Liturgie – was Sie schon immer darüber wissen wollten (Teil 2: Ritenvielfalt)
Immer dasselbe und
doch so bunt: Die Liturgie prägt das Leben eines jeden Gläubigen. Was für Katholiken
selbstverständlich ist, ist aber doch nicht bei allen so bekannt. Der Theologe Liborius
Olaf Lumma gibt uns eine Einführung in die katholische Liturgie. Liborius Olaf Lumma
ist seit 2006 Universitätsassistent am Institut für Bibelwissenschaften und Historische
Theologie der Universität Innsbruck im Fachbereich Liturgiewissenschaft. Er hat im
Pustet Verlag das Buch „Crashkurs Liturgie“ herausgegeben. In der heutigen Sendung
erläutert er uns die Ritenvielfalt.
In der Konstitution des Zweiten Vatikanischen
Konzils über die Liturgie, Sacrosanctum Concilium, findet sich in Artikel 4 die Aussage,
dass die Kirche „allen rechtlich anerkannten Riten gleiches Recht und gleiche Ehre
zuerkennt. Es ist ihr Wille, dass diese Riten in Zukunft erhalten und in jeder Weise
gefördert werden, und es ist ihr Wunsch, dass sie, soweit es not tut, in ihrem ganzen
Umfang gemäß dem Geist gesunder Überlieferung überprüft und im Hinblick auf die Verhältnisse
und Notwendigkeit der Gegenwart mit neuer Kraft ausgestattet werden.“
Was ist
hier gemeint? Was sind diese „Riten“, die anerkannt und gleichwertig sind und über
deren mögliche Reform das Konzil spricht? Geht es hier um den „Ritus der Taufe“, der
gleichwertig ist mit dem „Ritus der Segnung eines Heiligenbildes“?
Der Begriff
„Ritus“ wird in der kirchlichen Sprache unterschiedlich gebraucht und sorgt deshalb
manchmal für Verwirrung. Natürlich geht es hier um etwas anderes. Um das zu klären,
ein Blick in die Geschichte:
Das Christentum breitete sich vor 2000 Jahren
von Israel ausgehend schnell in die damals bekannte Welt aus. Es war lange Zeit eine
Minderheitenreligion, aber doch mehr oder weniger flächendeckend präsent. Für die
europäische Geschichte war besonders bedeutend die Präsenz christlicher Gemeinden
im Römischen Reich, das sich zu jener Zeit rund um das Mittelmeer erstreckte. Im Laufe
des 4. Jahrhunderts nämlich wurde das Christentum im Römischen Reich erst staatlich
geduldet, dann gefördert, bis schließlich die Kaiser selbst das Christentum annahmen
und beanspruchten, ihr Reich nach christlichen Grundsätzen zu regieren. In diesem
mehrere Jahrzehnte umfassenden Prozess, der von Kaiser Konstantin – in der ersten
Hälfte des 4. Jahrhunderts – bis Kaiser Theodosius – am Ende des 4. Jahrhunderts –
reichte, wurde das Christentum, mit einem modernen Begriff gesprochen, zur „Staatsreligion“
des Römischen Reiches. Der Kaiser war dabei der „politischen Arm“ und militärische
Schutzpatron der Reichskirche.
Doch es gab auch Christentum außerhalb dieser
Reichskirche. Zum Einen kam es unter den Gläubigen im Römischen Reich zu theologisch
begründeten Abgrenzungen und schließlich zu Spaltungen. Zum Anderen gab es aber auch
christliche Gemeinden, Theologien und Traditionen, die sich einfach aus geographischen
Gründen unabhängig vom Römischen Reich entwickelten und hier sogar zum Teil früher
fest in den Gesellschaften etabliert waren als im Römischen Reich, beispielsweise
in Äthiopien und Armenien. All diese Kirchen, die sich in den ersten Jahrhunderten
herausbildeten und bis heute existieren, bezeichnet man in der Fachsprache als „orientalische
Kirche“ oder auch als „altorientalisch“ oder als „orientalisch-orthodox“. Zu ihnen
gehören beispielsweise die koptische Kirche, die äthiopische Kirche und die armenische
Kirche, die durch Migrationsbewegungen mittlerweile auch außerhalb ihres ursprünglichen
Stammgebietes präsent sind.
Doch kehren wir zurück ins Römische Reich. Das
Römische Reich war keine kulturelle Einheit – für die weitere Entwicklung besonders
bedeutend war der Sprachunterschied zwischen der im Westen dominanten lateinischen
Sprache und der griechischen Sprache im Osten. Auch der christliche Glaube prägte
sich regional unterschiedlich aus. Es gab zwar umfangreiche Kontakte, gegenseitige
Beeinflussungen und Wechselwirkungen, aber es stand außer Frage, dass Christsein in
der Stadt Rom anders „aussah“, sich anders „anfühlte“ als Christsein in Ägypten oder
in Syrien. Oder auch in Konstantinopel: Das war jene Stadt, die den alten Namen Byzanz
trug, im Jahr 330 von Kaiser Konstantin zur zweiten Hauptstadt des Reiches erhoben
wurde und daher auch den Namen „Konstantinsstadt“, griechisch Konstantinopel erhielt
–das heutige Istanbul.
Die Kirche im römischen Reich bildete verschiedene „Kulturregionen“
aus, wobei jede Region ein eigenes Zentrum hatte. Es waren zunächst drei, später fünf
Zentren, die schließlich in der Mitte des 5. Jahrhunderts allgemein anerkannt waren:
Rom (also die alte, erste Hauptstadt des Reiches), Konstantinopel oder Byzanz (die
neue, zweite Hauptstadt), Alexandrien (das theologisch hoch bedeutsame christliche
Zentrum in Ägypten), Antiochien in Syrien und schließlich Jerusalem, das zwar politisch
kaum Bedeutung hatte, aber für die Kirche eine große Rolle spielte – war es doch die
Stadt, in der Jesus Christus gekreuzigt und auferstanden worden war, und somit zur
blühenden Pligerstätte geworden.
Die Bischöfe (also die „Gemeindeleiter“) der
fünf Zentralstädte, die zugleich eine Art Oberaufsicht über ihre Region innehatten,
erhielten den Titel Patriarch, die fünf Regionen nannte man Patriarchate – wobei sich
für den Patriarchen Roms der Ehrentitel „Papst“ (lateinisch papa, etwa „lieber Vater“)
einbürgern sollte.
Jedes Patriarchat hat seinen eigenen kulturellen Stil und
regelt seine Angelegenheiten weitgehend selbstständig, jedenfalls soweit es sich nicht
um Anliegen von so großer Tragweite handelt, dass sie auf Reichsebene entschieden
werden müssten. Diese Struktur der Reichskirche heißt mit dem griechischen Fachausdruck
Pentarchie (das heißt „Fünferprinzip“).
Der Fachbegriff „Ritus“ bezeichnet
nun die kulturelle Ausprägung des Christentums in einem solchen regionalen Großraum.
Zu einem Ritus gehört die Art und Weise, wie Gottesdienste gefeiert werden (inklusive
des Festkalenders); zum Ritus gehört aber auch das kirchliche Recht, die Organisationsstruktur,
die im Volk verbreiteten Gebetspraktiken, die theologischen Akzentsetzungen usw. Den
Patriarchaten wie auch den christlichen Kulturen außerhalb des Römischen Reiches lassen
sich nun die entsprechenden Riten zuordnen: römischer Ritus, byzantinischer Ritus,
armenischer Ritus, usw.
Von Rom breitete sich das lateinisch sprechende Christentum
nun immer weiter nach Norden und Nordwesten aus, bis nach Skandinavien und bis auf
die britischen Inseln. Zunächst entwickelten diese Regionen wiederum ein kulturelles
und Eigenleben: Sie bildeten eigene Riten und verwalteten sich als weitgehend eigenständige
regionale Kirchen: zum Beispiel in Irland, in Gallien, im Frankenreich. Selbstverständlich
immer in Einheit mit allen anderen Christen, aber doch in autonomer Verwaltung.
Im
Laufe der Jahrhunderte aber entstand aus diesen vielen westlichen Riten dann aber
wieder ein einheitlicher Großraum. Aufgrund dieser Entwicklung erstreckte sich das
Patriarchat Rom um die Jahrtausendwende über einen riesigen geographischen Raum, nämlich
das ganze westliche Europa. Kulturell, theologisch und liturgisch wurde der „römische
Ritus“ dabei vor allem vom fränkischen Christentum beeinflusst: die Franken entwickelten
sich ab dem späten 8. Jahrhundert zur dominierenden politischen Größe in Westeuropa
und zur militärischen Schutzmacht des Papsttums, in der Person Karls des Großen erhielten
sie im Jahr 800 sogar die Kaiserwürde für die westliche Hälfte des Römischen Reiches.
Durch die Wechselwirkungen zwischen fränkischer Kirche und stadtrömischer Kirche entstand
so eine fränkisch-römische Mischkultur, die bis heute ihre Spuren im „römischen Ritus“
hinterlassen hat.
Von der so entstandenen kulturellen Einheitlichkeit im lateinischen
Westeuropa, die im 2. Jahrtausend auch nach Amerika, Ostasien und Afrika exportiert
wurde, gab und gibt es nur wenige Ausnahmen. kleine Enklaven, in denen sich andere
Traditionen erhalten haben. So existieren auf römischem Gebiet heute zum Beispiel
noch die Liturgie des „ambrosianischen Ritus“ (in der Stadt Mailand) und des „mozarabischen
Ritus“ (im spanischen Toledo).
Unter den Riten im Osten ragt der byzantinische
heraus. Missionare tragen ihn in der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends von Konstantinopel
nach Osteuropa. Anders als im Westen ist die von Konstantinopel geprägte Mission nicht
mit dauerhafter kirchlicher Zugehörigkeit verbunden, sondern die neu entststehenden
christlichen Regionen werden nach und nach in die kirchliche Selbstständigkeit entlassen,
indem sie als eigenständige Patriarchate eingerichtet werden. Ihrer Kultur und Liturgie
nach sind diese Kirchen bis heute byzantinisch, in ihrer Verwaltung aber eigenständig.
Entlang
der Grenzen zwischen West und Ost kam es im Laufe der Jahrhunderte zur Spaltung zwischen
dem Patriarchat Rom – das dann den Eigennamen „katholische Kirche“ annehmen sollte
– und den Patriarchaten des Ostens – die wir heute „orthodoxe Kirchen“ nennen. Am
Ende stehen zwei große kirchliche Blöcke, deren Angehörige nicht mehr miteinander
Gottesdienst feiern und einander nicht mehr zum Empfang der Sakramente zulassen.
Doch
auch wenn man sich gegenseitig die Gemeinschaft aufgekündigt hatte, hieß das keinesfalls,
dass auch die Riten als solche gegenseitig abgelehnt worden wären. Die Spaltung wurde
ausschließlich an theologischen Fachfragen festgemacht, nicht an der kulturellen oder
liturgischen Verschiedenheit. Einen besonderen Streitpunkt bildete und bildet übrigens
bis heute das Papstamt, also die Frage, ob, und wenn ja, welche Autorität der römische
Patriarch gegenüber den anderen Patriarchen genießt.
Es kam nun mehrfach dazu,
dass Gruppen des östlichen Christentums – sowohl aus den orthodoxen als auch aus den
orientalischen Kirchen, also aus dem byzantinischen Ritus, dem armenischen Ritus,
dem ostsyrischen Ritus und anderen – die Einheit mit der katholischen Kirche und ihrem
Oberhaupt, dem Papst, suchten, dabei aber ihren östlichen Ritus beibehielten. Unter
dem großen Dach der katholischen Kirche hat daher heute nicht nur das alte Patriarchat
Rom Platz, sondern auch die auf diese Weise entstandenen etwa zwei Dutzend „katholische
Ostkirchen“, deren Gläubigenzahl weltweit bei insgesamt etwa 20 Millionen liegt.
Die
katholische Kirche anerkannte auf diese Weise den Wert der Ritenvielfalt, wie sie
von Anfang an bestanden hatte.
Wer einmal am Leben östlicher Christen teilhat,
wird viel Fremdheit empfinden, wird lange brauchen, um sich in der Liturgie zu Recht
zu finden; wird Altbekanntes vermissen, dafür Neues entdecken. Er wird vielleicht
Rosenkranzgebet, Fronleichnamsfest, tägliche Messe und Kirchenbänke vermissen; andererseits
Ikonen, Hymnos Akathistos, verheiratete Priester und vier jährliche Fastenzeiten entdecken.
Zur
katholischen Kirche und damit auch zur katholischen Liturgie gehört ein aus frühester
Zeit stammendes Prinzip kultureller Vielfalt. Was der eine Ritus vielleicht weniger
gut sichtbar macht, kann ein anderer Ritus in besonderer Klarheit ausdrücken. Wo der
eine Ritus, etwa aus einer konkreten historischen Situation heraus, einen bestimmten
theologischen Akzent setzt, kommt dieser in einem anderen Ritus weniger zum Zug.
Es
ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Begriffe „römisch“ und „katholisch“
nicht dasselbe besagen. Die katholische Kirche umfasst mehr als nur die römische,
also westliche, lateinisch geprägte Kultur. Im Ostkirchendekret sagt das II. Vatikanische
Konzil: „Die Geschichte, die Überlieferungen und zahlreiche kirchliche Einrichtungen
legen ein glänzendes Zeugnis für die großen Verdienste der Ostkirchen um die Gesamtkirche
ab. Das Konzil betrachtet all das als echtes Erbgut der gesamten Kirche Christi.“
Das
ist also die Bedeutung von Sacrosanctum Concilium 4: Die katholische Kirche anerkennt
alle diese Riten aus West und Ost. Sie stellt keine Rangfolge auf. Sie betrachtet
alle Riten, wie sich aus unterschiedlichen Regionen der christlichen Welt innerhalb
und außerhalb des untergegangenen römischen Reiches entwickelt haben und dann auch
eine sehr unterschiedliche Geschichte durchlaufen haben, als gleichwertig.
Nächste
Woche geht es weiter mit dem Thema „Ämter und Gewänder“.