Wird die türkische
Regierung tatsächlich einen der dicksten gordischen Knoten im verknäuelten Verhältnis
zu ihren religiösen Minderheiten durchschlagen? Nach einem entsprechenden Dekret des
Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan halten sich Hoffnungen und Skepsis die Waage.
Es wäre nicht das erste Mal, dass plötzliche Hoffnungen auf einen Durchbruch ins Leere
laufen. Erdogan hat angekündigt, dass die Türkei Enteignungen von christlichen Gemeinden
und von Christen rückgängig machen oder die Betroffenen gerecht entschädigen werde.
Es geht um die Immobilien nichtmuslimischer religiöser Stiftungen, die seit 1936 von
Ankara enteignet wurden.
Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte
(IGFM) rät zu äußerster Zurückhaltung, dem Versprechen Erdogan Glauben zu schenken.
Der Verband hält es nämlich für möglich, dass der Premier mit dieser Ankündigung „die
Enteigneten zum Warten und Stillhalten verpflichtet habe“. Nach den jährlichen Verurteilungen
durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof habe es der türkischen Regierungdoch
schon „ seit Jahren frei gestanden, Enteignungen rückgängig zu machen“. Stattdessen
seien jedoch „die früheren Besitzer mit minderwertigem Boden für teure Stadtgrundstücke
abgespeist oder vertröstet“ worden. „Wer und was soll Erdogan hindern, so fortzufahren?“,
fragt der in Göttingen angesiedelte Verband.
Die Europäische Union hingegen
hat Erdogans Erlass, der am Samstag offiziell veröffentlicht wurde, begrüßt; sie will
seine Umsetzung allerdings genau beobachten. Schließlich geht es hier auch um eines
der bisher größten Hindernisse bei den Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei
und der EU. Ein Stiftungsgesetz hatte 2008 zwar eine Rückgabe von enteignetem Stiftungsbesitz
möglich gemacht, doch kam es bisher bei der Realisierung immer wieder zu bürokratischen
Hürden. Nach offiziellen Angaben haben Christen und Juden seit Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes
insgesamt 1.400 Anträge auf Rückerstattung von Immobilien gestellt. Das neue Dekret
soll die Rückgabe von 370 weiteren Objekten möglich machen. Die nationalistische Rechte
in der Türkei protestiert gegen jedwede „Privilegien“ für Nichtmuslime.
Der
Türkei-Experte von missio Aachen, Otmar Oehring, spricht von einem mutigen Schritt
der Regierung. „Wenn wir das, was dort angekündigt wird, demnächst tatsächlich als
Rechtsverordnung sehen, wäre es mutig und auch überraschend“, so der Referent des
kirchlichen Hilfswerks. Allein in Istanbul gehe es um enorme Grundstücks- und Gebäudeflächen.
Noch wichtiger als die geplanten Rückerstattungen von enteigneten Immobilien wären
nach seiner Ansicht Entschädigungszahlungen für jene Liegenschaften, die in der Vergangenheit
an Dritte weiterverkauft worden sind. Türkische Medien schätzten die Gesamtsumme der
Entschädigungen auf umgerechnet rund 700 Millionen Euro. Der griechisch-orthodoxe
Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I., sagte laut türkischen Medien, die
Türkei sei auf dem richtigen Weg.