seien eine Gefahr für die Religion, die Kultur
und schlussendlich die ganze Menschheit, so Benedikt:
„Wo die positivistische
Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen
Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen,
ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in
dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame
Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer
Kultur in den Status einer Subkultur verwiesen und damit Europa gegenüber den anderen
Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische
und radikale Strömungen herausgefordert werden.“
Benedikt schließt hier
an seine Rede in der Universität Regensburg vor fünf Jahren an: Der Begriff der Vernunft
müsse in seiner ganzen Weite wieder eröffnet werden.
„Die sich exklusiv
gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen
kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber
geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können
wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch
aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster
müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel
und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.“
Einen Versuch
in der deutschen Politik, die Fenster aufzureißen, sieht der Papst in der ökologischen
Bewegung der 70er-Jahre. Er sei ein Schrei nach frischer Luft gewesen: Junge Menschen
hätten erkannt, dass irgendetwas im Umgang mit der Natur nicht stimmt. Dem Thema Umweltschutz
schenkt der Papst besondere Aufmerksamkeit, wohl auch in Hinblick auf die Zulassung
der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik, die am Freitag den Bundesrat passiert
hat:
„Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine
Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch
ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er
ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er
auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht
selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“
Am
Ende seiner Rede vor dem Bundestag verweist der Papst noch einmal auf die kulturellen
Ursprünge Europas hin, die aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom entstanden
sind. Jenes Recht gelte es heute zu verteidigen, das aus dem Bewusstsein der Verantwortung
des Menschen vor Gott und in Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen entstanden
ist, so der Papst. Um wieder zur Bibel und König Salomon zurückzukehren:
„Dem
jungen König Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt
worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt
wäre? Was würden wir erbitten? Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts
anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden
und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden. Vielen
Dank für Ihre Aufmerksamkeit!”