Benedikt XVI. über das Gebet: „Mitten im Schweigen und in der Abwesenheit Gottes“
Das Gebet steht seit
einiger Zeit im Mittelpunkt der Mittwochs-Katechesen des Papstes – genauer gesagt:
die Psalmen, also das Gebetbuch aus dem Ersten Testament. Vor den etwa achttausend
Pilgern und Besuchern seiner Generalaudienz kam Benedikt XVI. an diesem Mittwoch auf
einen der bekanntesten Psalmen zu sprechen: Psalm 22.
„Liebe Brüder und
Schwestern! Das Fest Kreuzerhöhung, das wir heute feiern, ist ein geeigneter Anlass,
über Psalm 22 zu sprechen, ein Gebet, das uns auf das Kreuzesleiden Christi hinweist
und den doppelten Aspekt seiner Passion – Erniedrigung und Verherrlichung, Tod und
Leben – zum Ausdruck bringt. Der Psalm stellt uns die Gestalt eines unschuldig Verfolgten
vor Augen, den seine Bedränger töten wollen. Er aber nimmt in einer schmerzerfüllten
Klage Zuflucht zu Gott.“
„Ich bin ein Wurm und kein Mensch“, so klagt der
Psalm, „der Leute Spott, vom Volk verachtet. Alle, die mich sehen, verlachen mich,
verziehen die Lippen, schütteln den Kopf... Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner
Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf
dich... sei mir nicht fern, denn die Not ist nahe...“
„In seinem Gebet wechseln
sich die bedrängende Wirklichkeit der Gegenwart und die tröstliche Erinnerung über
die Hilfe Gottes in der Vergangenheit ab. Im tiefsten Leid angesichts seiner verzweifelten
Situation, angesichts von Gottes scheinbarer Abwesenheit und seines Schweigens ruft
er aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er fühlt sich verlassen,
Gott antwortet nicht. Und doch nennt er den Herrn „Mein Gott“; er gibt die Hoffnung
nicht auf, dass Gott ihn hört und erhört. In dieser Gewissheit des Glaubens öffnet
sich sein Beten zum großen Lobpreis Gottes. Er weiß, dass die Großtaten Gottes nicht
nur Vergangenheit sind, sondern auch Gegenwart und Zukunft, dass mitten im Schweigen
und in der Abwesenheit Gottes seine Gegenwart da ist und sich auftun wird auf eine
Weise, die er selber noch nicht sehen kann.“
„Ich will deinen Namen meinen
Brüdern verkünden, inmitten der Gemeinde dich preisen“, so betet Psalm 22. „Denn er
hat nicht verachtet, nicht verabscheut das Elend des Armen. Er verbirgt sein Gesicht
nicht vor ihm; er hat auf sein Schreien gehört.“
„Diesen Psalm macht sich
auch Christus am Kreuz zu Eigen, indem er seine Anfangsworte gerufen und damit den
ganzen Abgrund seines Leidens vor Gott und vor uns hingestellt hat. Aber in den Anfangsworten
zu dem Schweigen ist auch der ganze Psalm mit seiner Gewissheit der großen Erhörung,
der Auferstehung, der Bekehrung der Heiden schon anwesend. So ist darin einerseits
die ganze Passion Jesu Christi enthalten, der die Passion der Menschheit vor dem schweigenden
Gott auf sich nimmt, und die ganze Herrlichkeit Christi der in der Welt im Leiden
der Martyrer immer wieder siegt und immer wieder Gottes Herrlichkeit und Güte zeigt.
Leid und Tod sind nicht das Ende und Gottes Schweigen ist nicht das Letzte, sondern
Gott schenkt das Leben und zeigt sich uns. So sagt Jesus auch später zu den Emmausjüngern:
„Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?“
und zeigt damit hin auf den schwer fassbaren und doch wesentlichen Zusammenhang von
Leid, Abwesenheit Gottes und neuer Herrlichkeit des Herrn. Wir wollen darum bitten,
dass wir im Schweigen Gottes nicht verzagen. Wir wollen ihn bitten, dass er sich uns
hörbar macht, dass wir mitten in den Nöten dieser Zeit auch seine Herrlichkeit und
Güte erkennen dürfen.“
Benedikt gab den Pilgern und Besuchern aus dem deutschen
Sprachraum Folgendes mit auf den Weg:
„Gott verlässt uns nicht. Deshalb
ist es wichtig, dass wir nicht aufhören, im Gebet bei ihm anzuklopfen, zu ihm hin
zu schreien, wie der Herr es getan hat. Er wird auch in uns das Licht der Auferstehung
anzünden. Gott begleite euch alle!“