Liebe Brüder und Schwestern! Nun
geht mein Wunsch in Erfüllung, das Eichsfeld zu besuchen und hier in Etzelsbach mit
euch zusammen Maria zu danken. „Hier im trauten stillen Tal“, wie es in einem Wallfahrtslied
heißt, und „unter den alten Linden“ schenkt uns Maria Geborgenheit und neue Kraft.
In zwei gottlosen Diktaturen, die es darauf anlegten, den Menschen ihren angestammten
Glauben zu nehmen, waren sich die Eichsfelder gewiß, hier am Gnadenort Etzelsbach
eine offene Tür und eine Stätte inneren Friedens zu finden. Die besondere Freundschaft
zu Maria, die daraus gewachsen ist, wollen wir – auch mit der heutigen Marienvesper
– weiter pflegen. Wenn sich Christen zu allen Zeiten und an allen Orten an Maria
wenden, dann lassen sie sich dabei von der spontanen Gewißheit leiten, daß Jesus seiner
Mutter ihre Bitten nicht abschlagen kann; und sie stützen sich auf das unerschütterliche
Vertrauen, daß Maria zugleich auch unsere Mutter ist – eine Mutter, die das größte
aller Leiden erfahren hat, alle unsere Nöte mitempfindet und mütterlich auf ihre Überwindung
sinnt. Wie viele Menschen sind Jahrhunderte hindurch zu Maria gepilgert, um vor dem
Bild der Schmerzensreichen – wie hier in Etzelsbach – Trost und Stärkung zu finden! Schauen
wir ihr Bildnis an! Eine Frau mittleren Alters mit schweren Augenlidern vom vielen
Weinen, den Blick zugleich versonnen in die Ferne gerichtet, als bewegte sie alles,
was geschehen war, in ihrem Herzen. Auf ihrem Schoß liegt der Leichnam ihres Sohnes,
sie faßt ihn behutsam und liebevoll, wie eine kostbare Gabe. Wir sehen die Spuren
der Kreuzigung auf seinem entblößten Leib. Der linke Arm des Toten weist senkrecht
nach unten. Vielleicht war die Skulptur der Pietà, wie oft üblich, ursprünglich über
einem Altar aufgestellt. Der Gekreuzigte weist so mit seinem ausgestreckten Arm auf
das Geschehen auf dem Altar hin, wo das heilige Opfer, das er vollbracht hat, in der
Eucharistie vergegenwärtigt wird. Eine Besonderheit des Gnadenbilds von Etzelsbach
ist die Lage des Gekreuzigten. Bei den meisten Pietà-Darstellungen liegt der tote
Jesus mit dem Kopf nach links. Der Betrachter kann so die Seitenwunde des Gekreuzigten
sehen. Hier in Etzelsbach jedoch ist die Seitenwunde verdeckt, weil der Leichnam gerade
nach der anderen Seite ausgerichtet ist. Mir scheint, daß sich in dieser Darstellung
eine tiefe Bedeutung verbirgt, die sich erst in ruhiger Betrachtung erschließt: Im
Etzelsbacher Gnadenbild sind die Herzen Jesu und seiner Mutter einander zugewandt;
sie kommen einander nahe. Sie tauschen einander ihre Liebe aus. Wir wissen, daß das
Herz auch das Organ der feinsten Sensibilität für den anderen wie auch des innigsten
Mitgefühls ist. Im Herzen Marias ist Platz für die Liebe, die ihr göttlicher Sohn
der Welt schenken will. Die Marienverehrung konzentriert sich auf die Betrachtung
der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem göttlichen Sohn. Die Gläubigen fanden
immer wieder neue Aspekte und Attribute, die uns dieses Geheimnis besser erschließen
könnten, z.B. im Bild des Unbefleckten Herzens Marias als Symbol der tiefen und vorbehaltlosen
Einheit der Liebe mit Christus. Nicht die Selbstverwirklichung schafft wahre Entfaltung
des Menschen, wie es heute als Leitbild des modernen Lebens propagiert wird, das leicht
in einen verfeinerten Egoismus umschlagen kann. Vielmehr ist es die Haltung der Hingabe,
die auf das Herz Marias und damit auch auf das Herz des Erlösers ausgerichtet ist. „Wir
wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die
nach seinem ewigen Plan berufen sind“ (Röm 8,28), so haben wir eben in der Lesung
gehört. Gott hat bei Maria alles zum Guten geführt, und er hört nicht auf, durch Maria
das Gute sich weiter ausbreiten zu lassen in der Welt. Vom Kreuz herab, vom Thron
der Gnade und der Erlösung, hat Jesus seine Mutter Maria den Menschen zur Mutter gegeben.
Im Moment seiner Aufopferung für die Menschheit macht er Maria gleichsam zur Vermittlerin
des Gnadenstroms, der vom Kreuz ausgeht. Unter dem Kreuz wird Maria zur Gefährtin
und Beschützerin der Menschen auf ihrem Lebensweg. „In ihrer mütterlichen Liebe trägt
sie Sorge für die Brüder und Schwestern ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft
sind und in Gefahren und Bedrängnissen weilen, bis sie zur ewigen Heimat gelangen“
(Lumen Gentium, 62). Ja, wir gehen durch Höhen und Tiefen, aber Maria tritt für uns
bei ihrem Sohn ein und vermittelt uns die Kraft der göttlichen Liebe. Unser Vertrauen
auf die wirksame Fürsprache der Gottesmutter und unsere Dankbarkeit für die immer
wieder erfahrene Hilfe tragen in sich selbst gleichsam den Impuls, über die Bedürfnisse
des Augenblicks hinauszudenken. Was will Maria uns eigentlich sagen, wenn sie uns
aus der Not errettet? Sie will uns helfen, die Weite und Tiefe unserer christlichen
Berufung zu erfassen. Sie will uns in mütterlicher Behutsamkeit verstehen lassen,
daß unser ganzes Leben Antwort sein soll auf die erbarmungsreiche Liebe unseres Gottes.
Begreife – so scheint sie uns zu sagen –, daß Gott, der die Quelle alles Guten ist
und der nie etwas anderes will als dein wahres Glück, das Recht hat, von dir ein Leben
zu fordern, das sich rückhaltlos und freudig seinem Willen überantwortet und danach
trachtet, daß auch die anderen ein Gleiches tun. „Wo Gott ist, da ist Zukunft“. In
der Tat – wo wir Gottes Liebe ganz über unser Leben wirken lassen, dort ist der Himmel
offen. Dort ist es möglich, die Gegenwart so zu gestalten, daß sie mehr und mehr der
Frohbotschaft unseres Herrn Jesus Christus entspricht. Dort haben die kleinen Dinge
des Alltags ihren Sinn, und dort finden die großen Probleme ihre Lösung. Amen.